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11
2018

Der 17. BERLIN-MARATHON am 30. September 1990 - der "Vereinigungsmarathon" - durchläuft das Brandenburger Tor - ohne die Quadriga! Foto: Sportmuseum Berlin - Marathoneum

Horst Milde – „Haus bauen, Baum pflanzen, Marathon laufen“ – Interview in „Leichtathletik“

By GRR 0

Der Mann, der Berlin zur Marathon-Metropole machte, feierte am 24. Oktober seinen 80. Geburtstag. Im Interview spricht Horst Milde über das Berliner Erfolgsmodell und verrät, was er sich für die Zukunft des deutschen Marathons wünscht.

Horst Milde, wie beurteilen Sie die Entwicklung des deutschen Marathons?

Etwas zwiespältig. Der Berlin-Marathon und andere große Veranstaltungen wachsen. Kleinere Läufe bangen um ihre Teilnehmerzahlen, obwohl die Kollegen auf dem Land genauso viel Arbeit reinstecken. Die versuchen dann durch den Halbmarathon oder die Staffeln die Teilnehmerzahl wieder voranzubringen. Die Euphorie für den Marathonlauf, die Jahrzehnte angehalten hat, hat sich abgeflacht. Und die Menschen stecken viel weniger Zeit in das Training. Wenn wir zurückdenken, da hatten wir Zeiten mit 1.000 Läufern unter drei Stunden. Jetzt fehlt es an der Spitze im Vergleich zu anderen Ländern.

Was könnte man denn in Ihren Augen ändern, um das Ganze für die Läufer wieder interessanter zu machen?

Ich glaube, ein Rezept für Wachstum gibt es nicht. Das sind einfach Intervalle, mit denen man sich abgeben muss. Für den Marathonlauf muss man ‚infiziert‘ sein und auch entsprechend daraufhin trainieren. Man kann es nicht verordnen. Zunächst einmal muss man als Veranstalter aber einen guten Lauf anbieten. Also, wie hier in Berlin, ein attraktives Umfeld haben und wahrscheinlich auch eine Strecke, die den Leuten nicht allzu viel abverlangt. Außerdem laufen die Deutschen gerne international, suchen sich die Rosinen aus. Sie laufen da, wo sie meinen, dass sie etwas erleben können. Der Drang zum New York City Marathon ist zum Beispiel immer groß.

 

Horst Milde – Photo: Victah Sailer

Was sind denn die größten Bausteine des Berliner Erfolgsmodells?

Für mich war von Anfang an wichtig, die Sympathie der Berliner Bevölkerung zu haben. Wir legen schließlich eine Millionenstadt und dazu noch die Hauptstadt einfach lahm. Wir wollten unsere Veranstaltung von Anfang an öffnen und Leute zulassen, die nicht in Vereinen sind. Vor 55 Jahren bei unserem ersten Crosslauf und vor 45 Jahren beim ersten Marathon, haben wir die normalen Bewohner Berlins eingeladen mitzumachen. Heute sind beim Marathon 45.000 Mann am Start, aber es rennen auch 10.000 Jugendliche durch das Brandenburger Tor. Erst wurde ich in den Schulen natürlich verdammt von den Lehrern, weil sie einen Tag länger arbeiten müssen – am Sonnabend oder am Sonntag. Und jetzt wird das extra trainiert, wochenlang, monatelang. Ich habe mal heimlich an der Schule meiner Enkel das Training mitgemacht und bin dann mit den Jungs auch mit zum Start gefahren. Das war ein Erlebnis besonderer Art.

Jeder Erwachsene sollte mal vor Ort erleben, welche Begeisterung da herrscht. Dann haben die obendrein auch noch gewonnen. Ich habe am Ziel gestanden, und wenn man sieht, mit welcher Hingabe die Kinder und Jugendlichen rennen, da kriegt man das große Heulen. Bloß: Die müssen in der Leichtathletik gehalten werden. Und das ist die Krux, dass das durch die Vereine leider nicht klappt. Ich sehe das auch an einem Enkel: Statt eines Läufers ist er plötzlich ein begeisterter und erfolgreicher Turner geworden. Das liegt an dem Mann, der ihn trainiert. Wir müssen gute Übungsleiter haben, dann brauchen wir uns um die Leichtathletik und den Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Aber das ist eine Lebensaufgabe, das kann man nicht erzwingen.

Welche Rolle spielt darüber hinaus die Jagd nach der schnellsten Zeit? Berlin hat ja zum Beispiel eine sehr schnelle Strecke.

Es ist nicht immer ausschlaggebend, riesig gute Zeiten zu laufen. Es geht auch um den Mythos. Das sehe ich zum Beispiel in Athen, wo ich seit 12 Jahren auch beteiligt bin. Dort kann man sich heute vor Läufern nicht retten, obwohl man in Athen keine guten Zeiten laufen kann, weil die Strecke viel zu schwierig ist. Da ist es dann der Mythos, einmal in der Stadt, wo eigentlich das Wort Marathon herkommt, zu laufen. Und so wie man früher gesagt hat, dass man ein Haus bauen und einen Baum pflanzen müsse, würde man heute sagen: Du musst einen Marathon gelaufen sein. Weil Marathon bedeutet, die Schwierigkeiten, die der Körper erleidet, zu überwinden. Es ist der normale menschliche Drang, das zu überwinden. Das geht jetzt vielleicht etwas tief ins Psychische.

