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02
08
2019

Gina Lückenkemper. - 2017 World Championships-London London, UK August - Foto: Victah Sailer

Ein Hauch von Olympia: Warum in Berlin ein Mega-Sportevent stattfindet – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Es ist ein mutiges Experiment: Zehn deutsche Meisterschaften finden gleichzeitig auf engstem Raum statt und werden bildgewaltig in Szene gesetzt. Die Veranstaltung verfolgt ein ganz spezielles Ziel.

Seit Jahren geistert beim Fernsehen die Idee durch die Sportredaktionen, ein Quoten-Zugpferd wie die Wintersport-Sonntage für den Sommer aufzuzäumen. An diesem Wochenende ist es so weit: „Die Finals“ nennen ARD und ZDF, das Land Berlin und die beteiligten Verbände, vorneweg die Leichtathleten, die Austragung von zehn deutschen Meisterschaften zur selben Zeit am selben Ort.

Von allen seinen Sendern karrt das Fernsehen Kameras, Technik, Ü-Wagen und Personal in die Stadt. Am Olympiastadion entsteht für zwei Tage mit 19 Stunden Live-Übertragung ein nationales Sendezentrum.

Die Bühne, die das Fernsehen da bereitet, wollen die stärksten deutschen Athleten bespielen: Die gerade aus Südkorea zurückgekehrten Schwimm-Weltmeister Sarah Köhler und Florian Wellbrock sind am Start, die Leichtathleten mit Speerwurf-Olympiasieger und Europameister Thomas Röhler, mit Diskus-Olympiasieger Christoph Harting, mit Weitspringerin Malaika Mihambo und Hindernisläuferin Gesa Krause, mit Speerwerferin Christin Hussong, Zehnkämpfer Arthur Abele und Hochspringer Mateusz Przybylko, die alle im vergangenen Jahr im Olympiastadion Europameister wurden. Der Ironman-Gewinner von Hawaii der vergangenen beiden Jahre, Patrick Lange, startet im Triathlon-Sprint, die Turner Elisabeth Seitz, Marcel Nguyen und Andreas Toba, die überragende Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu, Kanu-Olympiasieger Sebastian Brendel und Rad-Weltmeister Theo Reinhardt sind dabei.

Mehr als nur Fußball, Fußball, Fußball

„Wir werden Bilder aus Berlin sehen, wie wir sie noch nie gesehen haben“, schwärmt der Berliner Innen- und Sportsenator Andreas Geisel. Er denkt dabei an die Inszenierung der Kanu-Wettbewerbe nahe der Oberbaumbrücke. Obwohl die Kanuten ihre deutsche Meisterschaft Ende September in Brandenburg an der Havel austragen werden, obwohl die Strecke für den Sprint am Wochenende nur 150 Meter lang ist, ist das Fernsehen entschlossen, spektakuläre Bilder zu schaffen mit der getürmten Backsteinbrücke, über die regelmäßig U-Bahn-Züge rollen, als Kulisse und, spreeabwärts, dem Panorama von Mitte mit dem Fernsehturm am Alexanderplatz. Kameras an Schwenkarmen, Kameras auf Schienen und eine Drohne mit Kamera sind im Einsatz. 

Die öffentlich-rechtlichen Sender treten an in der Gewissheit, dass kein Privater, selbst wenn er mit ihnen um Übertragungsrechte im Fußball und von Olympischen Spielen konkurriert, eine solche Produktion leisten könnte.

Und sie können beweisen, dass sie mehr können als Fußball, Fußball, Fußball.

Das Erste überträgt Samstag ab 10.00 Uhr, das Zweite Sonntag ab 10.15 Uhr. Wie bei Olympia wechselt das Programm ständig zwischen den Sportarten.

Die Stadt Berlin, der die Sportverbände 2015 für die Olympiabewerbung 2024 Hamburg vorzogen, ist ebenso entschlossen zu zeigen, dass sie die einzige wirkliche Sportmetropole Deutschlands ist. Ein Epizentrum des Sports ist das Olympiastadion von 1936, die letzte große Arena Deutschlands, die eine Leichtathletik-Anlage mit 400-Meter-Laufbahn enthält und die – obwohl seit der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2009 blau gefärbt – der Grund dafür ist, dass der Fußball-Bundesligaklub Hertha BSC das Olympiastadion verlassen und neu bauen will.

Im Stadion, vor dem Stadion und auf den weitläufigen Anlagen des Olympiaparks werden Leichtathletik, Fünfkampf, Triathlon, Boxen und Bogenschießen entschieden sowie Vereine und Verbände Besucher zum Mitmachen auffordern. 

Das Sportforum in Hohenschönhausen hat Berlin den sportlichen Ambitionen der verblichenen DDR zu verdanken; heute ist es Olympiastützpunkt. Die Max-Schmeling-Halle am Mauerpark sowie der Komplex aus Velodrom und Schwimm- und Sprunghalle an der Landsberger Allee sind der gescheiterten Bewerbung der Stadt um die Olympischen Spiele 2000 entsprungen.

„Wir können Großveranstaltungen, und wir wollen sie“, sagte Geisel am Mittwoch und verwies auf diese Sport-Infrastruktur. Er betonte die Nachhaltigkeit ihrer Nutzung. Doch dabei klang mit, dass keine andere Region Deutschlands aus dem Stand zur Ausrichtung eines solchen Programms in der Lage wäre. „Wir machen das in diesem Jahr. Wir wissen, wir haben kein Abo auf die Finals“, sagte er, – „aber von uns aus gerne.“

Will sagen: Fortsetzung folgt!

Geisel macht kein Geheimnis daraus, dass Berlin sich von dem Traum einer Olympiabewerbung nicht verabschiedet hat. Doch die Haltung von Bundesinnenminister Horst Seehofer, dass Deutschland nicht den geringsten Anschein erwecken dürfe, ein Sportfest zum hundertjährigen Jubiläum der Nazi-Spiele 1936 feiern zu wollen, hat auch einer Bewerbung um Spiele 2032, der nächsten möglichen, den Wind aus den Segeln genommen. „Die Bundesregierung muss sich bekennen“, fordert Geisel, „ein weltoffenes, demokratisches und tolerantes Deutschland vorzeigen zu wollen.“

Den Hauch von Olympia, den Berlin und das Fernsehen am Wochenende erzeugen wollen, empfinden die Verbände als Rückenwind. Die meisten olympischen Sportarten werden nur alle vier Jahre beachtet. Nun sind sie Teil eines Großereignisses, das knapp dreieinhalbtausend Athleten in die Stadt bringt und bei dem 202 Titel zu gewinnen sind.

Thomas Kurschilgen, der als Sportdirektor der Schwimmer deren Ab- in einen Aufschwung verwandelt zu haben scheint, schwärmte ebenfalls am Mittwoch. „Berlin ist das Zentrum, das Wohnzimmer des Schwimmens“, sagte er. „Die Schwimmhalle ist am Wochenende zweimal ausverkauft.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 1. August 2019

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