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30 Jahre GutsMuths-Rennsteiglauf 1990 – 2020 – Dr. Hans-Georg Kremer
30 Jahre GutsMuths-Rennsteiglauf 1990 – 2020 –
Zur Gründungsgeschichte
Der GutsMuths-Rennsteiglauf[1] hat sich nach der Wende 1989/90 zu einer der bedeutendsten Lauf-und Wanderveranstaltungen in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt.
Nach einem gewaltigen Einbruch der Teilnehmerzahlen im Jahre 1991, als nur noch 4539 (1989 – 7786) Läuferinnen und Läufer im Zielort Schmiedefeld ankamen, konnten die Organisatoren in den folgenden Jahren einen kontinuierlichen Anstieg verzeichnen.
Die Vorzeichen der Wende
Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen kann man als Historiker heute erste Anzeichen der bevorstehenden großen gesellschaftlichen Umbrüche in der DDR schon 1988 erkennen, so auch im Sport.
Die Vorgeschichte
Der GutsMuths-Rennsteiglauf, der zwischen 1971 und 1975 auf Initiative junger Orientierungsläufer aus Weimar und Jena entstanden war, hatte von Anfang an im „Sportsystem“ der DDR eine Sonderstellung.
Im Prinzip außerhalb der Wettkampfstrukturen der Sportfachverbände entstanden, waren die Teilnehmer und Teilnehmerinnen nach heutigem Sprachgebrauch Breitensportler (damals Freizeit- und Erholungssportler), die sich einer sportlichen Belastung mit fast leistungssportlichen Anforderungen stellten. 1975, als erstmals durch eine öffentliche Ausschreibung über tausend Anmeldungen bei der Hochschulsportgemeinschaft (HSG) der Universität eingingen, wurde der GutsMuths-Rennsteiglauf unter dem Dach des Studentensports als Leistungswanderung legalisiert.
Originaldokument zur Anmeldung des „Rennsteiglaufs“ beim Präsidium für Hoch- und Fachschulsport der DDR[2]
Es zeigte sich allerdings durch die Leistungsbreite von Spitzensportlern der Straßenlaufszene der DDR bis zu volkssportlichen Wanderern ab, dass es sinnvoll wäre, einen sportfachlichen Überbau zu haben. Der für das Laufen zuständige Deutsche Verband Leichtathletik (DVfL) der DDR lehnte aber eine Übernahme ab, genauso wie der deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR. Die Organisatoren, zu denen neben der HSG Uni Jena anfangs 11 Sportgemeinschaften entlang des Rennsteigs gehörten, bildeten daraufhin eine Interessengemeinschaft GutsMuths-Rennsteiglauf, nach dem Muster von kulturell interessierten Heimatfreunden o. ä. Vereinigungen im Kulturbund der DDR. Dies passte aber überhaupt nicht in die zentralisierten Sportstrukturen der DDR, sodass der DTSB-Bezirksvorstand Suhl zur Übernahme bereit war, der dann die bereits an der Organisation maßgeblich beteiligte Sportgemeinschaft (SG) Beerberg Goldlauter mit der Gesamtleitung beauftragte. Bedingung war, dass sich die Veranstaltung selbst finanzierte. Schon in dieser Gründungsphase stießen die Rennsteiglauforganisatoren mehrfach auf starke Widerstände bei der obersten Sportführung der DDR. Das betraf sowohl die damals ungewöhnlichen Streckenlängen, aber auch die ständig steigenden Teilnehmerzahlen. Der Wunsch, den Lauf international für Volkssportler aus den sozialistischen „Bruderländern“ zu öffnen, wurden ebenso strikt abgelehnt. Mindestens zwei Mal mischte sich Manfred Ewald, Präsident der DTSB und der Sportchef der DDR persönlich in die Belange des Laufs ein, zuletzt bei der Limitierung der Teilnehmerzahlen, die 8.000 nicht übersteigen sollten.
Altersstruktur der beiden Strecken (links 45km, rechts 75km) von 1979[3
Die Besonderheiten der Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes mit über 70% Absolventen von Hoch- und Fachschulen im Altersbereich von 30-50 Jahren bewirkte eine enge Vernetzung in Leitungen von Betrieben, Verwaltungen und Hochschulen, ja sogar in Parteien und Massenorganisationen, sodass der Rennsteiglauf ständig Unterstützung auf allen Ebenen bei der Vorbereitung und Durchführung fand. Zeitweilig lief sogar ein Mitglied des Zentralkomitees der SED und viele Betriebs- und sogar Kombinatsdirektoren mit, mit deren Hilfe so mancher Mangel bzw. Hindernis durch die DDR-Planwirtschaft, die die Organisation des Laufs tangierten, behoben werden konnte. Beispielsweise sind hier Druckgenehmigungen und Papierkontingente für Plakate, Urkunden und Ergebnishefte zu nennen, die über die SDAG Wismut und die Bezirksleitung der SED in Leipzig gesichert werden konnten.
Aber auch das umfangreiche Souvenirprogramm, welches wesentlich zur Finanzierung des Laufs beitrug, war nur durch die Vernetzung in der gesamten Republik möglich. Hier soll das Malimohandtuch genannt werden, auf dem die Rennsteiglaufstrecken aufgedruckt waren und das von einem Rennsteigläufer, der Direktor der entsprechenden Herstellerfirma war, außerhalb von Planzahlen produziert wurde. Der Verkaufsgewinn von über 1000 Stück half die Finanzierung der Organisationskosten zu sichern.
Zwei Malimo[4]-Handtücher (45 und 75 km) aus dem Rennsteiglaufarchiv Kremer (wird nachgereicht)
Vorzeichen der Wende
Die durch den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow eingeleiteten Versuche der Reformierung des Sozialismus in der UdSSR führten auch in der DDR zu umfangreichen Diskussionen, die zwar von der SED weitestgehend ignoriert wurden, die aber im Alltag zu kleinen Veränderungen führten. Im Sport kann man heute die „Entmachtung“ des allgewaltigen DTSB-Chefs Manfred Ewald durch Klaus Eichler als Versuch einer Änderung der Sportpolitik ansehen.
Eichler hatte seit 1962 eine Karriere bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bis zum Mitglied dessen Zentralrats hinter sich. Er war zeitweilig Generaldirektor des Jugendreisebüros und wurde vom letzten Generalsekretär der SED, Egon Krenz, der mit ihm im Zentralrat der FDJ zusammengearbeitet hatte, gefördert.
