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2019

Brigid Kosgei lief in den letzten Wochen im halben und vollen Marathon Fabelzeiten. Hier mit ihren zwei Tempomachern beim Chicago Marathon 2019, alle tragen den Vaporfly. - Foto: Sean Hartnett

„NIKE Vaporfly“: Die „Siebenmeilenstiefel“ aus Beaverton mischen die globale Laufszene auf – Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Die Fakten (und schnellen Zeiten) sprechen für sich. In den letzten Wochen ist in die globale Straßenlaufszene mächtig in Bewegung gekommen. Seit dem 15. September 2019, an dem Geoffrey Kamworor (KEN) in Kopenhagen den Weltrekord im Halbmarathon auf grandiose 58:01 katapultierte, mussten in diesem Herbst die Rekordlisten umgeschrieben werden.

 

Dass dabei die Ergebnisse zum Teil nicht Regel konform erzielt wurden, ist schon fast zweitrangig. Momentan ist eine Leistungsexplosion zu beobachten, die in dieser Ausprägung ohne Vergleich in der Geschichte des Laufsports ist.

In allen „Königsdisziplinen“ des Straßenlaufs, d.h. im halben und vollen Marathon, wurden in den letzten Wochen „Weltrekorde“ mit kaum noch zu begreifenden Steigerungen aufgestellt:

– Im Halbmarathon der Männer: Geoffrey Kamworor steigerte die wegen Dopingvorwürfen umstrittene Marke von Abraham Kiptum von 58:18 auf 58:01 (Rekord wurde soeben von der IAAF offiziell anerkannt, die vorige Bestmarke von 58:18 durch den mittlerweile wegen Dopings gesperrten Abraham Kiptum wurde gestrichen).

– Im Halbmarathon der Frauen: Brigid Kosgei (KEN) lief beim Great North Run 1:04:28, 23 Sekunden schneller als Joyciline Jepkosgei. Dass diese Leistung wegen des Punkt-zu-Punkt-Kurses in Newcastle nicht Regel konform war, mindert die Leistung des Shooting Stars der Szene kaum.

– Im Marathon der Männer: Kenenisa Bekele (ETH) verfehlte mit 2:01:41 die Fabelzeit von Eliud Kipchoge (KEN) von 2:01:39 in Berlin denkbar knapp. Und der Meister selbst beendete das PR-Spektakel im Wiener Prater mit dem ersten Marathon-Lauf eines Menschen in unter 2 Stunden. Seine 1:59:41 werden zu Recht nur als Posse in der Laufgeschichte überleben. Überragend war die Leistung Kipchoges aber allemal.

Kenenisa Bekele hat beim Berlin-Marathon seinen Landsmann Legese wieder eingeholt und verpasst am Ende den Weltrekord Kipchoge denkbar knapp. – Foto: Sean Hartnett

– Im Marathon der Frauen: (Nochmals) Brigid Kosgei (KEN) fegte den Fabel-Weltrekord von 2:15:25 durch Paula Radcliffe aus dem Jahr 2003 im kalten und windigen Chicago förmlich aus den Rekordlisten. In allen Belangen Regel konform – wenn auch bis 40 km mit Unterstützung männlicher Tempomacher – lief die Kenianerin 2:14:04. Und sie selbst sieht sich schon in noch ganz anderen Dimensionen.

Philemon Rono steigerte in Toronto den Streckenrekord auf 2:05:00. – Foto: Veranstalter

Dabei ist zu betonen, dass diese Leistungen alle in einem Zeitraum vom 15. September 2019 bis 13. Oktober 2019 aufgestellt wurden. Doch die Flut an (sehr) schnellen Zeiten war mitnichten auf diese Topleistungen begrenzt. Am 20. Oktober wurde der Kursrekord der Männer beim Waterfront Marathon in Toronto von 2:06:52 auf 2:05:00 gesteigert, am gleichen Tag verbesserte Belay Shiferaw (ETH) den Kursrekord in Lissabon von 2:07:32 auf 2:06:00. In beiden Fällen lagen mehrere Konkurrenten nur knapp hinter den Siegern.

