Blog
19
07
2019

Alina Reh - hier bei 2017 World Championships-London London, UK August 4-13, 2017 Photo: Victah Sailer@PhotoRun

Alina REH: „Wenn ich am Start stehe, gibt es Vollgas“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die 22 Jahre alte Langstrecken-Hoffnung Alina Reh über Individualität, ihre Heimat, ihren Bewegungsdrang und die Lust, sich zu quälen.

Ein Erfolgsgeheimnis des Sports ist die Zentralisierung; die Besten ihrer Diszi­plin messen sich täglich im Training und werden dadurch noch besser. Warum lenen Sie das ab?

Ich brauche das nicht. Ich spüre immer mehr, dass ich eine Einzelgängerin bin. Wenn ich allein traini ere, kann ich mich auf mich fokussieren.

Konstanze Klosterhalfen, wie Sie eines der großen Lauftalente, ist nach Port­land/Oregon gegangen, um sich dort zu verbessern

Für mich kommt das nicht in Frage. Ich hatte immer mit Heimweh zu kämpfen. Ich brauche meine Schwäbische Alb, dort fühle ich mich wohl. Was mir auffällt in Deutschland: Jede von uns Läuferinnen macht ihr eigenes Ding. Konstanze ist in den USA, Gesa (Krause), Hanna (Klein), Elena (Burkart) machen ihr Ding: Jede von uns trainiert individuell, und  jede bringt  Leistung.

Woher kommen all die jungen Läuferin­nen? Steckt da etwas dahinter?

Ich denke, es ist ein Glücksfall. Und es ist gut so. Wir machen die Rennen schnell, wir schenken uns nichts. Wenn ich an der Startlinie stehe, gibt es Vollgas und nicht so eine Trödelei.

Ist Laichingen so ein Idyll, dass Sie dort einfach nicht wegwollen?

Es ist ländlich, und ich kann viele ver­schiedene Strecken laufen, auf Asphalt, auf Feldwegen, auf Waldboden. Dort laufe ich, dort fühle ich mich wohl, dort kennt mich jeder. Das ist nicht immer einfach. Wir  haben einen Supermarkt im Ortskern, jeder der achttausend Einwohner kennt mich praktisch von klein auf. Aber es ist auch schön. Ich  laufe durch den Wald, und jemand ruft: „Hal­lo, Alina.“ Meine  Mutter hört von ihren Kunden, wo ich mich gerade herumtrei­be.

Ihre Mutter ist nicht nur verantwortlich dafür, dass Sie Einzelhandelskauffrau sind, sondern hat Sie auch zum Laufen gebracht. Wie war das?

Sie ist als Hobby Marathon gelaufen. Ich war ein bissl schwierig als Kind. Ich hatte so viel Energie und musste mich im­mer bewegen. Sie hat mich einfach aufs Fahrrad gesetzt, und ich bin beim  Trai­ning nebenhergefahren.

Bei Wikipedia steht, Sie hätten nie richti­ge Leichtathletik gemacht und seien bei der Talentsichtung Letzte geworden. Wie das?

Man  sagt immer, man solle von  der klassischen Leichtathletik kommen, Hochsprung, Weitsprung, Kugelstoß  und Sprint. Das habe ich nie gemacht. Ich bin immer nur gelaufen. Bei den Marathons meiner Mutter gab es immer Schüler-Läu­fe. Ich weiß noch, wie ich in Frankfurt mit­ gelaufen bin: Gesa Krause hat gewonnen, und ich bin irgendwo im hinteren Feld ins Ziel gekommen .

Sie kennen sich aus Ihrer Kindheit?

Nein, wir kannten uns damals nicht. Ich kannte sie, weil sie gewonnen hat. Bei solchen Läufen habe ich viel mitgemacht, aber nicht bei Leichtathletik-Sportfesten mit Ballwurf und Weitsprung. Als es in Stuttgart mal einen Sichtungslehrgang für den F-Kader gab …

...für 13-Jährige.