Klaus Eichler (3.v.r.) 1989 in Neuhaus bei der Einweihung eines Gedenksteins für J. C. F. GutsMuths.[5] (kommt noch)
Krenz sorgte auch dafür, dass Eichler den bis dahin sehr autoritär agierenden Sportchef Manfred Ewald 1988 ablöste. Von ihm sollten Reformideen im DTSB umgesetzt werden, was aber durch die politische Wende im November 1989 nicht mehr zum Tragen kam. Auf jeden Fall war Eichler auf Einladung des Organisationsbüros des Rennsteiglaufs zum Start nach Neuhaus gekommen, wo er vorher einen Gedenkstein für den Namenspatron GutsMuths eingeweiht hatte. Danach gab er den Startschuss und ging dann selber als Zuschauer auf die Strecke. Er soll sogar kurze Passagen mitgelaufen sein. Am Ende kündigte er an, dass er 1990 selber starten wolle, was aber nicht mehr zustande kam, da er im März 1990 abgewählt wurde und von Martin Kilian als letzten Präsidenten des DTSB abgelöst wurde.
Ein weiteres Anzeichen für die Veränderungen des sportpolitischen Umfeld des Rennsteiglaufs war, dass die von Manfred Ewald limitierte Teilnehmerzahl auf 8000 bewusst unterlaufen wurde, indem vom Organisationsbüro zusätzlich 1.000 Startkarten für Frauen ausgegeben wurden. Dazu kam die Aufnahme einer neuen Wanderstrecke über 32 Kilometer vom „Kleinen Inselberg“ nach Oberhof. Für beide Neuerungen gab es etwa gleichlautende Begründungen: Durch die Limitierung der Teilnehmerzahl auf 8.000 und die Vergabe der Startkarten über die Kreisvorstände des DTSB war es vor allem in den Südbezirken zu teilweise scharfen Kriterien gekommen, um teilnehmen zu dürfen. So wurde teilweise die Platzierung von Kreisranglistenläufen oder die Anzahl der Teilnahmen an diesen als Maßstab herangezogen. Dadurch hatten Wanderer so gut wie keine Chancen eine Karte zu bekommen. Bei den Frauen waren es teilweise nur ganz wenige, die sich dieser Vorauswahl stellten. Diese Einschränkung war nicht im Sinne der Gründungsidee des Rennsteiglaufs als offene Wander- und Laufveranstaltung, konnte aber erst 1988 durch die Ausgabe spezieller Startkarten für Frauen und 1989 durch die Einführung der Wanderstrecke im Sinne der Rennsteiglauforganisatoren etwas „bereinigt“ werden.
Wanderer 1989 kurz vor dem Start.[6]
BRD-Bürger beim Rennsteiglauf
Eine weitere Veränderung, die man heute als Vorzeichen für die politisch anstehenden Reformen in der DDR ansehen könnte, war die Zulassung von Läuferinnen und Läufern aus der BRD.
Ab März 1975 hatte der GutsMuths-Rennsteiglauf den Untertitel „DDR-offene Lauf- und Wanderveranstaltung“. Damit erfüllten die Organisatoren direkte Hinweise der DDR-Sportführung, die bei der Vorbereitung des 1975 und 1976 Laufs gegeben wurden. Damit war die Teilnahme von Ausländern, wozu nach DDR-Sprachgebrauch auch die Bürger der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gehörten, ausgeschlossen. Ob es 1975 ev. illegale Starts von „Wessis“ gab, ist nicht überliefert aber denkbar, da die Anmeldeformulare eine diesbezügliche Kontrolle nicht ermöglichten. In späteren Jahren wurden durch die Abfrage der Personenkennzahl, die jeder DDR-Bürger hatte, Starts von BRD-Bürgern nur unter falschem Namen möglich.
Offiziell hatte es für 1975 auch eine Teilnahme-Anfrage aus dem Ausland, der Schweiz gegeben. Im März, also zwei Monate vor dem Wettkampf, wurde der damalige Gesamtleiter des Rennsteiglaufs (Hans-Georg Kremer) zu seinem Chef, dem Direktor der Sektion Sportwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität bestellt, der ihm eröffnete, dass er nicht mit einer Laufgruppe zum „100km-Lauf“ in die Schweiz fahren dürfe und auch keine Schweizer Läufer am Rennsteiglauf teilnehmen dürften. Erst eine Woche später konnte er diesen dienstlichen Hinweis zuordnen, als er einen scheinbar ungeöffneten Brief aus der Schweiz erhielt, in dem Walter Tschiedel von der „Schweizerischen Veteranen Vereinigung“ Interesse an der Teilnahme am Rennsteiglauf bekundete und gleichzeitig eine Gruppe von Läufern aus Jena in die Schweiz zum 100km-Lauf nach Biel einlud.
Originalbrief aus der Schw
Walter Tschiedel zum 70. Geburtstag.[7]
Offensichtlich gab es schon zu diesem frühen Zeitpunkt, als noch niemand die weitere rasante Entwicklung des Rennsteiglaufs als „Massenlauf über eine Ultrastrecke“ absehen konnte, international Informationen über dieses Projekt.
Nach der erfolgreichen Durchführung des Rennsteiglaufs im Jahre 1975 mit über 1000 Anmeldungen, sorgten vor allem die Teilnehmer für eine weitere Propagierung außerhalb der DDR. So erschien im Januar 1976 in der Laufzeitschrift Spiridon ein umfangreicher Beitrag über den Rennsteiglauf unter der Überschrift: „Großereignis: 80 km – Rennsteig – Lauf 1975“, der vom Frauenarzt Dr. Wolfgang Klemm aus Leipzig verfasst wurde.
Anfang des 13seitigen Berichts von Wolfgang Klemm aus dem Jahre 1975 und sein Portraitfoto von 1998.[8]
Mehrfach in der Literatur beschrieben wurde die „illegale“ Teilnahme von Werner Sonntag aus Ostfildern, der den Rennsteiglauf sehr wohlwollend in der westdeutschen Läuferzeitschrift „Condition“ charakterisierte. Später nahm er diese Geschichte in eins seiner Bücher auf. Ihm hatte der Gesamtsieger des Rennsteiglaufs von 1976, Roland Winkler, zu einem „Start unter falschem Namen“ verholfen.
