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14
05
2025

Frida – auf dem Bild achtjährig – leidet an einer seltenen Stoffwechselkrankheit. Eine Ernährungsberatung spielt bei der Behandlung eine wichtige Rolle. - Foto:: Kinderspital Zürich - Universität Zürich - UZH

Seltene Krankheiten – Vergiftete Körper – Univesität Zürich -UZH – Adrian Ritter

By GRR 0

Viele seltene Krankheiten betreffen den Stoffwechsel im Körper. Für die Betroffenen und für die Wissenschaft sind sie eine Herausforderung. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt ITINERARE untersucht solche Leiden und entwickelt neue Therapien.

Frida war eineinhalb Jahre alt, als das Leiden begann. Eines Tages erbrach sie sich plötzlich und verlor auf dem Weg zum Kinderarzt das Bewusstsein. Auf der Intensivstation konnte ihr Leben im letzten Moment gerettet werden. Die Diagnose: Frida leidet an einer Krankheit, die den sperrigen Namen Methylmalonazidurie (MMA) trägt.

Es ist eine seltene, genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit. Ihrem Körper fehlt ein Enzym, um bestimmte Proteine abzubauen. In der Folge sammeln sich giftige Stoffe im Körper an, die insbesondere das Gehirn und langfristig die Nieren schädigen. Entsprechend zeigten sich auch bei Frida in den Jahren nach der Diagnose die typischen Symptome. Sie litt an einer verzögerten körperlichen Entwicklung, lernte später sprechen und ist auf Rollstuhl und Rollator angewiesen.

30 Personen mit der gleichen Diagnose

Schweizweit haben nur etwa 30 Personen dieselbe Diagnose wie Frida – deshalb gehört Methylmalonazidurie zu den seltenen Krankheiten. Rund 8000 solche «rare diseases» sind heute bekannt. Es sind dies Leiden, von denen weniger als eine von 2000 Personen betroffen sind. Die meisten dieser Krankheiten sind durch einen vererbten Defekt in einem einzelnen Gen verursacht. Sie machen sich zwar nicht immer, aber oft schon im Kindesalter bemerkbar.

In der Schweiz gibt es rund eine halbe Million Menschen mit einer seltenen Krankheit. Insgesamt sind sie also gar nicht so selten, auf jede einzelne Krankheit bezogen allerdings schon. Entsprechend begegnen Ärztinnen und Ärzte diesen Leiden kaum. So ist es kein Wunder, dass der Weg zur Diagnose für viele Betroffene oft einer Odyssee gleicht. «Im Durchschnitt dauert es fünf Jahre, bis eine Person mit einer seltenen Krankheit die richtige Diagnose erhält», sagt Olivier Devuyst. Der UZH-Physiologe ist Spezialist für Nierenkrankheiten und Co-Leiter des Universitären Forschungsschwerpunkts ITINERARE der Universität Zürich, der sich mit seltenen Krankheiten auseinandersetzt und nach neuen Behandlungen sucht.

Stärker ausgeprägt als andere Krankheiten

Die Methylmalonazidurie ist eine typische und untypische seltene Krankheit zugleich. Untypisch, weil sich die Krankheit über einen Blut- und Urintest schnell und einfach diagnostizieren lässt – wie das auch bei Frida der Fall war. Die jahrelange Odyssee bleibt den meisten Betroffenen erspart. Typisch ist MMA insofern, als sie wie viele seltene Krankheiten den Stoffwechsel betrifft und zu einer langsamen Vergiftung des Körpers führt. «Seltene Krankheiten sind extreme Ausprägungen von häufigeren Krankheiten», sagt Devuyst. So gibt es seltene Nierenkrankheiten, seltene Formen von Diabetes oder Bluthochdruck. Extrem sind sie, weil die Krankheiten oft stärker ausgeprägt sind und früher im Leben auftreten als andere Krankheiten.

