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21
08
2018

Das Olympiastadion voll mit 60.500 Zuschauern - Foto: Horst Milde

„Schön war’s“ – Europameisterschaften der Leichtathletik BERLIN vom 7. – 12. August 2018 im Olympiastadion – Ein Kommentar von Horst Milde

By GRR 0

Die Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ erschien am Montag (13. August 2018) mit dem Schlagwort „Schön war’s“ auf seiner Titelseite. Das war, wer den „Tagesspiegel“ kennt, ein Lob in den höchsten Tönen.

Nach sechs Tagen Wettkampfdramatik der europäischen Leichtathletik-Elite bei weit über 30 Grad im Berliner Olympiastadion und auf der „Europäischen Meile“ auf dem Breitscheidplatz, direkt neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche gelegen, war die Welt der Leichtathletik wahrlich umgekrempelt, wiederbelebt und (endlich) wieder zum Thema in der Öffentlichkeit und den Medien geworden.

Die Leichtathletik ist bei der Bevölkerung wieder auferstanden aus den Tiefen des Vergessens. Über 60.000 Zuschauer allein am Sonnabend zeigten, dass die Mutter aller Sportarten die Massen wieder faszinieren kann.

Eigentlich war Berlin durch die Schulferien und durch die permanente Hitze bei über 35 Grad leer gefegt, überall freie Parkplätze und leere Straßen sind ein Beleg dafür, um so mehr erstaunen die hohen Zuschauerzahlen im Olympiastadion und auf der „Europäischen Meile“. Das hatte plötzlich den völlig unerwarteten Nebeneffekt, dass sich die Diskussion um den Umbau des Olympiastadions zum reinen Fußballstadion um 180 Grad drehte.

Der norwegische Präsident von European Athletics Svein Arne Hansen bekannte: „Wir sind alle müde, auch wenn es schade ist, dass es vorbei ist.“ Das stimmungsvolle Stadion schien ihn so zu beflügeln, dass man ihn ständig auf den Stufen des Stadions herumtigern sah.

Insgesamt 360.000 Zuschauer im Stadion plus 150.000 Zuschauer am Breitscheidplatz, so Organisationschef Frank Kowalski in seiner Bilanz, seien Zahlen, die kaum jemand für möglich gehalten hatte. Auch Kowalski war ständig im Stadion unterwegs, als wollte er die unglaubliche Atmosphäre und das Fluidum des vollen Stadions genießen und aufsaugen.

Vollbesetzte Ränge im Olympiastadion – Foto: Horst Milde

Die Siegerehrungen auf dem Breitscheidplatz hatten ihre ureigene Atmosphäre, einige wenig wurden auch auf den Marathontorstufen unterhalb der Olympiaflamme im Stadion durchgeführt. Sie wurden wirkungsvoll illuminiert und mit eigens komponierter Siegerhymne von 3 Trompetern zelebriert. Die letzten Ehrungen fanden in der urigen „Station“ am Gleisdreieck innerhalb der Abschlussfeier statt, die letzten Besucher dieser Feier sollen erst morgens um 7.00 Uhr gegangen sein.

Schon am Eröffnungstag der EM Berlin 2018 waren die 3000 Sitzplätze der GENERALI ARENA am Europacenter und der Gedächtnis-Kirche die Attraktion in der Berliner City-West, so begehrt, dass man keinen Zutritt mehr bekam, aber von außen zusehen konnte. Das umfangreiche Rahmenprogramm dauerte bis nach Mitternacht.

Vollbesetzt waren die Ränge bei den Siegerehrungen beim MARATHON der Männer und Frauen direkt nach dem Zieleinlauf zur Mittagsstunde. Die vier Siegerehrungen (2 Einzel – und 2 Mannschaftswertungen) wurden dabei vorgenommen von Uta Pippig (Frauen), Horst Milde (Männer), Frauen Mannschaft (Kathrin Dörre-Heinig) und Männer Mannschaft (Stefano Baldini – Olympiasieger Marathon Athen 2004).

Den Ansturm der Zuschauer in der Generali Arena mitten in der City hatte man in dieser Menge nicht erwartet. Neben dem Unterhaltungsprogramm und den Siegerehrungen wurden auch hier die Wettkämpfe aus dem Olympiastadion auf Giant-Screens übertragen. Auch außerhalb der Arena standen tausende Zuschauer und konnten das Programm verfolgen.