Werner Sonntag mit seinem Buch „Mehr als Marathon“.[9]
In Vorbereitung der 4. Auflage des Rennsteiglaufs gab es nochmals Versuche, den Lauf wenigstens für die CSSR zu öffnen, mit dem Hintergedanken, dass man dadurch im Austausch vielleicht an Startkarten für den sehr begehrten 50km-Skilanglauf von Liberec bekommen könne. So stand in der Konzeption für 1976 unter Teilnahmeberechtigt: „- Bürger der DDR mit spezieller sportärztlicher Untersuchung, – Bürger der CSSR, sofern es ein Fachverband in seinen Terminkalender aufnimmt.“
Da der DTSB aber einer internationalen Ausschreibung generell nicht zustimmte, wurde später lediglich die Ausnahme gemacht, dass Ausländer, die in der DDR eine Arbeitsgenehmigung hatten, starten durften. Von diesem Passus haben aber nur sehr wenige Sportler Gebrauch gemacht. Bekannt ist z. B. Nguyen Hong-Son aus Vietnam, der es sogar bis zur Beendigung seiner sportlichen Laufbahn auf 33 Rennsteiglaufteilnahmen brachte. Vladislav Lerch aus Olomouc (CSSR), der in den 1980er Jahren bei vielen Läufen in der DDR auftauchte, erschien ebenfalls in Ergebnislisten.
Vladislav Lerch hier als 2. beim Rennsteiglauf um 1982 auf der langen Strecke.[10]
Nguen Hong-Son beim Rennsteiglauf 2005.[11]
Die SED Bezirksleitung Suhl lädt Westdeutsche zum Rennsteiglauf ein
Bis zum Abtreten des DTSB- Präsident Manfred Ewald 1988 war konsequent die sportpolitische Linie durchgesetzt worden, dass der Rennsteiglauf für Bürger der BRD nicht geöffnet wurde. Dies führte zu einem Kuriosum. Die Bezirksorganisation Suhl der „Staatspartei“ Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) hatte eine Art Patenschaftsvertrag zu einer Unterorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in der BRD. Von dort wurde offensichtlich der Wunsch geäußert, mit einer kleinen Delegation am Rennsteiglauf teilnehmen zu dürfen. Das wurde von Suhl genehmigt. Ob es mit dem DTSB in Berlin abgesprochen war, ist zu bezweifeln, da die Teilnahme ganz konspirativ erfolgte. So mussten die BRD-Läufer unter erfundenen Namen von DDR-Bürgern starten, und waren angewiesen worden, sich nicht als BRD-Bürger erkennen zu geben. Wieviel DKP-Mitglieder diese Chance bekamen, ist nicht ganz geklärt. Es waren wohl maximal 10. Auf jeden Fall wurde das Inkognito im Juli 1988 gelüftet, als in der DKP-Zeitung „UZ“ zwei Artikel von Günter Herburger unter der Überschrift „Rennsteiglauf“ erschienen.
Günter Herburger, der 2018 verstarb, ist in der linken Literaturszene als Schriftsteller kein Unbekannter. Entsprechend schriftstellerisch waren auch seine beiden Artikel abgefasst, die von den Organisatoren des Laufs, die die Artikel im Herbst 1988 zur Kenntnis bekamen, nicht sehr positiv aufgenommen wurden. Hier soll nur die Einleitung des ersten Artikels wiedergegeben werden:
„Verseucht von Thüringer Fleischmahlzeiten, einer Eiweißschwemme langgliedriger Moleküle der DDR, die wir nie und nimmer zerschlagen könnten, waren wir, ein Freund, genannt der schnelle Außenseiter, entgeistert und ich, geübter, da ich die Gegend kannte, um drei Uhr früh in Suhl aufgestanden, hatten Tee getrunken, eine Scheibe Altbrot, Vitamintabletten und Aspirin gegen Muskelschmerzen gegessen und waren in einer Tschaika (Möwe), zusammen mit dem Genossen Lupe Battermilk, dessen Vorfahren, wie er rühmte, Miterfinder weißer Lasuren für Porzellan gewesen seien, durch Mainebel und Industriedörfer nach Eisenach gefahren.
Dort Start von 2700 Exorzisten auf der Hohen Wiese (gemeint ist die Hohe Sonne, H.K.), die sich sofort zu einem steilen Pfad namens Hochwaldgrotte verengte; wir kamen kaum durch, trippelten minutenlang auf der Stelle. Voraus stürmten die Kenner und Trainingshelden des schwierigsten Laufs der tüchtigen Republik.
Wir besaßen zwar Nummern, jedoch keine Kontrollkarten, denn niemand, weder aus dem östlichen noch westlichen Ausland, durfte aus Gründen überlasteter Organisation, auch wegen politischer Kohärenz, daran teilnehmen.
Es hatte einen langwierigen Kampf durch dies- und jenseitige Unterflurzentralkomitees gekostet, daß wir nun, wenigstens als Phantome, unterwegs waren, obwohl es seit Jahren immer wieder Eingeschlichene gab, die sich von Freunden, Verwandten in Turnvereinen der Deutschen Demokratischen Republik den Teilnehmernamen ausborgten. Einen, den wir kannten, ein Allgäuer der Hugenottenkleinstadt Memmingen, doch wir sahen ihn nicht, er war langsamer als wir, rannte zum dritten oder vierten Mal über den Kamm, der früher Rynnestig geheißen hatte, Händlerspfad, der bis nach Prag reichte.“ [12]
Die Stasi und der Rennsteiglauf
Inwieweit sich der DDR-Staatssicherheitsdienst für diese „West-Rennsteigläufer“ interessierte, ist bisher unbekannt. Es wurde auch noch kein „Vorgang“ Rennsteiglauf, d. h. kein zusammenhängender Aktenbestand, gefunden. Aus den wenigen bekannten „Stasi-Unterlagen“ zum Thema Rennsteiglauf, die in verschiedenen „Vorgängen“ archiviert sind, ist aber ersichtlich, dass ein Beobachtungsthema die illegale Teilnahme von „Wessis“ war. So gibt es aus dem Jahre 1987 zwei Stasibericht zum Thema Rennsteiglauf.
