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19
09
2018

Marathonspitze mit v.l. Dickson Kurui, Edwin Kosgei und Sigay Azew Tola - Foto: Wilfried Raatz - wus media

EAM Kassel Marathon 2018: Begeisterung im Nordhessischen – Wilfried Raatz berichtet

By GRR 0

Auch in Kassel purzelt ein Rekord: Edwin Kosgei läuft im Schatten des neuen Fabelweltrekords in Berlin Kursrekord – Mit Sandra, Susanne und Jessica wissen auch drei deutsche Läuferinnen auf sich aufmerksam zu machen

Auch wenn die (zugegeben wenigen) eingefleischten Fachleute mit einem Auge nach Berlin zur Weltrekordhatz des Eliud Kipchoge und dem überaus starken Auftritt der drei Marathonladies Gladys Cherono, Ruti Aga und Tirunesh Dibaba mit Endzeiten unter 2:19 Stunden blickten, zwei Etagen tiefer gab es beim 12. EAM Kassel Marathon kleine, aber feine Leistungen, die nicht minder kräftig gefeiert werden durften.

Schließlich sind es dort Weltmaßstäbe, nach denen eine gigantisch aufwändig organisierte Veranstaltung organisiert werden muss. Im Nordhessischen hat sich im Schatten der nationalen Großen nach Berlin wie Hamburg, Frankfurt, Köln, München oder Düsseldorf ein Laufevent gemausert, für das vorrangig ein Winfried Aufenanger steht, der nicht nur „Gott und die Welt“ kennt, sondern auch das gewisse Händchen für feine Leistungen sportlich wie organisatorisch hat.

Mit 8500 Meldungen weiß man in Kassel einen stetigen Zuspruch, die Wahl auf einen Herbsttermin ist trotz gewisser Risiken kein schlechter. Aber gibt es bessere? Sicherlich kaum, denn es kommt auf das Strickmuster an, das mit viel Liebe im Detail zusammengefügt und zelebriert wird.

Mit dem Einzug ins Kasseler Auestadion, eine der Topadressen in Sachen (Stadion-)Leichtathletik-Meisterschaften, ist ein Schachzug gelungen, der praktisch mit nichts aufzuwerten ist. Die Stimmung im weiten Stadionrund ist nämlich erste Klasse, die Tribüne auf der Zielgeraden samstags bei über 3500 Mini-Marathonläufern und sonntags bei den Einläufen der Halbmarathon- und Marathonläufern nahezu vollbesetzt (!), HR1 bündelt zudem im Nordhessischen alle Kräfte und schickt mit Kai Völker einen Topmoderator in den Ring…

Titelsponsor EAM nennt keineswegs mit Übertreibung den Kassel-Marathon als ein „Kunstwerk aus Sport, Kultur und Sozial(engagement)“, das ebenso in hohem Maße Energien freisetzt wie das Unternehmen selbst, das als Energielieferant in der Mitte Deutschlands seit über 80 Jahren unzählige Haushalte versorgt.

„Es war ein schöner Ausflug nach Kassel“, meint Tobias Schreindl, der seit einigen Jahren zur erweiterten Langstreckenspitze in Deutschland zählt und dabei, nach den Vorstellungen seines Trainers Günter Zahn, sowohl im Cross, als auch auf der Bahn und vorrangig auf der Straße unterwegs ist. Dem deutschen Marathonmeister 2014 und München-Marathonsieger 2015 gefiel natürlich der frühe Herbsttermin und damit der Trip von Passau nach Kassel, zumal seine Ehefrau Susanne den Halbmarathon als Generalprobe für ihre Marathondebüt in München nutzen konnte.