3.000 Helfer aus verschiedenen Ländern in blauen Jacken halfen der EM bei der gesamten Organisation. Sie halfen an allen „Fronten“ und hielten die Organisation am Laufen. Sie waren sehr höflich, sehr hilfsbereit, zuvorkommend und standen für jegliche Hilfestellung bereit. Interessant für die Zuschauer im Stadion war der Ein- und Ausmarsch der Kampfrichter im korrekten Gänsemarsch vor ihrem jeweiligen Einsatz bei den Geräten. Auch der Auf- und Abbau der Hürden war zuvor offenbar kräftig geübt worden, damit der Ablauf ein harmonisches Bild abgab. Eine prominente Kampfrichterin war die vierfache Europameisterin im Weitsprung Heike Drechsler, die ihren Einsatz allerdings beim Harken in der Weitsprunggrube hatte. Aber auch sie konnte nicht verhindern, dass hier und da die Technik nicht mitspielte.

Der vielfache Einsatz der Helfer führte auch zu einer Kolumne im Tagesspiegel. Über Randgeschichten. So standen am Ausgang des Bahnhofs „Olympiastadion“ zwei Helfer, die auf selbstgeschriebenen Pappschildern mit Pfeil und der Aufschrift „Stadion“ und „Stadium“ die Besucher/Fahrgäste, auf das in 200 Metern entfernte, eigentlich nicht zu übersehende Olympiastadion, hinwiesen. Und das bis zum letzten Tag!

Die Helfer mit ihren Wegweisern. Foto: Horst Milde

In der deutschen Mannschaft gab es hervorragende Leistungen, als auch große Enttäuschungen. Im Laufbereich überragte natürlich Gesa Felicitas Krause mit ihrem Titel über 3000m Hindernis, aber auch die Talente Konstanze Klosterhalfen und Alina Reh wussten mit ihren starken Leistungen über 5.000 m und 10.000 m als Fünfte bzw. Vierte zu begeistern.

Allerdings gab es auch reichlich Schatten beim eher taktisch ungeschickten Agieren der Mittelstreckler oder der frühen Kapitulation von Richard Ringer, der sogar im Vorfeld als einer der Favoriten gehandelt wurde.

Ein Highlight waren sicherlich die Geh- und Marathonwettbewerbe mit Start und Ziel an der Europäischen Meile. Die Teilnehmer waren begeistert über die vielen applaudierenden Zuschauer, die natürlich über die Jahre hinweg sensibilisiert waren durch den Berlin-Marathon und die Laufstrecke dicht bevölkerten.

Bei den Gehern passierte freilich Unvorhergesehenes: Wegen angeblich aus einem Gully austretenden Gas wurde der Start um 2 Stunden verschoben. Erst nach Einsatz und Überprüfung von der GASAG und Feuerwehr konnte der Wettbewerb gestartet werden. Der Grund: Durch die starke Hitze war der Wasserdurchlauf zu gering, um die Gerüche zu vertreiben – für Lauforganisatoren ein neuer Knackpunkt, der künftig auch zu beachten ist.

Die Marathonläufer hatten 4 Runden zu laufen mit einem Ausgleichsstück auf der Straße des 17. Juni. Von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor wurden auch die Highlights des Berlin-Marathon angelaufen. Eine Neuerung gab es bei dieser EM, die vorteilhaft für die Zuschauer und die Organisatoren war: Die Frauen starteten um 9.00 Uhr, die Männer um 10.10 Uhr, sodass es zwei Wettbewerbe gleichzeitig auf der Strecke gab. Allerdings: Gegen 12.00 herrschten über 30 Grad auf der Strecke! Man hätte hier über eine Anpassung der Startzeiten nachdenken müssen. Es geht hier letztlich um den Schutz der Teilnehmer und nicht um Wünsche und Vorstellungen des Fernsehens! Diese Diskussion wird gewiss auch im Vorfeld der Olympischen Spiele in Tokio 2020 zu führen sein, wenn die Temperaturen noch deutlich höher liegen werden und somit die Teilnehmer (und Zuschauer) in lebensbedrohliche Situationen bringen können (siehe auch die entsprechenden Beiträge auf GRR aus Japan).