Bei einem Bericht ging es um einen BRD-Journalisten der Zeitung „Neue Presse Coburger“, der beim Rennsteiglauf Material sammelte und Fotos machte, um darüber einen Artikel zu schreiben.[13]
Im zweiten Bericht wurde ein DDR-Bürger aus Suhl beobachtet, der offensichtlich einen Bürger aus der BDR die Teilnahme am Rennsteiglauf ermöglichte. [14
Zu diesem Vorgang ist sogar ein Beleg der Stasi-Postkontrolle vorhanden.[15]
Von 1989 sind Stasi-Berichte über einen BRD Bürger aus München, in der BRD-Laufszene als Tarzan (Alfred Pohland) bekannt, weil er bei vielen Marathonläufen im Tarzankostüm lief. Er soll im Organisationsbüro persönlich vorgesprochen haben um eine Startkarte zu bekommen, was dort trotz des Angebots von „Westgeld“ abgelehnt wurde.[16]
Gleich mehrere „Stasi“-Offiziere waren 1989 auf „Wessis“ angesetzt worden, die erstmals ganz offiziell beim Rennsteiglauf starten durften. Bei der Erschließung von Material der „Stasiunterlagen-Behörde“ in Suhl kam ein Schriftstücke eines Oberst Wilke von der Hauptabteilung VI in Berlin, die u. a. für die Passkontrolleinheiten, Tourismus und Interhotels zuständig war, zum Thema Rennsteiglauf zu Tage. Er berichtete an einen Oberst Gerlach von der Hauptabteilung XX, die beauftragt war mit der Sicherung des Staatsapparates der DDR, der Kontrolle der Kirchen und des Kulturbereichs sowie mit der Bearbeitung des sogenannten Untergrunds. Wilke führte aus, dass vom Ministerium für Verkehrswesen und dem Rat des Bezirkes Suhl für 1989 geplant sei, mindestens 500 Rennsteiglaufstartkarten der „langen Strecke“ in die BRD, nach Ungarn und die CSSR zu verkaufen. 80 davon sollten über das Reisebüro der DDR mit Übernachtungen in touristischen Unterkünften, 50 über Interhotels mit drei Übernachtungen und 250 Karten über das DDR-Reisebüro an Tagestouristen verkauft werden. Die potentiellen Teilnehmer sollten vor allem in Gruppen von 8-10 Personen einreisen, „gegebenenfalls“ aber auch als Einzelpersonen.[17]
Den vielen ehrenamtlichen Organisatoren des Rennsteiglaufs waren diese Pläne unbekannt, lediglich im engeren Organisationsbüro wurde vom Rat des Bezirkes Suhl informiert, das etwa 20-30 Teilnehmern aus der BRD, die für „Devisen“ Startkarten für den Rennsteiglauf erworben hätten, teilnehmen würden. Dies war wohl letztendlich auch die Anzahl von „Wessis“, die das Reisebüroangebot am Ende tatsächlich buchten.
Diese vor allem aus wirtschaftlichen Gründen vollzogene vorsichtige Öffnung von Thüringens legendärem Lauf für devisenbringende Teilnehmer 1989 führte zu einigen Anträgen im Bereich von hauptamtlichen Stasi-Offizieren. Schwierig einzuordnen war lange ein Antrag von mehreren Stasi-Offizieren, die offiziell beim Rennsteiglauf starten wollten. Sie bestellten dafür extra hochwertige Fotoapparate. Die erste Sichtung des Fotomaterials, welches offensichtlich in diesem Zusammenhang beim GutsMuths-Rennsteiglauf 1989 aufgenommen wurde, zeigt nichts Besonderes: Läufermassen am Start, auf der Strecke, Zieleinläufe und die Atmosphäre auf dem Sportplatz in Schmiedefeld. Kurioserweise auch ein Foto vom Waschzelt der Männer, auf dem viele nackte Läufer erkennbar sind. Erst bei der systematischen Durchsicht fiel auf, dass sich unter den Fotos mehrere befanden, auf denen Läuferinnen und Läufer abgelichtet sind, die ganz offensichtlich nicht die typische DDR-Läuferkleidung trugen, und wo das Outfit zumindest der Vermutung Raum gibt, dass es sich um Läufer aus der BRD handeln könnte.
Der Rennsteiglauf nach dem Mauerfall
Die Vorbereitungen des 18. GutsMuths-Rennsteiglaufs 1990 waren noch unter den „DDR-Rahmenbedingungen gestartet worden, d. h. das Organisationsbüro hatte 1989 im Mai/Juni unter Leitung von Volker Kittel den 17. Lauf ausgewertet und langfristige Arbeitspläne usw. präzisiert. Langfristig zu bestellende Materialien wurden nach den im Handel üblichen Regularien in Auftrag gegeben, die Startkarten wurden nach einem seit Jahren fest stehenden Verteilerschlüssel an die DTSB-Kreisvorstände mit entsprechenden Zahlungsanweisungen verschickt usw. usw.
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 zeichneten sich anfangs erst mal keine großen Änderungen bei der Organisation ab, sieht man von der Tatsache ab, dass es auch im Organisationsbereich einzelne Helfer und Helferinnen gab, die in die BRD verzogen.
Der Organisationsplan wurde also weiter abgearbeitet und dazu auch regelmäßig Beratungen durchgeführt. Spätestens mit den Wahlen der Volkskammer am 18. März 1990 gab es durch neue Gesetze teilweise neue Anforderungen an die Organisatoren. Die Spitzenfunktionäre im Nationalen Olympischen Komitee, im DTSB und in einigen Fachverbänden traten zurück oder wurden abgewählt. Auf allen Ebenen wurden Sportkontakte zwischen Ost- und West-Sportvereinen hergestellt, eine umfangreiche Reisetätigkeit zu Sportveranstaltungen „auf der anderen Seite“ setzte ein. Auch der Rennsteiglauf stand vor der Frage der offiziellen Öffnung für Starter „aus dem Westen“. Problematisch wurde es nach der Neubildung der DDR-Regierung unter Leitung der Allianz für Deutschland mit der CDU, der DSU und dem DA, die in Gesetzesvorlagen die bisherige Finanzierung des DDR-Sports in Frage stellten. Schon vorher hatte die letzte „SED-Wirtschaftsministerin“ Christa Luft Gesetzte erlassen, dass alle „Devisen“, d. h. „Westgelder“ bei den Banken der DDR einzuzahlen wären und 1:1 an die Zahlungsempfänger getauscht werden sollten. Das betraf auch den Rennsteiglauf, dessen Organisationsbüro zeitnah nach dem Fall der Mauer einstimmig beschlossen hatte, dass der Rennsteiglauf 1990 sofort für Teilnehmer aus der BRD und dem Ausland geöffnet werden solle. Um dem „Einzug“ des Westgeldes zu entgehen, errichteten Volker Kittel als Gesamtleiter und Rosemarie Schulz als Finanzverantwortliche bei der Flessabank in Schweinfurt ein eigenständiges Konto, auf das die Teilnehmer der BRD ihr Startgeld einzahlen sollten. Dieses konnte nach dem Lauf zu einem günstigen Kurs umgetauscht werden.
Um die Laufszene vom „Westen“ für den Rennsteiglauf zu werben hatte der Bereich „Agitation/Propaganda“, der sich in Bereich Öffentlichkeitsarbeit umbenannte, entsprechende Kurztexte und Material an die bekannten BRD-Läuferzeitschriften Spiridon und Condition gesendet.
die erste Notiz im Arbeitsbuch des Bereichsleiters stammt vom 22. November 1989 und bezog sich auf diese Kontaktaufnahme.
