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14
06
2019

Alina Reh bei der EM Berlin 2018 - Foto: Horst Milde

25 Runden auf der Bahn: „Da geht ja nicht viel ab“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Alina Reh und Richard Ringer laufen zu Meistertiteln über 10.000 Meter. Doch die Rennerei auf der Bahn kämpft um Aufmerksamkeit. Überlegungen, die Attraktivität für die Zuschauer zu erhöhen, sind da.

Als zur Siegerehrung gerufen wurde, versank die Sonne am westlichen Horizont von Essen-Stoppenberg. Topfblumen, die das Podest umstehen sollten, lagen zerzaust im regennassen Gras.

Und auf der überdachten Tribüne der Sportanlage Am Hallo, die im Lauf des Tages mit drei-, vierhundert Besuchern spärlich besetzt gewesen war, räumten nun, kurz vor zehn Uhr abends, die Frauen, die mit dem Verkauf von Kaffee und Würstchen für ein wenig Wärme gesorgt hatten, ihre Tische ab an diesem kühlen Tag.

Die deutsche Meisterschaft im 10.000-Meter-Lauf mit acht Rennen über je 25 Runden plus einigen Nachwuchsläufen fordert nicht nur den Teilnehmern Stehvermögen ab.

Auf der Bahn aber herrschte gute Laune. „Das war einfach perfekt“, freute sich Alina Reh, die den letzten Lauf des langen Tages in einem Alleingang von 31:19,87 Minuten gewonnen und dabei jede einzelne Konkurrentin mindestens einmal überrundet hatte. Damit verbesserte die 22-Jährige vom SSV Ulm ihre Bestzeit um fast eine Minute und unterbot sogar ihren Straßen-Rekord von 31:23 Minuten.

Sätze wie „Das ist der Hammer!“ hatte ihr Trainer Jürgen Austin-Kerl Runde um Runde gerufen, die seine Läuferin im Takt von 75 Sekunden hinter sich brachte. Und konstatierte: „Sie läuft auf einen neuen Level.“ Das war Alina Rehs Absicht gewesen. „Ich bin hergekommen, um etwas zu riskieren“, sagte sie. „Ich dachte: Hintenraus sterben kann ich immer noch. Und dann ist es gut gegangen.“

Wer wollte, konnte nach dem Rennen mit der Siegerin plaudern. „Ihr seid willkommen auf Bahn vier“, hatte der Stadionsprecher dem Publikum früh im Rennen der Männer zugerufen. „Nur nicht durch die Zeitmessung laufen!“

Alina Reh lief wie eine Dreiviertelstunde vor ihr Richard Ringer vom LC Rehlingen durch ein Spalier von Menschen zum Titel. Dichter dran ist nur, wer mitmacht 

Ringer lief am Samstagabend in 28:28,89 Minuten sein erstes Rennen auf der Bahn seit der Europameisterschaft von Berlin im Herbst. Noch hat er vier Wochen Zeit bis zum Weltcup in London, den er im vergangenen Jahr in persönlicher Bestzeit von 27:36,52 Minuten gewonnen hatte. „Es ist okay, dass die Distanz aus der deutschen Meisterschaft ausgegliedert ist. Du kannst nicht ein Stadion dreißig Minuten lang dichtmachen für einen 10.000-Meter-Lauf“, sagte er, als er nach dem Lauf unter einem Tribünenvorsprung in warme Kleidung schlüpfte. „Eher sollte man die zehntausend auf die Straße bringen“, schlug er vor. „Es gibt auch Kugelstoßen und Stabhochspringen in der Stadt.“

Beine machen mit einem Volkslauf

Es ist ein Rätsel, warum derart hochklassige Rennen im Land der City-Marathons und Volksläufe, in der Heimat von Abermillionen Langläufern Insider-Veranstaltungen sind.

„Der beste Sport der Welt“, urteilte Jan Fitschen unverdrossen. Der Europameister über 10.000 Meter von Göteborg 2006 hat unter dem Slogan „10.000 mal 10.000“ begonnen, Lauf-Anfängern Beine zu machen. Vielleicht sollte man die Meisterschaft mit einem Volkslauf kombinieren, lautete seine Überlegung. Auch dann wären die Teilnehmer der einen Läufe die Zuschauer der anderen. Und insgesamt wären sie mehr. Fitschen war von Wattenscheid aus zu den Titelkämpfen gekommen und überwältigt vom Zuschauerzuspruch, als er – wie sich herausstellte: am falschen Ende – auf die Sportanlage fuhr. TuSEM Essen gab dort in der Arena das letzte Spiel der Saison in der Zweiten Handball-Bundesliga; mehr als zweitausend Besucher erlebten den Sieg über den Hamburger SV mit. Fitschen musste über ein verschlossenes Tor klettern, um dorthin zu gelangen, wo er hinwollte: in die Einsamkeit der Langstreckenläufer.

36 Teilnehmer gingen ins Rennen um den Titel der Männer, mehr als doppelt so viele wie bei den Frauen. „Der Zuspruch zeigt, dass unsere Hochkaräter Interesse haben“, interpretiert Langstrecken-Bundestrainer André Höhne den Zuspruch. Weil es neuerdings eine Weltrangliste gibt, die über die Qualifikation zu Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen entscheidet, hatte der Deutsche Leichtathletik-Verband den 5000-Meter-Läufer Felix Rüger ermuntert, für Ringer und seine Konkurrenten auf den ersten zehn Runden Tempo zu machen. Nicht nur gute Plazierungen, sondern auch gute Zeiten verbessern den Rang in der Liste.

„Wir organisieren, dass nicht nur taktisch gelaufen wird“, sagte der Leitende Bundestrainer für Lauf und Gehen, Thomas Dreißigacker.

Das soll erst der Anfang sein. Eine Eingliederung in die deutsche Meisterschaft, in diesem Jahr am 3. und 4. August im Berliner Olympiastadion ausgetragen, würde diejenigen zwingen, die auch 5000 Meter laufen, sich für eine von beiden Langstrecken zu entscheiden und damit auf einen Wettbewerb zu verzichten.

Deshalb soll die 10.000-Meter-Meisterschaft weiterhin separat, aber schon im nächsten Jahr in Ulm als internationale deutsche Meisterschaft ausgetragen werden: mit großen Namen, höherem Tempo und, es wäre ihnen zu wünschen, richtig vielen Zuschauern. Es muss ja nicht jeder den Wettbewerb so betrachten, wie dessen Schnellste das vermutet.

Für Außenstehende sind die 10.000 Meter nicht so interessant“, sagt Alina Reh: „25 Runden auf der Bahn – da geht ja nicht viel ab.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 11. Juni 2019

 

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