Und die vielleicht spektakulärste Leistung wurde von der Öffentlichkeit kaum beachtet, als am vergangenen Sonntagmittag die wenig bekannte 21-jährige Äthiopierin Letesenbet Gidey (ETH), immerhin Vize-Weltmeisterin in Doha über 10.000 m, die sieben Hügel beim Zevenheuvelenloop in Nijmegen hinauf- und hinabflog. Sie „pulversierte“ die Weltbestzeit über 15 km mit der Fabelzeit von 44:20 Minuten, eine Steigerung der alte Marke von über einer vollen Minute. 29:11 Minuten für die letzten 10 km (geht etwas bergab) machen auch den Fachmann sprachlos. Und ebenfalls sie trug den „Wunderschuh“ an ihren Füßen, während Manager Jos Hermens auf dem begleitenden Motor ungläubig ihre Splits registrierte: 2:44 Minuten von 9 km nach 10 km …

Die Schuhe der Podium-Platzierten bei den WMM-Rennen der Männer im Jahr 2019. – Foto: Rolows13

Die Schuhe der Podium-Platzierten bei den WMM-Rennen der Frauen im Jahr 2019. – Foto: Rolows13

Es ist somit kaum überraschend, dass neben den großartigen Athleten immer mehr die Schuhe aus Beaverton, dem Sitz des Sportartikelgiganten, in den Fokus des Interesses geraten und mittlerweile einen wesentlichen Teil der Fragen bei den Pressekonferenzen ausmachen. Die Übersicht eines japanischen Experten (twitter.com/Rolows_13) zeigt die Schuhe der Erstplatzierten der diesjährigen World Marathon Majors Serie und belegt die aktuell erdrückende Dominanz des Vaporflys und dessen Nachfolgemodelle.

Dabei geht die Geschichte bis ins Jahr 2016 zurück, als NIKE erstmals einen Schuh dieser Machart präsentierte. In die Öffentlichkeit geriet der vermeintliche „Wunderschuh“ spätestens mit dem „Breaking 2“-Projekt auf der Autorennbahn in Monza, wo Eliud Kipchoge zwar das Ziel verfehlte, aber trotzdem auch die Fachleute mit einer (damals) kaum für möglich gehaltenen Marathon-Zeit von 2:00:25 überraschte.

Mittlerweile sind diese Anfänge lange Geschichte, die sich zu einem gewaltigen Marketing-Spektakel ausweitete, das mit der erfolgreichen Mission Kipchoges beim (Lauf-)Zirkus im Wiener Prater einen gewissen Klimax erreichte: „sportlich“ aber auch „kommerziell“. Die langen Schlangen um den Block des NIKE-Stores in der Michigan Avenue in Chicago an jenem Wochenende, an dem auch der Chicago Marathon über die Bühne ging, besagt eigentlich schon alles. Dass dann auch beim Rennen durch die „Windy City“ die besagten Schuhe eines der Hauptsponsoren fast ausschließlich an den Füßen der Elite zu finden waren, ist nur logische Konsequenz. Zumal die Topläufer die nicht gerade bescheidenen gut 250 Euro für die nur wenige 100 km zu nutzenden Schuhe kaum aufbringen mussten.

Die Spitzengruppe der Männer beim Chicago Marathon 2019 nach gut 8 Meilen. Die Schufarbe „pink“ dominiert die Szene. – Foto: Helmut Winter

Der Thematik hier tiefer auf den Grund zu gehen, ist mehr als schwierig. Dafür sind die Dinge zu sehr in Bewegung und kreuzen sich zudem mit anderen Maßnahmen der Optimierung in der Verpflegung, Trainingsmethodik und wasimmer. Der Zugewinn an (Lauf-)Leistung – wieviel % das effektiv auch sind – ergibt sich durch die Rückgabe an Energie nach dem Bodenkontakt durch ein ausgeklügeltes System elastischer Komponenten aus einer Carboneinlage sowie neuartiger kompressibler Schaumstoffe. Die ganze Sache fühlt sich dann fast so an, als ob man auf dem Schwingfußboden einer Halle agiert.

Das Konzept des Aufbaus des „Vaprofly“ mit Carboneinlage (rechts). (c) NIKE

Ferner fördert die longitudinale Keilform des Schuhs den Einsatz der (stärkeren) Oberschenkelmuskulatur. Um das Mehr an Leistung zu nutzen, muss der Athlet mit diesen Faktoren aber auch zurecht kommen. Die Untersuchungen engagierter Freizeitläufer sind nur bedingt aussagekräftig, scheinen aber im wesentlichen den Marketing-Spezifikationen zu folgen, d.h. einer Verbesserung von persönlichen Bestzeiten im Bereich von bis zu einigen Prozent. Ein Selbstläufer sind aber diese Schuhe nicht. Das gilt auch für die Elite, die mitnichten aktuell bei ALLEN Auftritten Rekorde rennt.