Anhand von, in den „West-Läuferzeitschriften“ veröffentlichten Terminkalendern, wurden Anschriften von Laufgruppen rausgesucht, denen man Rennsteiglauf-Ausschreibungen zuschickte. Außerdem wurde an über 100 Lauf- und Wandervereine im grenznahen Bereich (Bayern und Hessen) Anfang Januar vom Bereich Öffentlichkeitsarbeit angeboten, dass man persönlich zu ihnen kommen würde und einen zweistündigen Vortrag zu:
„1. Entwicklung des GutsMuths-Rennsteiglaufes von den Anfangen bis heute
- Besonderheiten der Organisation, Strecke, Verpflegung
- Probleme der Laufbewegung in der DDR.
- Trainingsmethodik für Rennsteigläufe“
halten könne. Bedingung sei lediglich die Übernahme der Fahrtkosten. Leider gab es dazu nur einen Kontakt nach Ostheim vor der Rhön, wo tatsächlich, allerdings vor nur wenigen Lauffreunden über den Rennsteiglauf berichtet wurde.[18]
Weitere umfangreiche Werbung für den Rennsteiglauf gab es durch persönliche Kontakte von Organisatoren und Läufern zu Sportvereinen und Laufgruppen im Westen. Insgesamt konnten über 600 „Wessis“ für eine Rennsteiglaufteilnahme 1990 gewonnen werden, was aber nicht den Teilnehmerrückgang von 1989 auf 1990 um fast 2000 „DDR-Läuferinnen und Läufer“ auf den beiden Hauptstrecken ausgleichen konnte. Die 600 „Wessis“ sorgten mit ihrem Startgeld allerdings mit für das finanzielle Überleben des Rennsteiglaufs. Wobei der „Löwenanteil“ des Ausgleichs der ausgefallenen Startgelder den über 2000 Wanderern zu verdanken ist, die auf der neuen Strecke über 35 Kilometer an den Start gingen.
Eine weitere wichtige Werbung waren Presseinformationen, die ab Januar an Zeitungen in der BRD, vor allem wieder in Bayern und in Hessen versendet wurden.
Ab April gab es mit der Werbeagentur „macona“, die für den „Frankfurt-Marathon“ arbeitete, Unterstützung bei der Werbung, da diese bei großen Laufveranstaltungen Rennsteiglaufausschreibungen verteilte. Den Kontakt hatte der für den Sport zuständige Stadtrat von Leipzig, Rolf Becker, im Rahmen des Hannover-Marathons hergestellt.
„Macona“ beschaffte auch kurzfristig einige Sponsoren, die mit „Sachleistungen“ schon 1990 den Rennsteiglauf unterstützten.
Irmgard (2.v.l.) und Edwin Heckelsberger (3.v.l.) von macona bei einer Beratung des Organisationsbüros des Rennsteiglaufs.[19]
Sportwissenschaft hilft dem Rennsteiglauf
Zu den Besonderheiten des Rennsteiglaufs gehörte bis in die Mitte der 1990er Jahre der enge Kontakt zur Jenaer Universität und den dortigen sportwissenschaftlichen Einrichtungen. Dies zahlte sich auch nach der politischen Wende ab November 1989 aus. An der Universität wurden schon ab September 1989 unter Wissenschaftler aller Disziplinen Reformideen diskutiert. Im Sport gab es mit Prof. Schröder, dem ideellen Mitgründer des GutsMuths-Rennsteiglaufs, einen Vertreter des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs, der sich intensiv mit Veränderungsmöglichkeiten auch im Freizeit und Erholungssport beschäftigte. Einen Monat nach dem Mauerfall, Mitte Dezember legte er mit den „Jenaer Thesen zur Entwicklung des DDR-Sports“ ein Diskussionspapier einer Arbeitsgruppe vor, dem auch der Bereichsleiter Öffentlichkeitsarbeit des Rennsteiglaufs angehörte. Diese Thesen waren für den „Runden Tisch zum Sport“ in Jena gedacht. Darin wurde u. a. für den zukünftigen Status der Sportgemeinschaften und Gremien des DTSB formuliert:
„Sie sind juristisch selbstständige, unabhängige und staatlich unterstützte Organisationen, die sich auf der Basis von Sportarten bzw. Interessengruppen formieren.“
In einem späteren Abschnitt heißt es weiter:
„Die Sportgemeinschaften haben das Recht und die Pflicht, einen größtmöglichen Eigenanteil an Finanzmitteln zu erwirtschaften. Dazu dienen Mitglieds- und Spendenbeiträge, Gewinne aus vertraglichen Vereinbarungen mit Betrieben und staatlichen Einrichtungen zur gegenseitigen Unterstützung sowie Einnahmen aus der kommerziellen Nutzung des Sports, z. B. auch in Form von Dienstleitungen.“[20]
Damit waren erste Überlegungen für eine Neustrukturierung des Breitensports sichtbar, die auch für den Rennsteiglauf von Bedeutung sein würden. Hinweise und eine überarbeitete Fassung der Thesen nahm der Soziologe Prof. Dr. Thieß vor, der später zu den Gründern des Landessportbundes gehörte und dessen erster Präsident wurde.
Bei Besuchen von Vertretern vom Jenaer Sportinstitut, denen auch der Bereichsleiter Öffentlichkeitsarbeit des Rennsteiglaufs angehörte, bei Sportvereinen, Fitnesscentern, Sportinstituten und Hochschulsporteinrichtungen in Nürnberg, Münster und Göttingen wurden die Rahmenbedingungen und Strukturen von Sportvereinen analysiert, was letztendlich zu der Überlegung führte, dass der Rennsteiglauf nur in Form eines selbstständigen Vereins weitergeführt werden können.
Erarbeitung einer Vereinssatzung
Erste Vereins-Satzungsentwürfe wurden in Jena schon auf einer Klausurtagung des Hochschulsports und der HSG Uni Jena Mitte Dezember 1989 diskutiert, da Mitarbeiter des Hochschulsports bereits im Januar einen neuen Sportverein, schon weitestgehend nach bundesdeutschen Vereinsrecht, als Jenaer Alpenverein, später Sektion Jena des Alpenvereins, gründen wollten und tatsächlich auch gründeten.
Ab Februar 1990 wurde an einer Satzung für einen Rennsteiglaufverein gearbeitet.
Nach mehreren Zwischenschritten war von Hans-Georg Kremer, Volker Kittel und Dieter Töpfer[21] ein Satzungstext[22] fertiggestellt worden, der vom engeren Organisationsbüro des Rennsteiglaufs bestätigt wurde. Diese Fassung wurde in Kurzform im Ergebnisheft des Rennsteiglaufs 1990 mit einem Aufruf zur Gründung eines eigenen Vereins am 30. Juni 1990 veröffentlicht.