… da wurde alles gemacht, nur nicht gelaufen. Ich musste einen Basketball wer­fen und Standweitsprung machen. Ich konnte gar nichts, null, und wurde mit Ab­stand Letzte von 130 Teilnehmern. Ich wurde trotzdem in den F-Kader  aufge­nommen.

Warum?

Das weiß ich bis heute nicht. Einer der Landestrainer wusste, dass ich schnell lau­fen kann. Weil ich dort  hinkam und nichts konnte, war das trotzdem eine frus­trierende Erfahrung.

Was machte Sie zu einem schwierigen Kind?

Mein Bewegungsdrang. Er war so groß, dass meine  Eltern mit mir zum Arzt gin­gen, als ich fünf war. Entweder hat er emp­fohlen, dass ich mich auspowern soll, oder es war eine Freundin meiner Mutter. Jedenfalls stand nie zur Diskussion , dass ich Medikamente bekomme. Bewegung hat vollkommen  ausgereicht  und mir gut­ getan. Ich glaube, dass dies der Schlüssel ist: einfach rausgehen. Wir  haben  prak­tisch jedes Wochenende in der Natur ver­bracht. Das hat unsere Familie sehr ge­prägt, dass wir viel gemeinsam unternommen haben.

War es ein Vorteil , dass Sie nicht in ei­ner  Großstadt  aufgewachsen sind, son­dern draußen toben konnten?

Bolzplätze gibt es überall. Aber ja: Die Nachbarskinder und ich haben alles aus­probiert. Wir haben Fußball gespielt. Wir sind um den Block gerannt oder  mit Inlinern gefahren.Wir waren immer im Wett-­ kampf und wollten wissen, wer die Schnellste ist. Es musste immer eine Stoppuhr dabei sein. Die Sieger  haben wir mit Kreide auf die Straße geschrie­ben, und schon ging’s weiter.

 

Alina Reh bei der EM Berlin 2018 – Foto: Horst Milde

 

Sind Sie mit 22 Jahren ruhiger?

Ich  trainiere zweimal am Tag. Da bin ich schon manchmal ausgepowert. Und man lernt zu fokussieren, nicht auf allen Hochzeiten tanzen  zu wollen.

Ist bei Ihnen je Hyperaktivität diagnosti­ziert worden?

Nein, das war sofort erledigt. Man muss Bewegungsdrang als Talent sehen, nicht als Krankheit. Man muss versuchen, was draus zu machen. Man kann seine Energie auch in den Beruf investieren, ins persönliche Fortkommen oder in den so­zialen Bereich.

Begegnen Sie im Sport anderen mit ähn­lichem Drang?

Ich spüre nicht, dass ich mehr Energie habe als andere, aber dass ich nicht so gut stillliegen und auf den Wettkampf warten kann. Ich bin hibbelig  und muss mich im­mer bewegen. Manche Athletinnen kön­nen zwei Stunden Mittagsschlaf machen vor dem Wettkampf. Bei anderen denke ich: Die sind ja genauso extrem wie ich.

Sie sind im Mai zum ersten Mal in der Diamond League gestartet und verbes­serten über 5000 Meter Ihre Bestzeit auf 15:04,10 Minuten. Konnten Sie sich freuen, oder hat Sie Platz 11 geärgert?

Ich wusste, dass ich im letzten Drittel ankommen würde. Ich wäre gern schnel­l er gelaufen. Ich hätte gern eine 14 vorn gehabt. Mi r fehlen noch die Tempohärte und die Tempospitze, die letzten tausend Meter in 2:50 mitzuknallen. Ich hatte mich sehr gefreut auf das Diamond Lea­gue Meeting und mir das allerdings alles ein bisschen größer vorgestellt.

Miriam Dattke (lks.) und Alina Reh bei der EM U23 in Gävle 2019 – Foto: DLV/Iris Hensel

Was hat Ihnen gefehlt?

Die Zuschauer. Die Begeisterung. Wir kamen nach Stockholm, und ich dachte, das Stadion  sei ausverkauft. Es war nur zu einem Drittel voll.

Was erwarten Sie in dieser Hinsicht  von der deutschen Meisterschaft im Berliner Olympiastadion?