Zum Beispiel liefen beim Chicago Marathon fast alle Männer den gleichen Schuh wie Brigid Kosgei, die Zeiten im Ziel waren aber weniger überzeugend. Und Sir Mo Farah, immerhin Sieger in Chicago im letzten Jahr, nutzte auch der Wunderschuh wenig, schon nach 8 Meilen lag er zurück und rettete sich mit einer Zeit knapp unter 2:10 Stunden ins Ziel. Seinem langjährigen Traingspartner Galen Rupp (USA), der Sieger in Chicago im Jahr 2017, erging es noch schlechter; auch der Vaporfly an den Füßen konnte seinen Ausstieg nicht verhindern.

Somit ist die Bewertung der Entwicklungen noch komplexer, zumal die Fabelzeiten der letzten Zeit auch auf einer hochgradigen Konzentration der Athleten auf das spezifische Event beruhen. Dies macht es dann auch dem Internationalen Leichtathletik Verband IAAF (oder aktueller: World Athletics) nicht einfacher die Problematik in den Griff zu bekommen. Nahezu einer Comedy würdig ist in dieser Sache das Regelwerk, wo Regel 143.2 verlangt: „Shoes must not be constructed so as to give athletes any unfair assistance or advantage”.

Mit dieser Definition wird man sicher nicht weit kommen, wie auch mit der aktuelleren Interpretation, dass Schuhe solange „legal“ sind, wie sie keine “motor assistance” aufweisen und die einzige Quelle der Kraft/Energie der Athlet selbst ist. Es steht außer Frage, dass die Diskussionen im Verband zu dieser Thematik, die nicht nur die Herren Funktionäre überrollt hat, noch in den Anfängen steckt. Einen sinnvollen Vorschlag haben jüngst die britischen Sportwissenschaftler Geoffrey T Burns and Nicholas Tam unterbreitet, die Dicke der Schuhsohle – ähnlich wie bereits in den Sprung-Wettbewerben-  zu begrenzen (ca. 30 mm).

Dies würde zumindest die Entwicklungen der gesteigerten Wirkung von Federmechaniken hemmen. Ein Patentrezept ist aber auch diese Maßnahme nicht. Ein wenig erinnert die aktuelle Situation an das Problem mit den Schwimmanzügen vor einigen Jahren, wo gleichfalls die Rekordlisten auf den Kopf gestellt wurden. Am Ende blieb dem Verband in dem außer Kontrolle geratenen Chaos nur die Möglichkeit, die Reißleine zu ziehen … und die leistungsfördernden Hilfen zu verbieten. Vielleicht kommt es ja auch im Laufsport so weit, wenn die ersten Athleten Rekorde in zusätzlichen Neopren-ähnlichen Anzügen rennen.

Die Problematik der Chancengleichheit von Athleten, die vertraglich an andere Hersteller gebunden sind, scheint sich aktuell aufzulösen, da die Konkurrenz flott aufgeholt hat. Problematischer dürften bei dieser Aufholjagd die Entwicklungen jenseits der Laufstrecken sein, denn der Megakonzern wird nichts unversucht lassen, seine unbestrittene aktuelle Spitzenposition notfalls auch durch patentrechtliche Maßnahmen zu verteidigen.

Somit darf man gespannt sein, wie sich die Geschichte weiter entwickelt und sich die Rekorde jenseits bisher erachteter Traum-Grenzen verschieben. Nach den Eindrücken aus dem Wiener Prater erscheint der erste „legale“ Marathon unter 2 Stunden schon fast vor der Tür zu stehen. Auch bei den Frauen deuten sich Dimensionen an, die in die Regionen der erweiterten Männerelite vorstoßen.

Aber bei aller Euphorie sollte man nicht vergessen, dass die „Siebenmeilenstiefel“ ins Reich der Märchen gehören. Und deshalb bleibt das Fazit für Topathleten aber auch Freizeitläufer: Selbst der teuerste High-Tech-Schuh muss im Laufsport immer noch mit Muskelkraft fortbewegt werden.

Helmut Winter

author: GRR