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06
10
2020

Michael Reinsch - Foto: Horst Milde

30 Jahre deutsche Einheit: Sieht aus wie Staatssport – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die Siege des DDR-Sports sagen vor allem etwas darüber aus, wie dringend der Staat sie wollte. Vom zwanghaften Siegen hat sich das wiedervereinigte Deutschland verabschiedet.

Als im April wegen der Bedrohung durch das Coronavirus die Olympischen Spiele von Tokio verschoben und weltweit praktisch alle Sportveranstaltungen abgesagt waren, wurde Max Hartung besonders aufmerksam. „Es gab viele Beispiele von außergewöhnlichen Sportlerinnen und Sportlern, viele Geschichten über besondere Persönlichkeiten.

Vermutlich wären sie nicht entstanden, wenn Ergebnisse, Rekorde und Medaillen im Vordergrund der Berichterstattung gestanden hätten“, beobachtete der Säbelfechter und Athletensprecher. „Athleten machten Podcasts. Athleten boten online Training für Kinder an. Athleten äußerten sich zu gesellschaftlichen Themen. Der Blick auf die Persönlichkeit zeigt, dass es sich für die Bundesrepublik Deutschland lohnt, sich Spitzensport zu leisten.“

Leistungssport in den olympischen Sportarten wird in Deutschland weitgehend vom Staat gefördert. Sportstätten, Bundestrainer, Trainingslager – allein das Sportbudget im Etat des Bundesinnenministeriums beträgt in diesem Jahr 262 Millionen Euro. Darüber hinaus verfügen die Verbände über 744 Stellen in 15 Sportfördergruppen der Bundeswehr; laut Verteidigungsministerium lässt sich das Militär diese Unterstützung 35 Millionen Euro pro Jahr kosten. Bundespolizei, die Polizei fast aller Länder und der Zoll bieten darüber hinaus einige hundert Posten.

Haben wir im Jahr dreißig der deutschen Einheit den Staatsamateur der untergegangenen DDR und den Staatssport erhalten? „Im Unterschied zur DDR will die Förderung im Deutschland von heute das Individuum im Blick haben und Persönlichkeiten fördern“, sagt Hartung. „Sie zielt nicht allein auf eine Plazierung im Medaillenspiegel ab. Dies ist ein großer Unterschied zur Vergangenheit und zu anderen Ländern.“

Nicht, dass die vereinten Sportstrategen aus Ost und West, von gestern und heute, nicht versucht hätten, die irrealen sportlichen Erfolge des Arbeiter-und- Bauern-Staates zu perpetuieren. Bis heute gelten ihnen die Olympischen Spiele von 1992 als Maßstab, bei denen die gerade vereinten, von ehemaligen DDR-Athleten dominierten Olympiamannschaften im Winter von Albertville mit zehn Olympiasiegen (und insgesamt 26 Medaillen) die Nummer eins des Medaillenspiegels und im Sommer von Barcelona mit 33 Goldmedaillen (in toto 82) die Nummer drei wurden. Als Innenminister Thomas de Maizière 2015 ein Drittel mehr Medaillen forderte, lag London 2012 als vermeintlicher Tiefpunkt mit elf Olympiasiegen und Platz sechs hinter der deutschen Olympiamannschaft. Rio 2016 brachte dann 17 Goldmedaillen und Platz fünf.

Der Einigungsvertrag hat das durch Doping-Forschung belastete Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig als Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) erhalten, das für Manipulationen missbrauchte Doping-Kontrolllabor Kreischa sowie die Forschungsstelle für die Entwicklung von Sportgerät (FES) in Berlin. Sie haben sich, so scheint es, im freiheitlichen Sport bewährt. Die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR wurden zu Eliteschulen des Sports. Streckung der Schulzeit und Internatsbetrieb helfen bei der Vorbereitung auf große Erfolge.