Mit der Satzung sollten nicht nur die Organisatoren und organisierenden Vereine in einem Verein zusammengefasst werden, sondern auch die Rennsteigläuferinnen und –läufer konnten Mitglieder und damit „Mitbesitzer und Mitbestimmer“ des Rennsteiglaufs werden. Dies drückte sich in der Mitgliederstruktur aus, die sich nach A, B und C-Mitglieder ordnete. Außerdem war als Dach für den Lauf eine Stiftung geplant, die die Rechte am Namen und am Logo des GutsMuths-Rennsteiglaufs besitzen und die langfristig eine finanzielle Unabhängigkeit sichern sollte. Während die Gründung des Vereins und die Mitgliedergewinnung zu einem Erfolgsmodell wurden, nachdem heute über 1000 Aktive Mitglieder des GutsMuths-Rennsteiglaufvereins sind, wurde die Stiftungsidee nicht weiter verfolgt, sondern dafür eine vereinseigene GmbH gegründet, der die Organisation des Rennsteiglaufs übertragen wurde.
Die Gründung erfolgte am 30. Juni 1990 in einem Klubraum des GST-Flugplatzes Goldlauter-Heidersbach. Zum ersten Präsidenten wurde Dr. Hans-Georg Kremer aus Jena und zum ersten Geschäftsführer Volker Kittel aus Schmalkalden gewählt. An der Gründungsveranstaltung nahmen 18 Vertreter von Sportvereinen teil, die bisher an der Organisation des Rennsteiglaufs beteiligt waren.
Rennsteig im Grenzgebiet wird erschlossen
Neben diesen vielfältigen zusätzlichen Aufgaben bei der Vorbereitung auf den GutsMuths-Rennsteiglauf 1990 gab es noch die Idee, das damals im Grenzgebiet zwischen der DDR und der BRD liegende ca. 50 Kilometer lange Teilstück für die Lauf- und Wanderbewegung zu erschließen, welches nach dem Mauerbau 1961 für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich war.
Stacheldraht vom Grenzzaun
Von mehreren Thüringer und Fränkischen Wandervereinen war am 8. März 1990 für eine größere Gruppe eine gemeinsame Wanderung organisiert worden. Dafür war die innerdeutsche Grenze an allen Stellen, wo sie den Rennsteig kreuzte, geöffnet worden. Als Vertreter des Rennsteiglaufs nahmen Volker Kittel, Gunda und Hans-Georg Kremer und Rolf Becker daran teil. Begleitete von Vertretern örtlicher Vereine, Bürgermeister und der Grenzpolizei konnte unterwegs das Projekt eines gemeinsamen Laufs über dieses Stück Rennsteig besprochen und vorgeklärt werden.
Die Wandergruppe passiert den ehemaligen „Todesstreifen“ und die Zaunanlage.[23]
Unmittelbar danach begann der Bereichsleiter für Öffentlichkeitsarbeit des Rennsteiglaufs mit seiner Laufgruppe von der BSG Wismut Gera und der Laufgruppe der HSG Uni Jena, Vorbereitungsarbeiten für einen Gruppenlauf über dieses Teilstück des Rennsteigs. Dem stellvertretenden Vorsitzenden bei der BSG Wismut Gera, Dr. Martin Nimptsch, hatte er einen engagierten Partner gefunden. Dazu kamen noch die Organisatoren des Rennsteiglaufs um Volker Kittel, die trotz der Vorbereitung auf den 18. Lauf, Zeit und Ideen sowie Kontakte zu Sponsoren usw. in die Vorbereitung eines solchen Laufs über die ehemalige Grenze investierten. Sie sahen dies als wichtige Aufgabe an, um den östlichen Teil des Rennsteigs, der durch Bayern führt, in ihre Organisation einzubinden. Mit der Idee auch in der „westdeutschen Laufszene“ auf die Alleinstellungsmerkmale des Rennsteiglaufs aufmerksam machen zu wollen, stießen die Geraer bei den Mitgliedern des Organisationsbüros des Rennsteiglaufs „offene Türen auf“.
Die Teilnehmer vor dem Start auf der Bayrischen Seite am Beginn des Rennsteigs in Blankenstein.[24]
Die Werbeagentur macona organisierte noch einige Sponsoren. Zeitungsartikel in Ostthüringen und in Franken veröffentlichten diese Idee und warben für Mitläufer.
Am 18. Mai 1990 starteten dann 21 Männer und zwei Frauen zum I. Gesamtdeutschen Rennsteiglauf. Insgesamt sechs Mal mussten die noch größtenteils erhaltenen Grenzanlagen passiert werden.
Der erste Grenzübergang in der Nähe vom Bahnhof Höllental.[25]
An allen Stellen gab es inzwischen offizielle Grenzübergangstellen, wo manchmal noch Pässe bzw. Personalausweise kontrolliert wurden. Beim ersten Übergang zwischen Blankenstein und Lichtenberg, auf dem alten Bahnkörper der Höllentalbahn, mussten noch die Ausweise von den Teilnehmern und Betreuern persönlich vorgelegt werden.
Bei den folgenden sechsmaligen Übergängen konnte man sich mit der „DDR-Grenzpolizei“ einigen, dass die Betreuerin Gunda Kremer alle Ausweise geschlossen vorlegte. An den Grenzübergangsstellen saßen teilweise Beamte West und Bedienstete Ost von Zoll und „Sicherheitsorganen“ einträchtig nebeneinander, tranken Kaffee und schenkten Getränke an die Läufer aus.
Die Begleitfahrzeuge mussten teilweise über provisorische Straßen fahren, die erst frisch aufgeschüttet waren. Die Bevölkerung in den Orten an der Strecke, egal ob im Osten oder im Westen, spendete Beifall. Sportler aus Tettau standen mit Tee und Südfrüchten bereit. Im ehemaligen Stasiferienheim „Am Brandt“ war eine Verpflegungsstelle eingerichtet. Nach knapp acht Stunden wurde Neuhaus erreicht, wo der Organisationschef Dieter Greiner einen würdigen Empfang mit hunderten Zuschauern bereitete. Das Helfer und Versorgungsteam bestand aus Sportwissenschaftlern der Universität Jena um den Sportmediziner Prof. Dr. Jochen Scheibe, welches die Läuferinnen und Läufer über die gesamte Zeit betreute. Dazu kam die Familie Heckelsberger von macona, die von Sponsoren Bananen, Getränke und medizinisches Verbrauchsmaterial mitgebracht hatten. Gunda Kremer, Georg Zange und Rolf Becker vervollständigten das Team. Der Ausdauerläufer Hubert Becker aus Hof hatte über einen Sporthändler für einheitliche Erinnerungs- T-Shirts gesorgt.[26]
Der Lauf war schon aus versorgungstechnischen Gründen als „Erlebnis-Gruppenlauf“ konzipiert, sodass über die gesamte, mehr als 55-Kilometer lange Strecke bis zum Startgelände des Rennsteiglaufs in Neuhaus die Gruppe zusammenblieb.