Unter dem Strich durfte das Marathon-Ehepaar überaus zufrieden sein, als bester Deutscher im Marathonfeld gab es trotz nicht unbedingt zufriedenstellender Endzeit von 2:24:20 Stunden und Rang vier ein „nationales Bonbon“, Susanne steigerte als Zweite ihre Halbmarathonbestzeit um gleich zwei Minuten auf 1:17:31 – und Coach Günter Zahn frohlockte: „Damit kann sie eine 2:45 in München laufen….“ Und Susanne Schreindl war natürlich mehr als zufrieden mit dem Erreichten: „Klar, es ist etwas schade, dass ich so knapp am Sieg vorbeigelaufen bin, aber gegen die wie entfesselt nach 20 km losstürmende Sandra hatte ich keine Chance. Mit der Zeit bin ich natürlich absolut zufrieden!“

Der Überflieger der Saison hinter den Amrheins und Co. heißt Sandra Morchner und hat sich katapultmässig in den Vordergrund geschoben. Die 47jährige Bürokauffrau aus Wellingstedt auf Sylt läuft seit fünf Jahren und steigert sich, seit Winfried Aufenanger das Trainingsheft in die Hand genommen hat, von Rennen zu Rennen.

In Hannover löschte sie mit 1:18:28 Stunden den deutschen W45-Rekord von Petra Maak aus, in Düsseldorf wurde sie überraschend DM-Marathonvierte in ebenso W45-Rekord von 2:46:54 – und steigerte nun beim Heimspiel ihren gerade einmal fünf Monate alten Rekord auf 1:17:12 Stunden. „Diese Zeit kommt für mich absolut überraschend“, gesteht der für den PSV Grün-Weiß Kassel laufende Mastersstar, „ich bin einfach meinen Stiefel heruntergelaufen!“

Als bei km 20 PSV-Betreuer Udo Engelbrecht das Kommando „jetzt musst du los!“ geschrien hatte, gab es für Sandra Morchner kein Halten mehr. „Diese Rekorde konnte ich mir vor einem Jahr nicht vorstellen!“ Einen weiteren Marathon hat das auf Sylt geborene „Nordlicht“ nicht, nach einem weiteren Halbmarathon beim „3 Länder-Marathon am Bodensee“ geht es zum Relaxen nach Lindenberg ins Allgäu.

Das zweite überzeugend im Nordhessischen aufgetretene „Nordlicht“ heißt Jessica Ehlers – und lebt in Kiel, wo sie Griechisch und Latein für das Höhere Lehramt studiert. Und läuft, was das Zeug hält. Im Frühjahr war sie beim Hamburg-Marathon mit 2:46:29 beste deutsche Läuferin, jetzt sprang sie als Dritte beim Kassel-Marathon auf 2:42:41 Stunden. Und begann dabei derart furios, dass sich selbst die favorisierten Afrikanerinnen um Sheila Kiplagat, Prisca Kiprono, Ethaga Bontu Belkele und Brendah Kebeya ein kleines Stück dahinter einsortierten.

Auch wenn sie nach einer 1:19er Durchgangszeit bei Streckenhälfte im Schlussteil deutlich Tribut zollen musste, die neue Bestzeit steht! „Ich wollte auf jeden Fall unter 2:45 bleiben“, sagte sie im Ziel zum ursprünglichen Plan. Vor Wochenfrist hatte sie übrigens bei „Kiel.läuft“ mit 1:16:28 im „Vorbeigehen“ noch eine Halbmarathon-Bestzeit erzielt.

Die Marathon-Chronologie der Spitze liest sich so: Aus der starken Dreiergruppe mit dem Kassel-Marathonsieger 2016 Edwin Kosgei, dem Bonn-Marathonsieger Dickson Kirui und dem überraschend stark mithaltenden Äthiopier Sisay Azew Tola fiel zunächst Kirui nach 33 km zurück – und das Tempo unvermindert hoch in Richtung Streckenrekord blieb. Nach 37 km war allerdings auch im welligen Schlussteil (Sandra Morchner sprach sogar von den „Kasseler Bergen“) die Gegenwehr von Tola erlahmt – und Edwin Kosgei zog unvermindert mit hoher Schlagzahl in Richtung Auestadion durch.

Nach 2:12:52 Stunden war es endlich Gewissheit, der von Joel Chepkonol seit 2010 mit 2:12:54 gehaltene Rekord ist Geschichte! „Am Schluss war es für mich schon sehr hart. Ich habe die letzten 10 km immer wieder versucht, auf das Tempo zu drücken. Und das ist mir gelungen. Der Äthiopier war heute wirklich stark!“ Bravourös schlug sich Sisay Azew Tola, der mit 2:15:00 seine Bestzeit um gleich drei Minuten steigern konnte. Dann erst Dickson Kurui (2:16:36).