Hätten Sie gerne mehr deutsche Topläufer in Berlin am Start?

Ich habe ja damals – als ich noch aktiv war – schon Prämien ausgeschüttet nur für deutsche Läufer, um die nach Berlin zu holen, damit sie sich mit anderen Nationalitäten vergleichen können. Ich glaube, man kann es nicht erzwingen, und die Deutschen sind nicht so hungrig, wie es die Kenianer sind. Aber jeder deutsche Veranstalter würde sich alle zehn Finger danach lecken, wenn er deutsche Läufer hätte, die 2:10 und noch schneller rennen. Die deutschen Zuschauer interessieren sich für die „Local Heros“. Es ist eigentlich nicht zu verstehen, dass wir es nicht schaffen, solche Läufer und Zeiten hervorzubringen. Wahrscheinlich denken die Deutschen viel zu rational und sagen: Ich kann mein Leben nicht dem Laufen opfern, wenn ich nicht gleich 2:07 oder 2:08 renne. In Japan, wo man sich gerade auf die Olympischen Spiele vorbereitet, rennen die Läufer schon massenweise 2:08 und 2:07. Und unser Aushängeschild läuft eine 2:11 in Frankfurt (Arne Gabius, Anm. d. Red.). Dabei bereitet er sich wahrscheinlich genauso präzise vor wie jeder andere Topläufer. Aber bei den Deutschen klappt es leider nicht. Ich wünsche ihnen immer, dass wir mal wieder diese Zeiten erleben, in denen deutsche Läufer unter 2:11 gelaufen sind. Bei denen man natürlich nicht weiß, ob sie ihre Leistungen auf legale Weise erreicht haben.

Gab es spannende Persönlichkeiten, die Sie durch Ihre Organisationsarbeit kennengelernt haben?

Ich habe ja hier so drei, vier Bürgermeister hinter mir in Berlin. Ich habe es aber nur bei einem geschafft, dass er auch gelaufen ist. Das war Eberhard Diepgen. Zu meinem Geburtstag war auch Klaus Wowereit hier. Der hat immer gesagt, er werde nicht rennen, werde aber gerne einen Startschuss abgeben. Er stand immer hinter der Veranstaltung und hat sie unterstützt. Aber ein laufender Bürgermeister oder wie in Amerika laufende Präsidenten, das sind große Vorbilder. Weil sie gerade auf diese Weise die Bürger animieren, es selbst zu machen. Und dabei nicht große Reden halten, sondern den Gesundheitsgedanken herausstellen.

Welchen Stellenwert hat für Sie dieser Gesundheitsgedanke?

Der Gesundheitsgedanke ist heute wahrscheinlich einer der Gründe, warum überhaupt ein großer Teil der Bevölkerung läuft. Und wenn die Gesellschaft gesundheitsbewusst leben will, dann muss sie Sport treiben. Ich konnte meinen 80. Geburtstag auch feiern, weil ich bis heute laufe und Rad fahre und damit auch in der Familie vorbildhaft agiere. Die Eltern sind die wichtigsten Protagonisten für das gesunde Leben eines Kindes, wenn sie eben Sport treiben. Dann haben wir später vielleicht nicht unbedingt Weltrekordler, aber ein Volk, das gesund ist. Das ist schon fast eine pastorale Aussage hier.

Zum Abschluss: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, wohin würden Sie sich den deutschen Marathon wünschen im Lauf der nächsten zehn Jahren?

Erst einmal wünsche ich meinen mitorganisierenden Kollegen, dass sie sich nicht davon abschrecken lassen, dass es mit Arbeit verbunden ist, eine Veranstaltung zu pflegen. Dass sie nicht aufgeben. Eine Entwicklung vollzieht sich immer in Zyklen. Es geht rauf und runter, und dann muss man trotzdem dranbleiben. Man kann nicht jede Stadt oder jeden Lauf mit Berlin vergleichen. Diesen Erfolg hat uns hier in Berlin auch keiner in die Wiege gelegt. Man kann Veranstaltungen auf dem Land oder auf dem Dorf in den Bergen genauso erfolgreich machen wie die Berliner. Die Relationen müssen da stimmen. Man kann nicht 44.000 durch das Gebirge laufen lassen.
Wenn jeder das Beste in seinem Bereich macht, dann wird sich der Laufsport, der sich auch ständig ändert, weiterentwickeln. Erfolg heißt ja auch Bewegung.

Interview: Ralf Kerkeling in „Leichtathletik“ – Nr. 45/46 vom 7. November 2018

Die Geschichte des BERLIN-MARATHON:
Video: Zeitzeuge „Horst MILDE – Berlin“ – Produktion: Helmut Winter
https://www.youtube.com/watch?v=sEGve18Drf8

author: GRR