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02
05
2019

Zürich - Die Bahnhofstraße kurz vor dem Start - Foto: Dr. Erdmute Nieke

Der Zürich-Marathon ist anders, doch auch schön! Impressionen vom 17. Zürich Marathon am 28. April 2019 von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Die Vorbereitungen für meinen achten Marathon begannen ziemlich früh.

Bereits vor einem Jahr hatte ich einen Startplatz für den Zürich-Marathon gekauft mit den üblichen Frühbucherrabatten, Flug und Hotel mit ein paar Mausklicks gebucht.

Dann wird es konkreter.

Nun habe ich ja schon Marathon-Erfahrungen aus Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Wien. Auf der Homepage des Veranstalters finde ich keine Info zur Eigenversorgung. Meine Mailanfrage wird schnell beantwortet. Aus organisatorischen Gründen ginge das nicht. Zürich ist anders.

Da ich Osterferien habe, fliege ich bereits am Donnerstag nach Zürich. Die Startnummern gibt es von Montag bis Sonntag direkt an der edlen Bahnhofsstraße. Im Kaufhaus Jelmoli gehört die vierte Etage dem Sport. Zwischen Bomptonfahrrädern, Adidas, Falke, Nike und Co. erhalte ich Startnummer, Kleidersack mit einigen Präsenten und Verpflegungsbeutel. Ich finde keinen Hinweis zur Medaillengravur. Ich frage eine Helferin und versuche mich in das Schweizerdeutsch einzuhören. Ist eine Übungssache, genau hinhören und im Zweifel immer nochmal nachfragen. Ich werde an drei weitere Menschen verwiesen. Ein Frau hat dann Ahnung: „Sowas machen wir nicht!“ Zürich ist anders.

Dann erkunde ich die Stadt, staune über die Schaufenster. Eine ROLEX für 37.000 Franken, viele Auslagen haben gar keine Preisangaben mehr. An den Eingängen der Läden stehen Securitymänner in Schlips und Anzug. Über diese edle Einkaufsstraße werden wir am Sonntag rennen? Es ist nix davon zu erahnen.

Ich bummle am Zürichsee entlang und durch die mittelalterliche Altstadt und entdecke endlich das erste Halteverbotsschild mit einem Hinweis zum Marathon. Das Wetter wird immer kälter und regnerischer. Ich bummle weiter unter einem großen Hotelregenschirm und erfreue mich an Theater und Kino und Stadtkultur und Geschichte von Zürich.

Zürich feiert in diesem Jahr 500 Jahre Reformation. Ulrich Zwingli hat 1519 eine Stelle als Priester am Großmünster angetreten. Ich gehe ins Kino und schaue „Zwingli“ auf schweizerdeutsch. Zwingli hat Luthers und Erasmus‘ Ideen in Zürich bekannt gemacht und gemeinsam mit dem Rat der Stadt gegen die katholische Kirche  agiert. Herausgekommen ist eine neue christliche Konfession: Die reformierte Kirche.

Es kommt der wichtige Abend vor dem Marathon. Eine Pastaparty bietet der Veranstalter nicht an, dafür könnte ich in meinem Hotel am Morgen vor dem Start ab 5 Uhr frühstücken mit Pasta! Zürich ist anders.

In der gemütlichen Altstadt finde ich die Spaghetti-Factory, ein schönes Lokal. Ich bestelle eine extra große Portion Pasta. Der Kellner: „Ach, morgen ist Marathon?“  Danach gehe ich in die Helferei des Großmünsters. Das war ursprünglich die Amtswohnung von Zwingli, übrigens hat er da mit Anna Reinhardt schon vor der Aufhebung des Zölibats gelebt! Heute ist das Haus eine Art Kulturhaus und es gibt ein Theaterstück vom Flüchtlingstheater Malaika. Neben mir sitzt ein älterer Herr – ein Züricher. Wir kommen ins Gespräch. „Ach, morgen ist Marathon? Und dafür sind Sie extra aus Berlin gekommen?“ Ungläubiges Staunen. Doch schnell sind wir bei anderen Themen. Ich muss Auskunft geben über Horst Seehofer und die AfD. Mein Gesprächspartner kümmert sich in Zürich um Geflüchtete. Ein junger Geflüchteter sitzt neben ihm. Zürich, das sind also nicht nur ROLEX-Uhren!

Sonntag Morgen: Beim Frühstück steht wirklich Pasta mit Tomatensoße auf dem Buffet! Über die edle Bahnhofsstraße gehe ich zum Start. Helfer sind gerade dabei, die Straße mit Flatterbändern abzusperren, ganz junge Menschen mit der Aufschrift Verkehrskadetten an ihren Uniformen und Leuchtjacken regeln die Verkehrsabsperrungen. Eine Kadettin spreche ich an. Sie sind ehrenamtliche Helferinnen und eigentlich noch Schüler.