Bei den Frauen setzte sich mit Brendah Kebeya in 2:36:44 Stunden eine „Fast-Deutsche“ durch. Die 26jährige Äthiopierin lebt seit 2016 in Forchheim, startet für die LG Bamberg und ist mit Christian Bareiss verheiratet. „Ich hoffe, dass ich in Kürze meinen deutschen Pass bekommen kann“, erklärt die Siegerin, die derzeit eine Ausbildung als Masseurin absolviert und fleißig deutsch lernt. Das Kapitel Marathon möchte Brendah allerdings in diesem Jahr noch durch eine Nuance verlängern, sie liebt mit einem Start beim Frankfurt-Marathon. Hinter der Äthiopierin Ethaga Bontu Bekele (2:37:51) folgte als Dritte dann bereits Jessica Ehlers, gefolgt von Sheila Kiplagat (2:48:57) und Prisca Kiprono (2:50:06), die kurioserweise hinter sieben Männern die Plätze 8 bis 12 der Gesamtwertung einnahmen.

Bleibt noch ein Blick auf den Halbmarathon der Männer. Früh musste sich mit mit dem DM-Marathon-Sechsten Jens Nerkamp einer der Favoriten aus der vierköpfigen Spitze verabschieden. „Nach meinem Marathondebüt in Düsseldorf bin ich in dieser Saison nicht mehr richtig in die Gänge gekommen, sodass auch meine Planung mit einer kleinen Bahnsaison ins Wasser fallen musste. Mir fällt es schwer, Tempoläufe zu machen, vielleicht bekomme ich aber noch die Kurve zu einem Marathonlauf zum Jahresende“, zeigte sich der Kasseler Läufer etwas ratlos.

Als Vierter des Gesamteinlaufes (1:08:47) musste er zudem seinem Vereinskollegen Ybekal Daniel Berye den Vortritt lassen, der mit 1:08:05 Stunden bei den zugleich ausgetragenen Hessenmeisterschaften Landesmeister wurde. An der Spitze zeigte einmal mehr der eigentliche Gehspezialist Karl Junghannß seine läuferische Klasse, in 1:05:29 Stunden holte er sich den Tagessieg vor dem Troisdorfer Christian Schreiner (1:06:10).

Ein Laufass ging im Trubel der Ereignisse weitgehend unter. In der Rehamed Wilhelmshöhe-Staffel stand mit Laura Hottenrott sogar eine EM-Starterin, die allerdings wegen starker Seitenstiche frühzeitig den Marathonkurs verlassen musste. Inzwischen hat sie allerdings wieder Lauflust, ihre Masterarbeit abgegeben, eine neue Wohnung in Bochum bezogen – und möchte nun „die Saison 2019 gezielt angehen“.

Beim Kassel-Marathon ist die Spitze sicherlich sehr willkommen, aber zugleich spielt der Freizeit- und Breitensport eine wichtige Rolle. Deshalb sind die Deutschen Ökumenischen Kirchen-Meisterschaften ebenso eingebunden wie auch der Raiffeisen-Azubi-Cup oder die Hessischen vhs-meisterschaften.

Im Vorprogramm stehen die jungen Lauftalente im Mittelpunkt, die Begeisterung kennt dabei sowohl auf als auch neben der Strecke keine Grenzen. Charity-Projekte wie die „German Doctors“, „Herzstück Familie“ (Motto: „Wie langsam Du auch läufst – Du schlägst alle, die zuhause bleiben“) und die Aktion „Gebrauchte Laufschuhe für Kenia“ des einstigen Langstreckenläufers Bernd Breitmaier im Projekt „Complete Sports“ runden einen sympathischen Marathon ab, der zudem noch Raum findet, um Sonderprojekten wie „Mit dem Rad zum Marathon“ und Fahrrad-Parkplätzen eine Plattform zu geben.   

Wilfried Raatz

author: GRR