Zum Abschneiden der Deutschen: Der deutsche Meister Tom Gröschel zeigte als Elfter in 2:15:48 eine feine Leistung. Leider musste Philipp Pflieger das Rennen aufgeben, sodass die deutsche Mannschaft beim „Heimspiel“ nur Siebter wurde.

Bei den Frauen konnte Katharina Heinig als Sechzehnte die Erwartungen nicht erfüllen, obwohl sie sich zufrieden zeigte. Eine starke Leistung gelang hingegen Fabienne Amrhein als Elfte. Durch den frühen Ausfall von Laura Hottenrott platzte die deutsche Frauenmannschaft, die ohnehin schon geschwächt ins Rennen gegangen war.

„Die EM 2018 hat eindrucksvoll gezeigt, wie Leichtathletik wirken kann, welche Kraftfelder zwischen Sportlern und Publikum entstehen können. Praktisch kein Athlet vergaß in diesen Tagen, sich bei den Zuschauern für die phantastische Unterstützung zu bedanken. “Gänsehaut am ganzen Körper“ und „Tränen in den Augen“ waren zwei Beschreibungen, die dutzendfach gegeben wurden, wenn die Sportler über ihr Gefühlsleben sprachen – und zwar über ihr Empfinden schon vor den Wettkämpfen mit ungewissem Ausgang und nicht erst im Erfolgsfall danach“, so die FAZ in ihrem Fazit. Selbst die BILD-Zeitung brach in den Jubel ein: „Die vergangene EM hat Zweiflern gezeigt: Leichtathletik muss uns erhalten bleiben!“ Und brach zugleich eine Lanze für multifunktionale Arenen, in denen auch die Leichtathletik ihre Daseinsberechtigung hat!

Siegerehrung auf den Treppen über dem Marathontor – und Helferehrung – Foto: Horst Milde

Die Euphorie über das Sommermärchen der Leichtathletik mit den Erfolgen und der wieder erwachten Anerkennung der Öffentlichkeit und der Medien ist natürlich auch eine Verpflichtung für die Zukunft, die dem DLV obliegt.

Die FAZ schreibt: „Ohne funktionierende Struktur jenseits großer Titelkämpfe und ohne kontinuierliche Berichterstattung wird die Leichtathletik wieder aus dem Bewusstsein verschwinden“. Die Vereine müssen nun allerdings die begeisterten Kinder und Jugendliche, die in großer Anzahl im Stadion oder vor dem Fernsehen die Wettkämpfe sahen, auffangen und betreuen können. Erinnern wir uns: Leider wurde es versäumt, nach der erfolgreichen WM 2009 in Berlin, die Begeisterung umzumünzen. Sehr rasch nämlich war die Begeisterung verflogen und aus dem Erfolg nichts umgesetzt! Das darf nicht noch einmal passieren!

Das Schlagwort „Die Leichtathletik zu den Menschen bringen“ ist so lange eine Worthülse, als keine Taten folgen. Die Laufszene hat es schon lange verstanden, einen Teil der Leichtathletik zumindest in die Innenstädte zu bringen.  

Allein zehn große Strassenläufe von 10 km bis zum Marathon bringen in Berlin Zehntausende auf die Straßen und (zum Verdruss der Autofahrer) den Verkehr zum Erliegen. Der Laufsport, zumindest in Berlin, hat durch seine vielen Aktivitäten auf den Straßen die Sympathie der Bevölkerung für die Sportart Leichtathletik erworben, die sich dann auch  in der Zuschauerzahl im Olympiastadion niederschlug.

Was den „stadionfernen Veranstaltungen“ (im Grunde eine furchtbare Bezeichnung!)  bei der Bevölkerung gelingt, nämlich Begeisterung zu wecken und zum Mitmachen zu animieren, sollte sich nun nach der motivierenden EM auch im allgemeinen Vereinssport nachhaltig niederschlagen.

Die EM Berlin 2018 hat gezeigt, dass die Leichtathletik lebt, sie muss allerdings am Leben erhalten bleiben.

Horst Milde

PS: “ Leichtathletik“ schreibt: Unfassbar! 6 x GOLD, 7 x SILBER, 6 x BRONZE

 

 

author: GRR