Symbolbild - Foto: Hannover Marathon - eichels Event
106. TOUR DE FRANCE MIT EINEM KOLUMBIANISCHEN SIEGER DIE RÜCKKEHR ZUR ANARCHIE – VON KLAUS BLUME
VAL D‘ISERE – Sie fuhren drei Wochen lang durch Frankreich, als gäbe es kein Morgen! Tag für Tag. Ob Egan Bernal, der erste kolumbianische Sieger der Tour de France, oder die Franzosen Julien Alaphilippe und Thibault Pinot.
Der englische Vorjahrssieger Geraint Thomas ebenso wie der gefeierte deutsche Tour-Vierte Emanuel Buchmann. Und alle sagten auf diesen drei aufregenden Wochen, sie dächten dabei immer nur von Tag zu Tag – und keinen Schritt weiter.
Das war keine Floskel, die weiter gereicht wurde, das war mehr, denn es geriet zur Maxime. Und so wurde aus dem weltweit drittgrößten Sport-Event endlich wieder ein unvergleichliches Radrennen, so, wie wir es vor 1991 erlebt hatten.
Was seitdem geschehen war?
Von 1951 an bestimmten drei Teams das bekannteste Radrennen der Welt. Scheinbar nach Belieben. Von 1991 bis 1995 setzte die spanische Mannschaft Banesto, die heute unter der Bezeichnung „Movistar“ firmiert, fünfmal ihren Superstar Miguel Indurain in Szene. Jede gegnerische Attacke wurde damals von dessen Helfern augenblicklich im Keime erstickt, auf das Indurain triumphieren konnte.
Von 1999 bis 2005 beherrschte der Amerikaner Lance Armstrong mit seinen Mannschaften die Frankreich-Rundfahrt. Ebenfalls nach Gutdünken. Auch, wenn ihm dessen Einzelsiege später allesamt wegen Dopings aberkannt wurden – er hatte das bekannteste Radrennen der Welt zu seiner ureigenen Show degradiert. Allein das war schlimm genug und wirkte lange nach.
2012 tauchte dann erstmals das britische Team Sky in Frankreich auf, in seiner Hierarchie ähnlich den Armstrong-Mannschaften aufgebaut, und schon deshalb mißtrauisch beäugt. Es feierte 2012 mit dem späteren Stunden-Weltrekordler Bradley Wiggins einen überragenden Erfolg. Ein Triumph, der von dessen Landsmann Chris Froome gleich viermal, und im Jahre 2018 von dem Waliser Geraint Thomas fortgesetzt wurde.
Es waren Rennen, die vor Langeweile, weil sie vorausschaubar schienen, zu ersticken drohten.
Und diesmal? Da wurde gefahren und gekämpft, wie in den Jahren vor 1991. Vielleicht, weil Chris Froome nach einem Sturz pausieren musste? Vielleicht. In der 106. Tour de France gelang – warum auch immer? – die Rückkehr zur Anarchie; auch, weil sich die Franzosen Julien Alaphilippe und Thibault Pinot mit ihrem begeisternden Kampf anschickten, nach 1985 – als der Bretone Bernard Hinault triumphiert hatte – endlich wieder einen französischen Gesamtsieg anstrebten.
Zwei Rennfahrer, die nicht etwa einem Stab von Wissenschaftlern vertrauten, sondern ihren Familien. Alaphilippe, der 14 Tage lang im Gelben Trikot fuhr und zum Schluss als Fünfter Paris erreichte, wird von seinem Cousin trainiert und betreut, Pinot, der nach einer Muskelverletzung vorzeitig aufgeben musste, von seinem Bruder, einem ausgebildeten Sportwissenschaftler.
Am Ende belegte das Sky-Nachfolgeteam Ineos zwar mit Egan Bernal und Geraint Thomas die ersten zwei Plätze im Gesamtklassement – aber sogar das entschied sich erst auf den letzten drei (!) Kilometern der vorletzten Etappe, als es in den Alpen bis ins 2365 Meter hochgelegene Val Thorens hinauf ging. Selbst dort vollzog sich noch die Rückkehr in die Anarchie des Radsports!
David Lappartient, der bretonische Präsident des Welt-Radsportverbandes (UCI), überlegte während dieser verrückten Frankreich-Rundfahrt obendrein, ob man die taktischen Anweisungen der Teamchefs per Funk an deren Fahrer verbieten sollte. Lappartient findet, wegen dieser ständigen Funk-Anweisungen würde allzu strategisch gefahren, würden die Profis fremd bestimmt. „Ohne Kommunikationssysteme“, so Lappartient, „geht es wieder mehr um die fahrerische Intelligenz.“ Was durchaus zur Debatte stehen sollte.
Nicht zur Debatte steht hingegen die Leistung des 39jährigen Spaniers Alejandro Valverde, der Paris als Neunter erreichte. Valverde, als Doping-Sünder von 2010 bis 2012 gesperrt, startete als aktueller Weltmeister und Kapitän der Movistar-Equipe in dieser dreiwöchigen Frankreich-Rundfahrt obendrein einen Selbstversuch. Mit nur 60 Kilogramm Gewicht, bei einer Körpergröße von 1,77 Meter, war er in Brüssel gestartet. Und wusste, dass er während dieses strapaziösen Rennens weiterhin abnehmen würde, was ein kaum zu steuerndes gesundheitliches Risiko bedeuten könnte. Es ging alles gut und Valverde steuerte seine Equipe von Tag zu Tag umsichtiger durch dieses anarchische Rennen.
Übrigens, am letzten Freitagnachmittag sahen rund 2,5 Millionen Sportbegeisterte hierzulande bei der ARD diese irre Tour. Der Ausdauersport, ob per pedes oder per Velo, scheint also zu ziehen. Noch nicht so sehr, wie in unseren Nachbarländern Dänemark (65 % Sehbeteiligung) und Holland (56 %) – aber es war schon mal ein Anfang.