Die Forschung zu seltenen Krankheiten hilft deshalb auch, mehr über häufige Krankheiten zu lernen – und umgekehrt. Dabei stehen die Forschenden vor speziellen Herausforderungen: Weil die Krankheiten eben selten sind, gibt es nur sehr wenige Betroffene, aber auch wenige Expertinnen und Experten zur jeweiligen Erkrankung. Internationale Zusammenarbeit ist deshalb unabdingbar, aufgrund unterschiedlicher Gesundheitssysteme aber kompliziert.

Für rund 90 Prozent der seltenen Krankheiten gibt es bis heute keine Therapie, die an den Ursachen ansetzt.

Matthias Baumgartner
Abteilungsleiter Stoffwechselkrankheiten am Universitäts-Kinderspital Zürich

Auch die Finanzierung ist ein grosses Problem: Für Pharmafirmen sind seltene Krankheiten wegen der kleinen Anzahl Behandlungen wenig interessant. Entsprechend unterfinanziert ist die Forschung. «Deshalb gibt es für rund 90 Prozent der seltenen Krankheiten bis heute keine Therapie, die an den Ursachen ansetzt», sagt Matthias Baumgartner, Abteilungsleiter Stoffwechselkrankheiten am Universitäts-Kinderspital Zürich. Meist liessen sich aber die Symptome behandeln. «Je nachdem, wie gut das möglich ist, ist auch die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten mehr oder weniger hoch.»

Einzigartig in Europa

Baumgartner bildet gemeinsam mit Olivier Devuyst und der Genetikerin Janine Reichenbach das Direktorat von ITINERARE. Der Forschungsschwerpunkt umfasst 21 Forschungsgruppen. Diese gehen nicht nur medizinischen, sondern auch ökonomischen, ethischen und sozialen Fragestellungen im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten nach. Fachrichtungen wie Medizin, Informatik, Pharmakologie, Psychologie, Ethik, Recht arbeiten dabei zusammen. «Mit diesem breiten interdisziplinären Ansatz sind wir in Europa vermutlich einzigartig», sagt Baumgartner.

Der Forschungsverbund fokussiert auf Krankheiten, zu denen auf dem Platz Zürich schon Expertise vorhanden ist. Je nach Krankheit bestehen dabei sogar jahrzehntelange Traditionen – so wurden gewisse seltene Krankheiten am Universitäts-Kinderspital Zürich entdeckt. Die räumliche Nähe der Spitäler, der UZH und der ETH ist für den interdisziplinären Ansatz von ITINERARE ein grosser Vorteil. Das Ziel des Verbundes: Zürich soll zum weltweit bekannten Zentrum in der Forschung und Behandlung von seltenen Krankheiten werden, auch für Patientinnen und Patienten aus dem Ausland.

«Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte beim Verständnis seltener Krankheiten gemacht», sagt Olivier Devuyst. Möglich wurde dies insbesondere dank Weiterentwicklungen in der Genomanalyse. So ist heute bei den meisten seltenen Krankheiten die zugrundeliegende Erbgutveränderung bekannt. Jetzt geht es darum, die Mechanismen zu verstehen, die dadurch ausgelöst werden, und anschliessend passende Therapien zu entwickeln.

Suche nach Wirkstoffen beschleunigen

Dazu kann auch künstliche Intelligenz beitragen. «Mit KI können wir die Wirkstoffsuche beschleunigen und noch präzisere Krankheitsmodelle entwickeln», sagt Devuyst. Dabei hätten «rare diseases» auch einen Vorteil: «Im Gegensatz zu häufigen Krankheiten löst in der Regel nur ein einziges Gen eine seltene Krankheit aus, deshalb ist die Chance höher, eine wirksame Behandlung zu finden.»

Bei der Suche nach neuen Therapien gibt es grundsätzlich zwei Ansätze. Entweder es gelingt, den genetischen Defekt mittels Gentherapie zu reparieren, oder man kann dessen Auswirkungen minimieren. In diesem letzteren Zusammenhang hoffen die Forschenden, dass sich bereits existierende Medikamente auch als wirksam gegen seltene Krankheiten erweisen. Denn bei diesem «repurposing» von Medikamenten ist die Zulassung stark vereinfacht.

