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108. Tour de France Stürze, Sprints und blankes Entsetzen- „Eines Tages wird es Tote geben“ – Von KLAUS BLUME
„Ich bin Familienvater. Ich möchte nicht, dass mein Kind ein Radprofi wird, nach dem, was wir gesehen haben. So können wir nicht weitermachen! Dies ist kein Radsport mehr. Wir müssen feststellen, dass im Moment etwas falsch läuft.
Vielleicht müssen wir viele Dinge tun, aber wir müssen sie jetzt angehen. Wenn nicht, wird es eines Tages Tote geben.“ Das sagte Marc Madiot (59) im französischen Fernsehen.
Ein Mann, der nicht nur im Radsport als Institution gilt; Madiot gewann als Profi zweimal das klassische Eintagsrennen von Paris nach Roubaix. Seit 1997 führt er für die staatliche französische Lotteriegesellschaft das hoch angesehene Team La Francaise des Jeux.
Madiots Wutrede waren auf den engen und winkeligen Straßen in der Bretagne schlimme Stürze voran gegangen. „Die Tour“,“ hatte Roger Kluge aus Eisenhüttenstadt zuvor noch gesagt, „bleibt nach wie vor die stressigste Rundfahrt für Sprinter. Denn da fahren sieben, acht Teams für ihre schnellen Leute – das ist die Hölle.“ Kluge, mittlerweile 35 Jahre alt und gelernter Bahn-Spezialist (Olympia-Zweiter) verdient bei den großen Straßenrennen sein Geld als „Anfahrer“ – für den schnellsten Mann des Pelotons, den Australier Caleb Ewan. Jedenfalls bis Montagabend. Dann ging im Sprint auch Caleb Ewan zu Boden. Schlüsselbeinbruch.
Aus. Für die Tour, für Olympia.
Dabei funktioniert ein Sprint-Team im Erfolgsfalle – und auf normalen breiten Straßen – wie eine mehrstufige Rakete. Und zwar sicher. Denn die Vorarbeit, um am Ende den schnellsten Mann ins Ziel zu katapultieren, erfolgt nach einer festen Choreographie: Das Tempo wird bis 1,5 Kilometer vor dem Zielstrich so hoch gehalten, dass niemand mehr vorbei kommt – oder allein ausreißen kann.
Unter dem roten „Teufelslappen“, dem weithin sichtbaren Zeichen für die letzten 1000 Meter, versuchen dann oft Zeitfahr-Spezialisten, wie beim niederländischen Team Jumbo-Visma Tony Martin, auf mindestens 60 km/h hoch zu schrauben. 600 Meter vor dem Zielstrich wird bei diesem höllischen Tempo dann der eigentliche Sprint angefahren.
Wobei der letzte Anfahrer zumeist so versiert ist, dass er selbst gewinnen könnte – wenn er es denn müsste. Er weiß natürlich auch, dass sein Sprinter in seinem Windschatten bis zu dreissig Prozent Kraft spart. Kraft, mit der dann der allerletzte Coup bei mehr als siebzig Sachen in gerademal zwölf Sekunden gelingen muss – und das alles oft nach sechs Stunden vorheriger Plackerei bei Wind und Regen. Oft auch nach technischen Defekten und schweren Stürzen.
Im von außen meist unübersichtlichen Getümmel des Massensprints kann den Fahrern oft auch der Funk helfen. Roger Kluge erklärt: „Wenn man sich in der Hektik der Sprintvorbereitung mal verloren hat, kann man sich über Funk wieder zusammen finden.“
Natürlich nicht, wenn einer von Beiden auf dem Asphalt liegt. Kluge, der erfahrene Rennfahrer in allen Lagen, weiß aber auch: „Wenn auf dem letzten Kilometer aus dem Mannschaftsauto der Spruch kommt: Kämpfen, kämpfen, kämpfen, dann zieht man schon mal den Stecker. Dann ist Funkstille. Diesen Spruch braucht man wirklich nicht.“
Und trotzdem geht mitunter etwas schief. Wie 2007 auf der 94. Tour de France, auf der Etappe von Dünkirchen nach Gent. Natürlich sollte Tom Boonen, der nach Eddy Merckx größte Held des flämischen Radsports, in der flämischsten aller flämischen Städte glanzvoll den Sprint gewinnen. Sein Landsmann und Teamkollege bei der Erfolgs-Equipe Quickstep, Gert Steegmans, war auserkoren, zuvor den Buckel für den Superstar zu krümmen. Was dieser auch vorbildlich tat, und zwar so lange, bis er – aus Versehen – vor seinem Kapitän Tom Boonen als Erster über die Ziellinie huschte. Ende einer gründlich mißlungenen Dienstfahrt.
Der Berliner Jens Voigt, jahrelang einer der Helden der Tour de France, ist entsetzt: „Die Tour stiehlt sich mit dem, was bis jetzt passiert ist, selbst die Show.“ Allerdings in der Bretagne, wo nun einmal die Straßen seit Menschengedenken schmäler als andernorts sind.
Wo der Wind vom Meer her bläst. Wo die Schwierigkeiten, heil ins Ziel zu gelangen, naturgemäß größer als in den meisten anderen Rennen sind.
Klaus Blume
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