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04
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2019

Pünktlich zur WM scheint Mustaz Barshim seine Form gefunden zu haben. - Foto: Victah Sailer 2019 World Outdoor Championships Doha, Qatar Sept27-Oct 06, 2019 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com

Hochspringer Mustaz Barshim: Qatars große Hoffnung – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

 Vor zwölf Monaten ging der zerbrechliche Hochspringer Barshim noch an Krücken, jetzt greift er nach dem Weltrekord. Er soll für WM-Gastgeber Qatar die Goldmedaille holen.

Als er Weltmeister geworden war, war plötzlich der Antrieb weg. „Ich hätte höher springen können in London“, sagt Mutaz Essa Barshim, ein sehr dünner, sehr langer junger Mann. Klar kann er höher springen als 2,35 Meter.

Schon 2014 überflog er in Brüssel beim DiamondLeague-Finale 2,43 Meter. Nur Xavier Sotomayor aus Kuba ist je höher gesprungen: 2,44 Meter, 2,45 Meter. Sehr schön, fand Barshim, dass er in London Weltmeister geworden war, „aber was danach?“ 2018 sollte eine Zwischensaison ohne große Meisterschaften werden, und bei der WM 2019 in seiner Heimatstadt Doha, sagte er damals, da wolle er etwas Unvergessliches hinterlassen:

„Den Weltrekord in der Heimatstadt springen, das wäre das Allergrößte.“ Und dann, in Tokio 2020, nach Bronze in London 2012 und Silber in Rio 2016 endlich Olympiasieger werden

Barshim hat keine Scheu, große Ziele zu formulieren. Mit sechzehn hatte er sich ein Poster von Muhammad Ali ins Zimmer gehängt, weil er nicht nur bewundert, wie dieser boxte, sondern auch dessen große Klappe mochte. Nun ist Barshim, wenn es an diesem Freitagabend im Stadion seiner Stadt um seinen Titel geht, sehr kleinlaut geworden. Mühsam hat er sich von einem Bänderriss im Sprungfuß zurückgekämpft. In Székesfehérvár in Ungarn fühlte er sich so sicher und so stark, dass er den Weltrekord angriff. Dreimal zu reißen, als er damals im Juli 2018 2,46 Meter auflegen ließ, das wäre nicht weiter schlimm gewesen. Doch die Sprünge ermüdeten ihn, und beim dritten sprang er falsch ab, rauschte in die Latte, und als er auf der Matte gelandet war, wusste er, dass er sich schwer am Knöchel verletzt hatte.

Mustaz Barshim – Foto: Victah Sailer

Nach der Operation des Bänderrisses ging er, vor zwölf Monaten noch, an Krücken. Im Lauf der Saison hat er lediglich drei Wettkämpfe bestritten. Als es am Dienstag um die Qualifikation fürs Finale ging, sprang er viermal, blieb fehlerlos und überflog schließlich 2,29 Meter. Seine Saisonbestleistung. Barshim weiß, dass er die Leistung in sich hat. Er weiß aber auch, dass er zerbrechlich ist. Vor den Olympischen Spielen von London erlitt er einen Ermüdungsbruch im Rückgrat. Seitdem muss er, der zu schmächtig ist für Krafttraining, Stärkungsübungen für seinen Rücken machen.

Auf seinen Schultern trägt er große Hoffnungen. Enkel eines Paares, das mit Geschwistern und Cousins aus Sudan zur Arbeit nach Qatar kam, Kind von Eltern, welche die qatarische Staatsbürgerschaft erworben hatten, verkehrt Barshim mit dem Palast. Vor und nach seinem Sieg von London rief ihn der Emir persönlich im Olympiastadion von London auf dem Mobiltelefon an. Und selbstverständlich gab es bei seiner Heimkehr einen Empfang. „Sie lieben mich wirklich“, sagt er.

Über Weit- und Dreisprung zum Hochsprung

Abderrahman Samba löste mit dem dritten Platz, den er am Montag über 400 Meter Hürden erreichte, Jubelstürme unter den Einheimischen aus – die erste Medaille für Qatar. Doch im Gegensatz zu Samba, der in Saudi-Arabien geboren ist und auch schon für Mauretanien startete, ist Barshim ein Kind des Landes. Der Name, den seine Eltern ihm gaben, ist das arabische Wort für Stolz. Durch und durch Qatarer, ist Barshim selten zu Hause in Doha. Zwei Monate im Jahr, schätzt er, verbringe er zu Hause, und da bestehe die Mutter darauf, dass er im Elternhaus wohnt.

Ansonsten ist er, von Beruf Hochspringer, Weltbürger. Englisch spricht Barshim fließend, ein paar Brocken Polnisch und Schwedisch beherrscht er, weil er mit seinem Trainer Stanislaw Szczyrba mal bei Warschau und mal in Malmö trainiert. Seit er 2011 bei den Asienspielen in Kobe siegte, hat er ein Faible für Japan entwickelt. Er liest Mangas, er schaut sich begeistert Zeichentrickfilme an.

Szczyrba hat den Jungen an der Aspire Academy Qatars entdeckt, einem luxuriösen Campus, in dem es so etwas wie eine Eliteschule Sport gibt, an der Ausbildung und Training flexibel kombiniert wurden. Wenn seine Mutter verlangte, dass er endlich Hausaufgaben machte, verschwand er zum Training – und hatte engagierte Rückendeckung. „Wenn du Sport machst, bist du für meinen Vater König“, erzählt er. Nur musste er sich zunächst als Läufer quälen. Beim Weitsprung störte ihn der Sand, beim Dreisprung schmerzten die Knie, und für den Hochsprung war er lange zu klein.

Er liebte ihn trotzdem; wegen des Flops auf die Matte, wegen des Trainings auf dem Trampolin. Als er neunzehn war und ein Studium begann, nahm sich der polnische Coach einige Monate Zeit, den jungen Mann zu einem Trainingslager in Polen zu überreden. Als Barshim zugesagt hatte, verbesserte er sich in acht Wochen um elf Zentimeter auf 2,25 Meter. Da wusste er nicht nur, dass er selbst gut ist.

„Da wusste ich, dass mein Trainer gut ist“, sagt er. „Er ist wie ein Professor.“

An die Hochschule ist er nie zurückgekehrt.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 4. Oktober 2019

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR