800 m - OLympische Spiele - 2020 Tokyo Olympic Games Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
TALENTAUSWAHL UND -ENTWICKLUNG IM DLV: PotAs-Kriterien und die Wirklichkeit von Dr. Wolfgang Blödorn
Erfolg setzt Leistung voraus! Aber, ist es nicht auch möglich, Erfolg zu haben, ohne eine bessere Leistung vorweisen zu können? Es scheint so, als wäre das Eine ohne das Andere nicht möglich.
Auf jeden Fall gehören aber Erfolg und Leistung zusammen. Auf Dauer wird der Erfolg sich nur einstellen, wenn die entsprechende Leistung vorhanden ist. Das zum Erfolg notwendige Quäntchen Glück ist leider nicht immer zur Hand. Kurz: Mit den zum Erfolg notwendigen Leistungen wird der sportliche Erfolg wahrscheinlicher.
Die DOSB-Kriterien zur Leistungsförderung
Der DOSB entwickelte in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung zahlreicher Experten und Expertinnen ein Konzept zur Neustrukturierung des deutschen Leistungssports. Das Konzept wurde im Dezember 2016 beschlossen. Als eines von mehreren Kern-Elementen soll das Potenzialanalysesystem (PotAs) den Leistungssport in Deutschland voranbringen und auf die Sprünge helfen.
Mit dreizehn Hauptattributen und 132 Fragestellungen für Individualsportarten des Sommers soll mit PotAs eine Optimierung der Leistungsförderung vom Nachwuchsathleten bis zum Spitzenathleten gelingen. So soll der sportliche Erfolg Deutschlands in internationalen Wettkämpfen durch die Leistung der Spitzenverbände wahrscheinlicher gemacht werden können.
„Die zentrale Aufgabe der PotAs-Kommission ist die Bewertung von Leistungselementen (sog. Attributen) in den jeweiligen Disziplinen der Spitzenverbände nach objektiven, transparenten, sportwissenschaftlichen und sportfachlichen Bewertungskriterien, die für eine perspektivische Leistungserbringung („4-8 Jahre zum Podium“) und zur Gewährleistung eines humanen Leistungssports relevant sind“, so steht es im Vorwort zum Anforderungs- und Bewertungsleitfaden der PotAs-Kommission für die Sommersportverbände 2019/2020.
Wie weit ist diese Zielstellung des DOSB, die Optimierung der Leistungen, seit der PotAs-Einführung am Beispiel des DLV-Nachwuchses über 800 m gelungen? Dieser Frage soll im Folgenden kurz nachgegangen werden.
Die PotAs-Kommission stellt in ihrer Anlage 5 (Handlungsempfehlungen für die Erstellung einer Rahmentrainingskonzeption) im Nachwuchs-Leistungssport-Konzept 2020 unter dem Aspekt Talentsichtung und Talententwicklung die Fragen „Wann, durch wen und nach welchen Kriterien erfolgen Sichtungsmaßnahmen? Werden Mindestanforderungen bzw. Orientierungen definiert?“ sowie „Wird die Entwicklung berücksichtigt (dynamische Herangehensweise statt Momentaufnahme)?“ Zudem wird unter dem Aspekt Trainings-, Leistungs- und Wettkampfdokumentation die Frage gestellt, „Wie wann, und unter wessen Verantwortung erfolgt die Einschätzung der Leistungsentwicklung und Entwicklungsprognose?“ Beim DLV dürfte zu diesen Fragestellungen die Ständige Konferenz Talententwicklung und Nachwuchsförderung sowie die Ständige Konferenz Leistungssport des DLV-Trainerteams und ihre jeweiligen Vorsitzenden verantwortlich zeichnen.
Der DLV-Nachwuchskader
Die Spitzenverbände waren in die Diskussion zur im Dezember 2016 verabschiedeten PotAs eingebunden. Daher bietet es sich an, den DLV-Kaderjahrgang 2017 als ein Beispiel zu wählen, um zu überprüfen, ob die Ständige Konferenz Talententwicklung und Nachwuchsförderung sowie die Ständige Konferenz Leistungssport des DLV-Trainerteams und ihre jeweiligen Vorsitzenden mit ihrer Arbeit und ihren Potenzialanalysen erfolgreich waren.