Wie Ironie der Geschichte erscheint es, dass bei der aktuellen Reform der Spitzensportförderung eine Instanz nach dem Vorbild von „UK Sport“ erwogen wurde. Denn mit ihr haben die Briten den erstaunlichen Aufschwung von einem einzigen Olympiasieg bei den Spielen von Atlanta 1996 zum Triumph als Gastgeber in London 2012 mit 29 goldenen und insgesamt 65 Medaillen ausgerechnet nach dem Vorbild ostdeutscher Effizienz bewerkstelligt. Wie Manfred Ewald an der Spitze des DDR-Sports im April 1969 die Sportförderung auf die Basis einer betriebswirtschaftlichen Ertragsrechnung für Goldmedaillen stellte und Basketball, Eishockey, Hockey, modernen Fünfkampf, Wasserball und alpinen Skisport strich (nichtolympische Sportarten wie damals Tennis und Tischtennis wurden ohnehin nicht unterstützt), so entzieht „UK Sport“ den Verbänden die Förderung, die keine Medaillen versprechen. Der Verdacht, de Maizière könnte Ähnliches im Sinn haben, führte zu einer Diskussion, in der sich Sport und Politik schnell zum Erhalt sportlicher Vielfalt bekannten.

Der Staat wollte die DDR-Siege unbedingt

Längst geht es bei der Spitzensportförderung des Bundes nicht mehr um staatliche Repräsentation in Form von Hymne und Flagge. Längst hat sich eine Gelassenheit, gar eine Distanz zum Spitzensport durchgesetzt, die Bundeskanzler Helmut Schmidt, gut informiert über die Auswüchse des DDR-Sports, dem Deutschen Sportbund 1975 zum 25-jährigen Jubiläum ins Stammbuch schrieb: „Es wäre schlimm, wenn wir im verständlichen Wunsch, uns sportlich nicht unterbuttern zu lassen, unseren Sport auf den Weg einer Ideologie bringen, der uns letztlich von unseren freiheitlich-demokratischen Prinzipien wegführen würde.“ Die Zahl der Medaillen sage nichts über die Freiheit, über Gerechtigkeit und über Wohlstand einer Gesellschaft.

Allerdings sagen die Siege des DDR-Sports etwas darüber aus, wie dringend der Staat sie wollte. Die Menschen des kleinen Landes von 18 Millionen mit maroder Wirtschaft und schwindender Infrastruktur zahlten für das Etikett von der angeblichen Sportnation einen hohen Preis: bis zu 1,2 Milliarden Mark der DDR im Jahr sowie an Leib und Seele schwerverletzte Opfer des Dopings nach Plan. Mehr als tausend hat die Bundesrepublik entsprechend dem Doping-Opfer-Hilfegesetz finanziell unterstützt.

Der Anspruch auf kulturelle Vielfalt und Vorbildwirkung, auf Gesundheit und Integration hat als Legitimation für die Spitzensportförderung die staatliche Repräsentation abgelöst. „Unsere Spitzenathleten bilden die Gesellschaft unseres Landes ab“, sagt die SPD-Abgeordnete Dagmar Freitag, die dem Sportausschuss des Bundestages vorsitzt. „Nicht nur die Fußball-Nationalmannschaft, auch die Nationalmannschaften unserer olympischen und paralympischen Spitzenverbände spiegeln die Lebenswirklichkeit in unserem Land wider.“

Auch die Politikerin widerspricht dem Wort vom Staatssport. Athleten bei Bundeswehr und Polizei unterzubringen sei in erster Linie soziale Absicherung während der Karriere, nicht Auffangbecken für die Zeit danach. Die Bundeswehr schafft neuerdings, auf Intervention des Athletensprechers Hartung hin, Studienplätze und Ausbildungsgänge für Spitzensportlerinnen und -sportler.