Das Nashorn darf nicht auf die Laufstrecke – Bahnhofsstaße Zürich – Foto: Dr. Erdmute Nieke

Dann beginnt es ziemlich stark zu regnen. Die Stimmung am Start ist entsprechend. Alle versuchen, sich irgendwo unterzustellen. Leider sind die Toilettenschlangen alle endlos lang und die Zeit rückt bedenklich weiter. Denn am Start finden sich nicht nur die gut 2000 Marathonläufer*innen ein, sondern auch gut 2500 Cityläufer*innen für die 10-km-Strecke und 1000 Teamstaffeln mit je 4 Teilnehmer*innen.

Drei Minuten vor dem Start bin ich endlich in meinem Startfeld, das unglaublich voll und gedrängt ist. In meiner Nähe stehen zwei Tempomacherinnen mit 4:30er Fahnen. Eigentlich stehe ich falsch, aber das geht nicht mehr zu ändern. Pünktlich um 8.30 Uhr steigen Luftballons in den grauen Regenhimmel.

Fünf Minuten nach der Elite laufe ich durch das Starttor. Regen! Am Samstag hatte ich mir noch eine Regenjacke und ein Langarmshirt gekauft. Das war klug. Die ersten  zehn Kilometer laufen wir gemeinsam mit den Cityrunnern eine Art dreiblättiges Kleeblatt um das Ende des Zürichsees durch Zürich. Wir umrunden das Opernhaus (am Opernhaus steht die Berliner Schauspielerin Dagmar Manzel und wundert sich über die vielen Läufer*innen und dass sie nicht über die Straße gehen kann), laufen zweimal über die Limmat und an der teuren ROLEX-Uhr vorbei auf der Bahnhofsstraße und eine drittes Kleeblatt am westlichen Seeufer. Die Stecke ist eigentlich zu eng. An den Kurven staut es sich. Aber dann bei km 10 wird es leer und der Regen hat aufgehört. Ich bin für meine Verhältnisse ziemlich schnell unterwegs, fühle mich aber gut. Die Regenjacke binde ich mir um den Bauch, die 4:30er Tempomacherinnen verliere ich aus den Augen. Dann führt die Strecke fast 15 Kilometer lang am östlichen Seeufer immer geradeaus. Wir verlassen Zürich, die Landschaft wird dörflicher. Im Hintergrund die schneebedeckten Alpen. Die Sonne kommt dazu zwischen den Wolken hervor. Fast kitschig!

An der Stecke stehen Menschen, viele sonntäglich gut gekleidet, Männer im Schlips und Anzug. Viele staunen schweigend, oft rufen sie „Hopp, hopp, hopp!“, einige läuten mit Kuhglocken. Dazu läuten öfter die Glocken der Dorfkirchen. Wir kommen durch Tiefenbrunnen, Goldbach, Küsnacht, Erlenbach, Winkel, Herliberg, Feldmailen und Meilen. Es gibt auch Musik unterwegs. Doch bei sechs Grad und Regen wahrscheinlich kein echtes Vergnügen, oft machen die Musiker gerade Pause. Die Alphornbläser auf der Bahnhofsstraße erinnern mich an Schöneberg beim Berlin-Marathon.

Die 15 Kilometer Uferstraße müssen wir wieder zurück. Da kommen mir kurz vor der HM-Marke die ersten Leitfahrzeuge entgegen, gefolgt von den Schnellsten. Sie werden von uns bejubelt.

Dann bald entdecke ich ihn: Henry Wonyoike mit seinem Begleitläufer.

Eine schöne Abwechslung, die schnellen Läufer*innen zu beobachten, auch in so manches Gesicht zu schauen, dass keine Lauffreude ausstrahlt.

Das Dorf Meilen ist der Wendepunkt. Es geht einen Berg hinauf und Kilometer 25 ist geschafft. Das ganze Dorf scheint an der Strecke zu stehen. Musik und Bratwurstduft, Volksfeststimmung und immer wieder „Hopp, hopp, hopp!“. Prädikat: Beste Stimmung an der Strecke und die meiste Sonne!

Nun noch 17 km. Jetzt sind die Weinberge rechts und links der Zürichsee. Ich laufe so vor mich hin und sehe die letzten Läufer*innnen entgegen kommen. Zwei schwarze Besenbusse folgen. Dann wird es ein wenig langweilig.

Doch da höre ich von hinten so ganz gleichmäßige Tritte von zwei Läufern. Ich drehe mich um und was sehe ich? Die blauen Tempofahnen 4:45!

Etwas unkontrolliert entweichen mir die Worte: „Scheiße, ich bin viel zu schnell!“ Mit diesem Satz beginnen die besten 15 Schlusskilometer aller meiner Marathons. Einer der Tempomacher hört meinen Satz und spricht mich sofort an: „Was willst Du denn laufen?“ Ich: „Vor dem Zielschluss ankommen!“ Der liegt in Zürich schon bei 5:30, denn Zürich ist ja anders!