Zieleinlauf in Neuhaus.[27]
Als besonderes Souvenir erhielten die Teilnehmer im Ziel ein Stück Originalstacheldraht der ehemaligen Grenzanlagen in Form eines R. Dies hatte der Gesamtleiter des Projekts bei der Märzwanderung von der DDR-Grenzpolizei erbeten. Diese hatte es ohne große Formalitäten im Raum Blankenstein einfach vom Grenzzaun mit einem Bolzenschneider abgetrennt. Für etwas Verwunderung sorgte die gute, fast neuwertige Qualität des Stacheldrahtes. Nach Aussagen der Grenzer war der Draht erst im Vorjahr erneuert wurden. Ob es sich, wie gemunkelt wurde, dabei tatsächlich um Material aus der BRD handelte, konnte nicht geklärt werden.
Dr. Martin Nimptsch organisierte dann eine Ausformung als „Rennsteig-R“ und eine Rahmung. [28]Zu den Episoden am Rande gehörte, dass auf Grund einer schriftlichen Anfrage der bayrische Ministerpräsident Max Streibl die Schirmherrschaft über diesen Lauf übernommen hatte. Die noch etwas „unerfahrenen“ Veranstalter aus dem „Osten“ hatten sich davon natürlich auch eine finanzielle oder anderweitige Unterstützung erhofft. Es blieb aber bei einem freundlichen Grußwort.
Im Nachgang fertigte der bekannte Medailleur Helmut König (†) aus Zella-Mehlis noch eine Medaille über dieses Ereignis an, die dann in kleiner Stückzahl aufgelegt wurde.
Einige Teilnehmer um Matthias Greifenhagen aus Schlettau ließen es sich nicht nehmen, am nächsten Tag noch die Kurze- (45km) bzw. die Lange (65km) des Rennsteiglaufs zu absolvieren.[29]
Fazit
Die Entwicklung des GutsMuths-Rennsteiglaufs bis Mitte der 1990 Jahre war dadurch geprägt, dass konzeptionell und in der Organisation bei Beibehaltung vieler ursprünglicher Ideen, der Anschluss an die Gesamtdeutsche Laufszene geschafft wurde. Der GutsMuths-Rennsteiglauf als Landschaftslauf wurde in dieser Zeit sogar der „Marktführer“ und Ideengeber auch für neue Laufveranstaltungen in den alten Bundesländern. Auch wenn zwischenzeitlich die sogenannte Marathonlaufbewegung häufig mehr im Mittelpunkt der Medien stand, hatte der GutsMuths-Rennsteiglauf spätestens ab 1995 die Rekordteilnehmerzahlen aus dem Jahre 1988 erreicht und bis heute sogar verdoppelt.
Wo liegen die Ursachen? Die Teilnehmerstatistiken geben einige Aufschlüsse. So ist es z.B. rechtzeitig gelungen, in den alten Bundesländern viele Interessenten zu gewinnen. Die Neuaufnahme breitensportfreundlicherer Strecken, wie der Halbmarathon und die Wanderungen waren dabei vor allem ausschlaggebend. Mit tatkräftiger Unterstützung durch die Thüringer Sportjugend wurde auch ein zukunftsträchtiger Kinderlauf ins Leben gerufen über den der GutsMuths-Rennsteiglauf inzwischen seinen eigenen „Läufernachwuchs“ gewinnen kann. Dazu kommt die enge Anbindung an die studentische Laufbewegung. Die Gewinnung wichtiger Sponsoren, die ihren Sitz in Thüringen haben und teilweise über Jahrzehnte stabile Partner waren oder noch sind, kann man ebenfalls als wichtigen Faktor nennen. Alle diese und viele weitere Aspekte haben zu den Erfolgen beigetragen. Auch die kontinuierliche Unterstützung durch die Thüringer Landesregierungen seit 1991 gehört, gleich welcher Couleur, dazu.
Zum Kern des Erfolgs kann man vorwiegend ideelle Hintergründen zählen. So ist es die Identifikation vieler Läufer und Wanderer aus der ehemaligen DDR mit ihrem Rennsteig. Geboren unter typischen DDR-Bedingungen, war der GutsMuths-Rennsteiglauf über Jahre für viele Volkssportler prägend. Hier bestand die Möglichkeit seine Leistungsfähigkeit jährlich zu prüfen. In der Gemeinschaft Gleichgesinnter existierte eine starke Motivation, ganzjährig gesundheitsorientiert zu trainieren. Die dabei erworbenen persönlichen physischen und psychischen Werte halfen auch in anderen Bewährungsphasen des Lebens, die gewonnenen Sportfreundschaften waren fester Bestandteil des täglichen Lebens. Eine Gemeinschaft entstand, die eine starke Basis in der Laufbewegung der siebziger und achtziger Jahre hatte, dabei aber ständig offen stand für Gleichgesinnte war. „Rennsteigläufer“ ein Terminus, der im allgemeinen Sprachgebrauch unter Volkssportlern in den neuen Bundesländern und inzwischen auch im „Westen“ mit einer gewissen Hochachtung verwendet wurde.
Eine ähnliche Identifikation entwickelte sich auch bei vielen Organisatoren.
Ihr GutsMuths-Rennsteiglauf als Thüringer Besonderheit mit Einmaligkeitscharakter, das ließ viele Organisatoren und Helfer nicht aufstecken, auch als die Finanzen sehr knapp wurden und mehr rote als schwarze Zahlen geschrieben wurden.
Inzwischen ist aus diesen ideellen Motiven ein Grundmotiv zunehmend herauslesbar, das ist der Stolz auf etwas Besonderes, was sich in der deutschen Sportentwicklung fest platziert hat. Etwas, was nicht im Sturm der Wende untergegangen ist. Es würde genau in die Sendereihe des MDR „Wer braucht der Osten“ passen!
Diese gemeinsamen Interessen zwischen den Organisatoren und den Aktiven, die in einem gemeinsamen Verein ihre Interessen abstimmen, sind wohl ein sehr wichtiger Aspekt, der auch zukünftig für die Sonderstellung des GutsMuths-Rennsteiglaufs sorgen wird.