„Wir wollen Erfolg. Das ist in einer Leistungsgesellschaft so“, sagt Freitag. „Wir haben uns von Seiten der Politik darauf verständigen können, dass wir sauberen Erfolg wollen. Das bedeutet, dass wir akzeptieren, dass unsere Athleten möglicherweise nicht immer ganz oben auf dem Treppchen stehen können. Der Kampf um einen sauberen Sport wird in vielen anderen Ländern schließlich nicht so konsequent geführt wie in Deutschland.“ Weil sie das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit auch denjenigen Athleten zugesteht, die nicht in eine Uniform schlüpfen, hat der Bund durch die Förderung der Stiftung Deutsche Sporthilfe praktisch ein Stipendium für Top-Athleten geschaffen; darüber hinaus stellt der Staat seit diesem Jahr Mittel für deren Rentenversicherung zur Verfügung.

Organisationsgrad im Westen deutlich höher

Die Sporthilfe gibt es ebenfalls nur, weil es den DDR-Sport gab – allerdings als Gegenmodell. Um den Athleten im Westen die Möglichkeit zu geben, sich bei den Olympischen Spielen von München 1972 mit den Staatsamateuren des Ostens zu messen, sie aber nicht staatlich vereinnahmen zu lassen, gründeten DSB-Präsident Willi Daume und der Unternehmer und Dressurreiter Josef Neckermann 1967 das Förderwerk. Bis ins vergangene Jahr lehnte es regelmäßige Zuschüsse vom Staat aus Prinzip ab.

Als Sonderfall der Vereinigung beschreibt die Historikerin Jutta Braun den Sport. „Nur dort, mehr noch als im Gesundheitswesen, wurden Bausteine adaptiert“, sagt sie. „Die Grundverfasstheit des Sports wurde jedoch nach westlichem Vorbild modelliert.“ Eine gesellschaftsgeschichtliche Zäsur sei dabei das Vereinigungsgesetz der DDR des Jahres 1990 gewesen: „Betriebssportgemeinschaften gründeten sich neu als Vereine und konnten den Parteisekretär nach Hause schicken. Dafür mussten sie sich nun selbst finanzieren.“

Das bleibt schwierig. Der Organisationsgrad des Sports, die Mitgliedschaft im Verein, ist im Westen mehr als doppelt so hoch wie im Osten. Vom Saarland mit knapp 38 Prozent seiner Einwohner im Sportverein bis Brandenburg mit 14 Prozent bilden, beginnend mit Berlin (17,9 Prozent), die Länder der ehemaligen DDR den Schluss. Das mag damit zu tun haben, dass die Menschen im Osten eher leistungssportorientiert sind; sie verlassen den Klub, sobald sie nicht mehr mitspielen. Der West profitiert von einem hohen Anteil passiver Mitglieder.

Bedeutender Teil der Einheit war die juristische Ahndung des SED-Unrechts auch im Sport. Der Mikrobiologe Werner Franke aus Heidelberg sorgte, nachdem er das systematische Doping der DDR entlarvt hatte, mit seinen Strafanzeigen dafür, dass Ewald und seine Helfer von ordentlichen Gerichten verurteilt wurden. „Dies ist eine Errungenschaft Deutschlands“, sagt die Historikerin Braun. Staatssport habe es im gesamten Ostblock gegeben, mit Doping, mit diktatorischen Zuständen.

„Eine solche Aufarbeitung war vielleicht nur in einem zusammenwachsenden Land wie unserem möglich, wo es einen Elitenaustausch gab“, sagt sie. „In anderen postkommunistischen Ländern wurde nicht wie bei uns über die Fragwürdigkeit von Medaillen und sportlichem Erfolg diskutiert.“

Dem Sport hat das gut getan.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , Sonnabend, dem 3. Oktober 2020

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

RETTET UNSERE LÄUFE – SAVE THE EVENTS – Foto: Victah Sailer

„Rettet unsere Läufe“ – Wir brauchen jede Stimme, um den Laufsport zu retten. Helfen Sie bitte mit und beteiligen Sie sich an der Petition!

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author: GRR