Die beiden Tempomacher – Michael und Christoph – sind die besten Tempomacher, die ich je erlebt habe. Sie haben irgendwie nicht die übliche Traube von Läufer*innen um sich, da ist nur noch Eva und ein Mexikaner und ab und zu hängen sich noch kurzzeitig einzelne Läufer an. Michael und Christoph machen mir Mut, fragen nach meiner Bestzeit (4:57:04). Sie versichern mir, dass ich diese heute toppen würde. Bei jedem Kilometer holt Christoph einen Zettel aus der Hosentasche und verkündet so Sätze wie: „Wir liegen 1:30 unter 4:45!“ Sie erzählen mir von ihren vielen Lauferfahrungen. Fragen mich nach dem Berliner Mauerlauf aus, denn sie haben mein Head erkannt mit dem Symbol des Mauerlaufs. Bei Kilometer 34 erzähle ich, dass beim Berlin-Marathon beim Kilometer 34 immer unser Lauftreffleiter Bernd Hübner steht. Sie meinen darauf, dass sie wenigstens einen Streckenfotografen bieten können. Sie erzählen, dass bei schönem Wetter viele Menschen an der Strecke wären und als wir wieder in Zürich sind, beschreiben sie mir genau, wo wir nochmal lang laufen und an welcher Kurve welcher Kilometer ist. Bei Kilometer 35 und 38 gibt es Cola, das gibt nochmal richtig Energie. Meinen dritten Riegel aus der Hosentasche esse ich nicht mehr. Bei Kilometer 41 lasse ich mich etwas zurückfallen, Michael dreht sich auf dem letzten Kilometer bestimmt fünfmal um und winkt und freut sich, dass er mich nicht aus dem Blick verliert. Dann letzte Kurve und Zieleinlauf auf einem grünen Teppich unter einer blühenden Kastanie. Eine rote Anzeige mit „E. Nieke 4:43:30“!!!

Wahnsinn, mir kommen Tränen der Freude! Eva, Christoph und Michael sind im Ziel und warten auf mich, wir freuen uns und beglückwünschen uns! DANKE, DANKE, DANKE für dieses so persönliche Coaching auf den letzten 15 Kilometern des Zürich-Marathons!

Im Ziel geht es dann sehr entspannt zu. Medaillen, Finisher-T-Shirt mit Anprobe, Essen, Trinken. Zürich ist eben anders.

Dann treffe ich im Ziel den blinden Henry Wonyoike mit seinem Guide wieder und sehe, dass der Guide gestern im meinem Hotel auch beim Frühstück war. Wir quatschen miteinander. Er beglückwünscht mich zu meiner neuen Bestzeit und erzählt, dass er 2:43:00 gelaufen ist. Wow, zwei Stunden schneller! Wir verabreden uns zum Run of Spirit in Berlin am Pfingstmontag, da laufen wir auch beide.

Zürich ist anders, in Berlin könnte frau nicht einfach mit der Elite nach einem Lauf plaudern.

Ich hole meinen Kleidersack ab, ziehe mein nasses T-Shirt um und schlendere ins Hotel und sehe noch den Schlussläufern und dem Besenwagen bei Kilometer 41 zu. Als ich wieder über die Bahnhofsstraße gehe, werden alle Hinterlassenschaften des Marathons schon beseitigt, direkt hinter den Schlussfahrzeugen. Auch unterwegs waren die Helfer*innen immer sofort dabei jeden Becher von der Straße zu lesen und jeden Müll, den Läufer*innen ja leider so hinterlassen. Zürich ist anders.

Schlussläufer mit Besenwagen – Foto: Dr. Erdmute Nieke

Dann heiße Dusche und Pause. Am Abend gehe ich ins Großmünster in einen sehr kleinen reformierten Gottesdienst und dann noch mal in die nette Spaghetti-Factory. Diesen tollen Tag lasse ich in einer Altstadtbar mit zwei guten Cocktails ausklingen.

Wieso war ich heute so schnell? Ein Prost auf die beiden Tempomacher – auf den Veranstalter des Zürich-Marathons – auf den Lauftreff Bernd Hübner mit den vielen Trainingsstunden und den guten Wünschen  – auf Petrus für das kalte Wetter – auf das Hotel mit gutem Frühstück, Dusche und Bett – auf meinen Arbeitgeber für einen Tag Freistellung – auf meinen Mann Thomas, der mir manchen Wintertrainingssonntag Versorgung in den Laufwald radelte und immer viel Geduld mit mir hat.

Der indische Barkeeper reist mich aus meinen Gedanken: „Heute war Marathon? Wie war es?“ Zürich ist eben anders.

Am Montag esse ich mich noch durch (fast) alle Züricher Chocolaterien. Die verbrannten Kalorien werden mit feinen handgemachten Schokoladenstückchen wieder aufgefüllt.

Am Flughafen wird mein Kleidersack mit den Marathonpräsenten extra auseinander gepackt von einem Sicherheitsbeamten: „Ach, gestern war Marathon? Bei dem Wetter? – Glückwunsch und guten Flug!“

Zürich ist eben anders, doch auch schön.

Dr. Erdmute Nieke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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