Besonders die C- und C/D-Kader sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Stellen sie doch per Definition durch den DOSB das Potenzial der zukünftigen Olympiateilnehmer. Die Leistungsentwicklung der DLV-800 m-Nachwuchskader kann einen – wenn auch begrenzten – Aufschluss über die Auswahl der C- und C/D-Kader-Athleten sowie die Einschätzung ihres Potenzials durch die jeweils verantwortlichen Bundestrainer, Chefbundestrainer sowie den Ständigen Konferenzen Talententwicklung und Nachwuchsförderung und Leistungssport des DLV-Trainerteams mit ihren Vorsitzenden geben.
Die leistungsstärksten Athleten dieser DLV-Nachwuchskader (C- bzw. C/D-Kader) sollen nach Auffassung des DOSBs mit einer „8-Jahres-Perspektive“ für die übernächsten, also für den Kader 2017 die Olympischen Spiele 2024 in Paris, aufgebaut werden. Für die weiteren Nachwuchsathleten fordert der DOSB einen „langfristigen Leistungsaufbau“.
Nun können an dieser Stelle nicht alle Disziplinen angeführt werden. Deshalb wurde für diese Untersuchung die 800 m-Strecke männlich und weiblich exemplarisch ausgewählt. Die DLV-C- bzw. C/D-Kaderathleten über 800 m aus dem Jahr 2017 erfüllen zumindest in Bezug auf ihr Alter (Jahrgänge 1998 bis 2001) die Chance für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris.
Die DOSB-Anforderungen an den DLV-Bundeskader bestimmen die Kriterien für die Auswahl der DLV-C- bzw. C/D-Kader-Athleten. Wie haben sich die von den Verantwortlichen ausgewählten DLV-Nachwuchskaderathleten über 800 m nun bis 2021 leistungsmäßig entwickelt? Ist ihnen sogar – was das Ziel der Nachwuchsförderung ist – der Sprung in den DLV-Perspektivkader oder gar DLV-Olympiakader gelungen? Die Kaderberufung für die Weltmeisterschafts- und Europameisterschafts-Saison 2022 werden es endgültig zeigen.
Die Untersuchung
2017 wurden zwanzig Läufer in den männlichen B-, den C- und den D/C-Kader über 800 m berufen. Darunter elf C- bzw. D/C-Kader-800 m-Läufer. Im weiblichen DLV-A-, B-, C- und C/D-Kader finden sich für 2017 sechzehn 800 m-Läuferinnen. Davon gehören zehn dem DLV-C- bzw. C/D-Kader an. Insgesamt stehen demnach 21 DLV-C- bzw. C/D-Kaderathleten zur Überprüfung zur Verfügung.
Einen ersten Eindruck zu den Ergebnissen der Leistungsentwicklung der DLV-C bzw. C/D-Kaderathleten seit 2017 bieten die Tabelle 1 (männlich) und die Tabelle 2 (weiblich). Zur besseren Übersicht wurden die jeweiligen bisher erzielten persönlichen Bestzeiten rot und fett hervorgehoben.
Tab. 1: Leistungsentwicklung des männlichen DLV C- und C/D-Kaders über 800 m von 2016 bis 2021
Tab. 2: Leistungsentwicklung des weiblichen DLV C- und C/D-Kaders über 800 m von 2016 bis 2021
LEGENDE für Tab. 1 und Tab.2: k.A.=keine Angaben in der DLV-Bestenliste bzw. in der Leichtathletik-Datenbank.de gefunden, für 2021 auch nicht unter den ersten Fünfzig; *=Leistung über 1500 m; **=Leistung über 400 m; ***=Leistung über 200 m
Diskussion der Untersuchungsergebnisse
Fünf von 21 C- bzw. C/D-Kaderathleten konnten ihre Eingangsleistung, welche zur Kaderberufung führte, in den Folgejahren nicht verbessern. Dies ist schon eine sehr hohe Quote und stellt deren Talentauswahl grundsätzlich in Frage!
Acht Läufer erzielten innerhalb der folgenden zwei Jahre ihre persönliche Bestzeit. Nur vier Läufer erzielten ihre persönliche Bestleistung fünf Jahre nach ihrer Berufung. Davon ist nur einer Läuferin – entsprechend ihres Alters – ein Vordringen in neue Leistungsdimensionen gelungen. Von zehn – d.h. knapp der Hälfte – ehemaligen C- bzw. C/D-Kader-Athleten darf man annehmen, sie haben ihre sportliche Karriere beendet.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung decken sich übrigens mit denen der Studie der Leistungsentwicklung der DLV-Jahrgangsbesten der U18- und U20-Klassen seit 2000. Auch hier wurden in der weitaus überwiegenden Mehrzahl frühzeitige persönliche Bestleistungen (Häufung der persönlichen Bestleistungen im Alter von 19 Jahren) festgestellt.