Vermehrt wollen die Zürcher Forschenden auch Ernährungstherapien entwickeln, die den Stoffwechsel beeinflussen. Auch bei Methylmalonazidurie sind diese zentral. So muss Frida ein Leben lang eine eiweissarme Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. Die Ernährungsberatung spielt deshalb bei ihrer Betreuung eine wichtige Rolle. In Zukunft könnten aber auch Medikamente die toxischen Stoffe im Körper abbauen helfen oder eine Gentherapie den Erbgutdefekt korrigieren, hoffen Baumgartner und Devuyst.

Engagierte Betroffene

Der Universitäre Forschungsschwerpunkt ITINERARE ist 2021 gestartet. Bereits jetzt laufen drei klinische Studien – in den nächsten Jahren sollen weitere hinzukommen. Die Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten sind hoch motiviert, sich daran zu beteiligen. «Weil es für jede Krankheit so wenig Betroffene gibt, sind diese umso besser vernetzt und sehr engagiert», so die Erfahrung von Baumgartner. Gerade bei seltenen Krankheiten werden die Patientinnen und Patienten besonders stark eingebunden, etwa wenn es darum geht, welchen Fragestellungen die Forschung nachgehen soll oder welche Art von Behandlung für sie nützlich ist.

Psychologische und ethische Fragestellungen nehmen am UFSP ITINERARE ebenfalls eine wichtige Rolle ein. Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten sind dabei in einer besonderen Situation, weil ihre Krankheit sie oft ein Leben lang begleitet. Dank verbesserter Behandlungen konnte die Lebenserwartung vieler Betroffener in den letzten Jahrzehnten zum Teil deutlich gesteigert werden. Umso mehr gilt es jetzt, auch den Blick auf die Situationen dieser Menschen im Erwachsenenalter und im höheren Alter zu richten.

Am Forschungsschwerpunkt gehen Psycholog:innen etwa den Fragen nach, mit welchen Einschränkungen Betroffene leben oder welche Unterstützung sie benötigen. Dabei zeigte sich, dass Kinder oft erstaunlich gut mit ihrer Krankheit zurechtkommen – besser als ihre nächsten Angehörigen. Für die Eltern sind die Diagnose-Odyssee und fehlende Heilungsaussichten sehr belastend. Bisweilen werden sie auch von Schuldgefühlen geplagt, weil sie ihrem Kind eine Krankheit vererbt haben. Entsprechend wird an den Behandlungszentren vermehrt auch psychologische Unterstützung angeboten.

Verbesserte Lebensaussichten

Die Behandlung seltener Krankheiten hat strukturell grosse Fortschritte gemacht. So sind aufgrund eines nationalen Aktionsplans schweizweit neun Diagnosezentren an grossen Spitälern entstanden. Eines davon ist das Zentrum für seltene Krankheiten Zürich, das gemeinsam vom Universitäts-Kinderspital Zürich, dem Universitätsspital Zürich, der Universitätsklinik Balgrist und dem Institut für medizinische Genetik der UZH geführt wird.

Ist die Diagnose gestellt, erfolgt die Behandlung anschliessend an einem von schweizweit 36 Referenzzentren für seltene Krankheiten. Diese sind derzeit im Aufbau. Ebenfalls am Entstehen ist ein Register für seltene Krankheiten. Ein wichtiger Schritt nach vorn ist gemäss Baumgartner und Devuyst, dass es bald eine gesetzliche Grundlage geben wird, um seltene Krankheiten meldepflichtig zu machen.

Die beiden Forscher würden es zudem begrüssen, wenn in der Schweiz der Zugang zur genetischen Diagnostik vereinfacht würde. «Es wären wichtige Schritte, damit Betroffene in Zukunft früher eine Diagnose und damit auch schneller eine passende Behandlung erhalten können», sagt Baumgartner. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt ITINERARE will massgeblich dazu beitragen, dass dies Realität wird und sich damit die Lebensaussichten von Betroffenen wie Frida weiter verbessern.

author: GRR