Ich fürchte, dass die Nähe fehlen  wird. Wir hatten dort eine Hammer-EM. Es war toll, viel besser als ich mir das vorge­stellt hatte. Damit darf man deutsche Meisterschaften nicht vergleichen. Die in Nürnberg im  vergangenen  Jahr war ein Trauerspiel. Ich glaube, dass das Olympia­stadion zu groß ist für eine deutsche Meis­terschaft.

Sie haben Sinn für Spektakel. In Pliez­hausen sind Sie im Männerrennen ge­startet. Wie kam es da zu?

Pliezhausen ist fünfzig Minuten von meinem Zuhause entfernt. Dort bin ich schon als Schülerin gelaufen. Wir  dach­ten, zum Saisoneinstieg bietet sich ein Männerrennen an. Da muss ich nicht al­lein an der Spitze rennen, sondern kann mich reinhängen.

War es so?

Ich dachte, die Herren nehmen ein biss­chen Rücksicht. Aber da gab’s ein paar, die meinten, dass sie ihr Ego durchsetzen müssten.Wenn ich überholen wollte, sind sie rausgekommen und haben Bahn zwei blockiert. Damit ich einen längeren Weg habe.

Laufen Sie an der Schwelle zur Überlas­tung? Vor einem Jahr haben Sie wegen ei­nes Überlastungsbruchs im Wadenbein pausiert.

Leistungssport ist ein Ritt auf der Ra­sierklinge. Man möchte schneller werden, aber muss das Maß finden zwischen Belas­tung und Entlastung. Es ist extrem ärger­lich, wenn man sehr viel investiert ins Training und auch in die Entlastung – und dann passiert trotzdem ein Ermüdungsbruch. Aber das ist halt Leistungs­sport. Das kann einen zermürben.

Halten Sie Schmerz länger aus als ande­re, oder tun Ihre Beine Ihnen nicht weh?

Ich quäle mich gern. Es macht  mir Freude, an den Punkt zu kommen, wo es wehtut, ich aber weiß: Ich beherrsche den Schmerz. Das schönste Gefühl  ist, wenn man in den Flow kommt. Man spürt, dass es rollt, man tut gar nicht viel dafür,  und man denkt nicht viel. Man kann den Kopf ablegen. Am liebsten würde ich vor einem Wettkampf den Kopf abgeben, da ­ mit ich nicht so viel drüber nachdenke: Wann kommt der Punkt, an dem ich mich quälen muss, die Qual aber nicht schön ist?

Übersehen Sie dabei Alarmsignale?

Das ist die Gefahr. Dafür brauche ich meinen Coach. Er muss mich bremsen, wenn  ich an die Grenze gehe und viel­leicht darüber hinaus.

Und im Wettkampf?

Da kann man eher an die Grenze ge­hen. Wenn man merkt, die Läuferin vor ei­nem oder neben einem keucht schon ein bisschen mehr: Das setzt Kräfte frei.

Wann ist der Schmerz unangenehm? Am Tag danach beim treppab gehen?

Das finde ich auch schön. Es gibt nichts Schöneres als schwere Beine, wenn man gut trainiert hat oder einen guten Wettkampf hatte. Dann weiß man, dass man alles rausgeholt hat.

Der russische Verband ist wegen systema­tischen Dopings seit bald vier Jahren sus­pendiert, in  Kenia fliegt eine Athletin nach der anderen auf,  und die Schwedin Meraf Bahta, die Ihnen bei der EM Platz drei wegschnappte, ist  gesperrt, weil DopingKontrolleure sie nicht  fin­den konnten. Wie gehen Sie mit dem Do­ping-Verdacht in Ihrem Sport um?

Ehrlich gesagt: Ich gucke mir die Repor­tagen gar nicht an. Ich will das nicht in meinen Kopf lassen, weil es mich aufrei­ben würde. Wenn ich an der Startlinie ste­he, habe ich keinen Einfluss darauf, ob die, die neben mir steht, etwas Verbotenes getan hat oder nicht.

Das Gespräch führte Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Mittwoch, dem 17. Juli 2019

 

 

 

author: GRR