Das Ergebnis dieser Untersuchung ist für den DLV und die Arbeit seiner Bundestrainer bezüglich Talentauswahl und Talententwicklung alles andere als zufriedenstellend!
Vor dem Hintergrund der Tabellen 1 und 2 stellt sich die Frage, welche Maßstäbe für die Kaderberufung 2017 galten und was die Kriterien zur Talentauswahl im DLV aktuell sind. Eine Momentaufnahme der Leistung, wie z.B. die Platzierung bei Deutschen Meisterschaften, ist vom DOSB ausgeschlossen worden und kann es daher nicht sein! Und wie sieht es mit den Kriterien für eine Talentprognose, dem Potenzial einer möglichen Leistungsentwicklung der Läufer aus?
Der DLV ist in der Pflicht, seine Kriterien der Talentauswahl den Vereinstrainern für ihre Arbeit offen zu legen.
Nur so können sie ihre Trainingsarbeit darauf ausrichten. Nur so kann eine positive Entwicklung über eine bessere Nachwuchsarbeit im DLV mittel- und langfristig zum Erfolg führen. Eine bloße Nennung von Kadernormen reicht nicht aus! (Anmerkung: Eine Prognosemöglichkeit für eine Talentauswahl wurde z.B. in germanroadraces.de unter „NACHBARSTRECKE UND WETTKAMPFLEISTUNG“ vorgestellt.)
Betrachtet man das Ergebnis dieser Untersuchung weiter kritisch, so könnte man denken, für die Kaderberufung der Nachwuchskader 2017 habe das zukünftige Potenzial für eine Olympiateilnahme eine untergeordnete Rolle gespielt. Wichtiger – so könnte man den Eindruck gewinnen – erschiene eine gute Platzierung z.B. bei den U18- und U20-Europameisterschaften. Hierfür spräche das Faktum der altermäßigen sehr frühen persönlichen Bestleistung. Träfe diese Vermutung zu, wäre dies eine Konterkarierung der Absichten und Ziele des PotAs. Bei der Talentauswahl sollen gerade mittel- und langfristige Leistungsziele die entscheidende Rolle spielen. Die vom DOSB in der oben angeführten Anlage 5 der Handlungsempfehlungen wurden – so scheint es – vom DLV nicht befolgt. Ein langfristiger Leistungsaufbau ist jedenfalls für den Kaderjahrgang 2017 nicht wirklich erkennbar.
Quo vadis DLV mit dieser Nachwuchsarbeit?
Auf der Grundlage der Leistungsentwicklungen der C- bzw. C/D-Kader 2017 muss man kein Hellseher sein, um mit sehr großer Sicherheit behaupten zu können, dass den Anforderungen des DOSB nicht entsprochen wurde. Die Chancen für nahezu alle Läufer des Kaders, eine Platzierung bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris unter den ersten Acht zu erzielen, tendiert gegen Null. Die Leistungsentwicklung der untersuchten Athleten des Kaderjahrganges 2017 im 800 m-Lauf stellt der Arbeit und somit der Leistung der Bundestrainer und ihren Vorgesetzten kein positives Leistungszeugnis im Sinne der DOSB-Kriterien aus.
Diese Leistungsbewertung der DLV-Arbeit gilt unabhängig von den unterschiedlichsten Gründen der i.d.R. unzureichenden Leistungsentwicklung der C- bzw. C/D-Kaderathleten von 2017. Dazu sind die jeweiligen Leistungsentwicklungen – bis auf eine Ausnahme – der 21 Athleten zu deutlich nicht ausreichend.
Die Ständige Konferenz Talententwicklung und Nachwuchsförderung sowie die Ständige Konferenz Leistungssport des DLV-Trainerteams und ihre jeweiligen Vorsitzenden ist aufgefordert, die DLV- Kriterien zur Talentauswahl – nicht nur für die 800 m-Distanz – zu veröffentlichen.
Dies könnte ein erster und wichtiger Schritt zur Verbesserung des internationalen Leistungstandes der deutschen Leichtathletik sein. Die Zukunft – auch im Sport – ist in der Nachwuchsauswahl und -förderung zu suchen.
Dr. Wolfgang Blödorn
https://germanroadraces.de/?p=185462