Von vielen Läufern und zunehmend auch von Lauforganisatoren anderer Veranstaltungen aus der Altbundesrepublik wird inzwischen das „Rennsteiglauftypische“, z.B. die Kloßpartys am Vorabend, die Vorstartatmosphäre in den Startorten, der Haferschleim an den Verpflegungsstellen oder anderes anerkannt, gelobt, ja sogar nachgemacht.
Der Rennsteig und Johann Christoph Friedrich GutsMuths, als Namensgeber sind einmalig in Deutschland. Von 1974 an, wurde dieser Traditionsbezug zum „Begründer“ des modernen Schulsports bewusst gepflegt und seine Wirkungsstätte in Schnepfenthal immer in die Organisation mit einbezogen. Auch bei der Gründung des Vereins wurde „GutsMuths“ in den Vereinsnamen eingebunden.
Die maßgeblichen Impulse für die Traditionspflege kamen von Sportwissenschaftlern um Prof. Dr. Willi Schröder von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, der selber in den ersten Vereinspräsidien Sitz und Stimme hatte. Überhaupt gehörte die enge Bindung an die Sportwissenschaften der Jenaer Universität bis Mitte der 1990er Jahre zu einem der „Markenzeichen“ des GutsMuths-Rennsteiglaufs. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen in der Sportmedizin, der Sportpsychologie, der Sportsoziologie und der Sportgeschichte, sorgten dafür, dass der GutsMuths-Rennsteiglauf auch weit über die traditionellen Leserkreise von Sportmedien hinaus bekannt wurde. Der regelmäßige Einsatz von Sportwissenschaftlern trug auch besonders in den Anfangsjahren wesentlich dazu bei, dass die Qualität der Planung, Organisation und medialen Präsenz kontinuierlich verbessert werden konnte. In über 40 Büchern, an die hundert Broschüren und mehreren hundert Zeitschriftenartikeln ist der GutsMuths-Rennsteiglauf inzwischen präsent.
Der GutsMuths-Rennsteiglauf steht heute für thüringisch-fränkische Gastfreundschaft; für perfekte und gleichzeitig volkstümliche Organisation, für Ausdauersportler und -sportlerinnen mit ausgeprägtem Sinn für Gesundheit; Natur mit persönlichem Durchsetzungsvermögen; für eine große Gemeinschaft zwischen Organisatoren und Organisatorinnen; Helfer und Helferinnen und Teilnehmer und Teilnehmerinnen.
Im Nachgang, wenige Tage nach der „deutschen Einheit“ bekamen die Organisatoren des Guts-Muths-Rennsteiglaufs den UNESCO-Preis für besondere Verdienste bei der Entwicklung des Breitensports am 11. Oktober 1990 in Ottawa (Kanada) verliehen. Wenige Tage, nachdem die DDR als Staat aufgehört hatte zu existieren, nahmen Volker Kittel und Dr. Hans-Georg Kremer in Ottawa den UNESCO-Preis für den GutsMuths-Rennsteiglauf entgegen.[30]
Den Transformationsprozess von einer DDR-Sportgroßveranstaltung, die am Ende sogar von der Sportführung voll akzeptiert wurde, zu einer über die Deutsche Bundesrepublik europaweit bekannte Lauf- und Wanderveranstaltung kann man heute als gelungen bezeichnen. Die Gründung des GutsMuths-Rennsteiglaufsvereins, die weitetestgehend von den Organisatoren selber initiiert, gesteuert und umgesetzt wurde, muss dabei besonders hervorgehoben werden.
UNESCO-Medaille und Foto nach der Überreichung von Urkunde und Medaille, v.l. Volker Kittel, Kanadischer Sportminister, Dr. Hans-Georg Kremer.
[1] Nachfolgend werden wir weitestgehend den verkürzten Terminus Rennsteiglauf verwenden.
[2] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[3] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena
[4] Nach Wikipedia: Als Malimo wird einerseits ein textiteles Fertigfabrikat bezeichnet, welches im Nähwirkverfahren hergestellt wurde. Es war und ist auch Marken- und Firmenbezeichnung. https://de.wikipedia.org/wiki/Malimo
[5] Fotoarchiv Kremer.
[6] Fotoarchiv Kremer
[7] Von seinem Neffen Hermann Tschiedel bekamen wir das Foto von Walter Tschiedel.
[8] Den Text und das Foto bekamen wir von Dr. Wolfgang Klemm. Dr. Wolfgang Klemm flüchtete im Jahre 1988 aus der ehemaligen DDR und führte seit 1996 als praktischer Arzt und Sportmediziner eine Allgemeinpraxis in München. Nach unbestätigten Berichten soll er verstorben sein.
[9] Das Foto stellte uns Werner Sonntag zur Verfügung. In den Statistiken der deutschen Ultramarathon-Vereinigung gibt es 12 Ergebnisse vom Rennsteiglauf-Supermarathon. Seine zwei Teilnahmen zu DDR-Zeiten werden dabei nicht gelistet, da sie unter falschem Namen erfolgten. Dazu kommen weitere Marathon- und Halbmarathon-Rennsteigläufe.
[10] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Fotos 1982.
[11] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Fotos Traditionsrennsteigläufer.
[12] HERBURGER, G.: Rennsteig. In: UZ (Zeitung der DKP) vom 21.07.1988.
[13] BSTU. MfS, BV Suhl, AOPK 697/89, BSTU 000053..
[14] BSTU. MfS, BV Suhl, Abt. XVIII, ZMA, 6507, BSTU 0034.
[15] BSTU. MfS, BV Suhl, Abt. XVIII, ZMA, 6507, BSTU 0043.
[16] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[17] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[18] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[19] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotos 1992.
[20] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[21] Dr. Dieter Töpfer war ein ehemaliger Kollege am Sportinstitut und 1990 Vorsitzender oder Stellvertreter im DTSB-Kreisvorstand Neuhaus.
[22] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
[23] Foto von Rolf Becker im Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990.
[24] [24] Foto von Rolf Becker im Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990.
[25]Foto von Rolf Becker im Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990.
[26] Die Fotos von den Grenzpassagen stammen von Rolf Becker im Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990.
[27] Diese Fotos stammt von Matthias Greifenhagen im Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990.
[28] Foto Kremer.
[29] Das Foto stellte Matthias Greifenhagen zur Verfügung.
[30] Archiv Hans-Georg Kremer. Vorlass im Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fotoarchiv 1990
Dr. Hans-Georg Kremer
Wie die vielen Anmerkungen zeigen, fehlen viel Fotos, die aber im Lauf der Zeit noch eingefügt werden.
Gunda und Dr. Hans-Georg Kremer
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