Blog
29
07
2019

Lorenz Peiffer und Arthur Heinrich (Hrsg.): Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Nordrhein-Westfalen. Göttingen 2019: Foto: Wallstein Verlag

Handbuch zum jüdischen Sport in Nordrhein-Westfalen erschienen – Lokale Darstellungen durch das Land von Aachen bis Minden

By GRR 0

Was wissen wir eigentlich über den Sport von Juden in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus?

Eine Antwort könnte lauten: Mit dem kürzlich erschienenen historischen „Handbuch für Nordrhein-Westfalen“ können wir zumindest für dieses Bundesland genauere, weil durch Quellen gesicherte Spuren zu einer lokalen bzw. regionalen Landkarte zusammenlegen, mit denen ein differenzierteres Bild über das damals aktive sportliche Leben von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nachgezeichnet werden kann.

Trotzdem bleibt der allgemeine Befund weiterhin bestehen, der schon im hinteren Klappentext dieses Handbuches zu lesen ist: „In der Geschichtswissenschaft bildet das Thema Sport im Kontext der jüdischen Geschichte nach wie vor weitgehend eine Leerstelle“, zumal sich die Forschung bisher verstärkt um die geisteswissenschaftlichen Verdienste von Juden gekümmert hat und dabei der Sport als entstehende Massenkultur seit den 1920er Jahren in Deutschland eher vernachlässigt wurde.

Insofern füllt die von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen geförderte Studie diese Lücke jetzt weiter aus. Dabei konnten die beiden Herausgeber bzw. Autoren Prof. Dr. Lorenz Peiffer und Dr. Arthur Heinrich (beide Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover) auf Vorarbeiten einer früheren Erhebung für Niedersachsen und Bremen (L. Peiffer und H. Wahlig, Göttingen 2012) zurückgreifen.

Und es bleibt jetzt zu hoffen, dass auf dieser bestehenden Grundlage weitere Landesteile in Deutschland erforscht und zu einem Gesamtbild abgerundet werden können – denn schon im Vorwort ist der „Anstoß“ dazu nachzulesen:

Die nordrhein-westfälische Landesregierung und der Landessportbund Nordrhein-Westfalen haben Anfang 2018 eine Zielvereinbarung getroffen, in der sie sich für eine „zukunftsweisende Sportentwicklung“ stark machen. Das bedeutet auch: Wer sich dieser „zukunftsweisenden“ Aufgabe stellt, muss auch den Blick zurück auf die „herkunftsweisende“ Entwicklung richten und sich der eigenen Vergangenheit – zumal im Nationalsozialismus – stellen, wo jüdische Sportlerinnen und Sportler aus den Turn- und Sportvereinen ausgeschlossen wurden. Rassismus, Antisemitismus, Terrorismus und andere menschenverachtende Phänomene dürfen im „zukunftsweisenden“ Sport keinen Platz finden – weder im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen noch anderswo.

Wie muss man sich das vorliegende „Handbuch für Nordrhein-Westfalen“ vom Inhalt und Aufbau her vorstellen? Das 806-seitige Werk umfasst formal „nur“ sechs Kapitel. Es wird vorn eingerahmt mit „Vorwort“ und „Einführung“ (beide verfasst von Lorenz Peiffer), am Ende folgt ein Abkürzungsverzeichnis und eine längere Danksagung an jene Menschen bzw. (lokale) Einrichtungen, die bereit waren, Einblicke in Archive etc. zu gewähren, um die insgesamt 136 jüdischen Turn- und Sportgruppen in Westfalen und im Rheinland zu identifizieren und die dort im Sport agierenden Personen (aktive und ehrenamtlich tätige) mit ihren Biografien aufzuspüren.

Im Kern besteht das Handbach demnach aus „nur“ zwei Kapiteln. Davon überragt die Aufstellung der „Orte“ (Kapitel-Überschrift) mit weit über 600 Seiten die danach folgende Auflistung von (acht) „Sportlerbiografien“. Die Orte des jüdischen Sport(er)erlebens sind alphabetisch geordnet und reichen von Aachen über Köln bis Wuppertal im Rheinland und von Bochum nach Minden in Westfalen. Im Anschluss daran wird das ehemaligen Fürstentum und Land Lippe (heute Kreis Lippe, bis 1973 die Kreise Lemgo und Detmold) als „Ein historischer Sonderfall“ (Autor Florian Lüke) dargestellt. Insgesamt sind 62 Städte und Gemeinden im Handbuch enthalten.

Die Darstellung der einzelnen Orte erfolgt jeweils nach dem gleichen übersichtlichen Schema, das zuvor am Ende der Einführung ausführlich beschrieben wird und aus vier Abschnitten besteht: Nach einer kurzen Skizze der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der betreffenden Stadt bzw. Gemeinde (1) folgen Ausführungen über Juden im lokalen Sportleben vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 (2), danach werden Erkenntnisse über den Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Turn- und Sportvereinen dargelegt (3), bevor ein Abschnitt über die „Entwicklung des jüdischen Sports ab 1933“ (4) diese Facette lokaler Sportgeschichte abrundet.

Dadurch gelingt es Peiffer und Heinrich je nach vorhandener Quellenlage, ein sehr konkretes Bild (teilweise tatsächlich unterfüttert mit zeitgenössischen Fotografien) über das vielfältige sportliche Geschehen in jener Zeit zu präsentieren – nicht nur durch Nennung der betriebenen Sportarten (von Fußball und Leichtathletik bis Turnen und Wintersport), sondern auch mit Verweis auf die genutzten Sportstätten bis hin zur namentlichen Nennung von jüdischen Vereinsmitgliedern mit biografischen Daten und namentlichen Mannschaftsaufstellungen – hier sogar mit jener Schüler-Fußballmannschaft von Schild-Dortmund (hier: „Kahn“ im Tor und „Kohn I“ und „Kohn II“ in der Verteidigung), die gegen die Sportgruppe Bochum 4:4-Unentschieden spielte (Quelle: Gemeindeblatt Dortmund vom 11. Januar 1935).

Was die porträtierten jüdischen Sportler angeht, handelt es sich um den Boxer, Boxobmann und Arzt Rolf Bischofswerder aus Dortmund, den Mittelstreckenläufer Franz Orgler aus Wuppertal, den Sprinter Erich Schild aus Langschede (heute Stadtteil von Fröndenberg/Ruhr), der nach dem Zweiten Weltkrieg als Schauspieler Eric Schildkraut in der Bundesrepublik Karriere machte, den Mehrkämpfer Erich Klaber aus Borken, den Fußballspieler Erich Gottschalk aus Wanne (heute Herne), den Fußballspieler und ersten Funktionär jüdischer Herkunft beim FC Schalke 04, Dr. Paul Eichengrün aus Gelsenkirchen sowie die beiden Brüder und Fußballpioniere Julius Robert Goldschmidt aus Eslohe im Hochsauerland.

Zum Schluss noch soviel als ein Fazit: Als „im vorauseilenden Gehorsam – freiwillig“ (S. 67) der Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den deutschen Sportvereinen ab 1933 begann, wurden zahlreiche jüdische Sportvereine auch in Westfalen und im Rheinland neu gegründet. Die Entwicklung des Sports von 1933 bis 1938 in den jüdischen Gemeinden muss daher nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sozialen bzw. gesellschaftlichen Isolation betrachtet werden – denn: „Neben der Synagoge als Zentrum des religiösen Lebens wurde der Sportplatz, die Turnhalle, der Tischtennisraum zu einem weiteren Zentrum in den jüdischen Gemeinden“ (S. 68).

Lorenz Peiffer und Arthur Heinrich (Hrsg.): Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Nordrhein-Westfalen. Göttingen 2019: Wallstein. 806 S.; 49,-  €

Prof. Detlef Kuhlmann   

author: GRR