So scheint es im Moment zweimal Peking zu geben. Das wahre Peking und das Peking der Spiele, ein Raumschiff, das gelandet ist und Sportler, Journalisten und Ansprüche mitgebracht hat
Peking und Olympia – Die doppelte Stadt – Das Leben hat sich geteilt: In diesen Tagen gibt es das wahre Peking und das Peking der Olympischen Spiele. Nur selten begegnen sich beide. Eine Reportage unserer Olympia-Reporter Friedhard Teuffel und Benedikt Voigt im Tagesspiegel.
Am Samstagabend passiert plötzlich etwas Unerwartetes im Nationalstadion von Peking. Eine La Ola. Ohne Aufforderung. Sie rollt durch das Stadion, einmal, zweimal, 91 000 Menschen springen jubelnd von ihren Sitzen auf. Dabei ist noch gar nicht viel passiert bei der Leichtathletik, das Finale über 100 Meter kommt erst noch. Auf einmal fühlen sich die Olympischen Spiele ganz leicht an.
Eine Woche zuvor gab es auch schon eine Welle. Vor der Eröffnungsfeier hatten Moderatoren sie mit dem Publikum eingeübt. Als die Feier dann losging, blieben die Zuschauer sitzen. Dafür trommelten anschließend 2008 Soldaten auf truhenartige Instrumente ein. Es war ein lauter Auftakt zu diesen Spielen. Und die westliche Welt fragte sich, ob Olympia nicht erdrückt werden könnte von lauter politischen Diskussionen.
Drinnen läuft der Science-Fiction
Vom Knall der Eröffnungsfeier ist inzwischen nicht mal mehr ein Fiepen im Ohr geblieben. „Die Magie der Spiele wird jetzt übernehmen“, hatte Jacques Rogge vorhergesagt, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Die Spiele sind auch jetzt nicht mehr rot wie noch bei der Eröffnungsfeier, als die chinesische Fahne das dominante Symbol war. Sie sind blau. Das ist die Hintergrundfarbe der Spiele, ob beim Gewichtheben, beim Tischtennis oder im Schwimmstadion, das auch von außen blau leuchtet.
Dort tritt der erste Star dieser Spiele auf, Michael Phelps, 23 Jahre alt. Er bricht einen Weltrekord nach dem nächsten, und für einen wie ihn ist wohl auch der Spot gedreht worden, der vor jedem Wettkampftag auf der Videowand eingespielt wird. Einige der besten Athleten der Welt springen, rennen, turnen darin wie in einem Science-Fiction-Film herum, wie Superhelden, die gleich die Welt retten müssten. Dazu redet ein älterer beleibter Mann. Er sieht mit seinem dunklen Gewand und seinem grauen Bart aus, als sei er gerade dem Alten Testament entstiegen. Am Ende sagt er: „Macht uns stolz darauf, Menschen zu sein. Los, bringt uns zum Staunen!“ Es ist ein Spot des Internationalen Olympischen Komitees. Dann tanzen erst einmal die fünf Maskottchen der Spiele durch das Schwimmbad.
Wenn die Maskottchen verschwunden sind, wird der Innenraum international. Ein chinesischer und ein amerikanischer Hallensprecher stellen die Schwimmer des nächsten Rennens vor, und immer wenn eine chinesische Athletin oder ein chinesischer Athlet dabei ist, brüllt die halbe Halle auf. Es ist ein heller, tosender Schrei, der aber schnell wieder abklingt.
Draußen guckt kaum einer
Am Samstagvormittag am Westeingang des Chaoyang-Park ist die Begeisterung der Chinesen für diese Spiele verschwunden. Auf dem Bildschirm des abgezäunten Public-Viewing-Areals flimmert das Volleyballspiel China gegen USA, doch niemand sieht es. Das Gelände wirkt unwirklich, die Souvenirstände halten keine Souvenirs bereit, der Essensstand ist geschlossen. Die Volunteers sagen, dass abends rund 100 Menschen kämen. Im gegenüberliegenden US-amerikanischen Restaurant wundert sich die Kellnerin selbst über diese Zahl. „Dort guckt kaum einer“, sagt sie.
Im Süden Pekings sind die Olympischen Spiele hingegen ein Erfolg. Der Schriftsteller Shuyang Su sitzt im Arbeitszimmer in der Erdgeschosswohnung eines Pekinger Wohnblocks, die Fotos im Bücherregal zeigen ihn mit Staatspräsident Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao und dokumentieren seine Zuneigung zur kommunistischen Partei. „Die Wirkung der Olympischen Spiele wird riesig sein“, sagt der 70 Jahre alte Autor, der auch Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes ist. „Zum ersten Mal können wir zeigen, was wir geleistet haben – uns selbst und der ganzen Welt.“ Er glaubt, dass diese Spiele als Zäsur in die chinesische Geschichte eingehen werden, als Wendepunkt in der Entwicklung von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft.
Die Spiele zeigten, dass China mit ausländischen Nationen zusammenarbeiten könne. „Sie werden einen positiven Wandel bewirken, auch in dem, was man von uns verlangt, bei den Menschenrechten und einer transparenteren Politik“, sagt Shuyang Su. „Nach den Olympischen Spielen wird in der chinesischen Gesellschaft eine große Diskussion stattfinden, über politische Theorie und über politische Veränderung.“
Alles für die Sicherheit
Im Ritan Park hat die Veränderung bereits stattgefunden, ob sie positiv ist, steht zu bezweifeln. Seit Beginn der Spiele gibt es Eingangskontrollen, Journalisten müssen sich in eine Liste eintragen. „Für die Sicherheit“, sagt eine Beamtin am Eingang. Als eine blonde Frau mit gelber Akkreditierungskarte durch das Tor geht, raunen sich die Türposten zu: „Ji zhe“, Journalist. Und laufen hinterher. Im Park spazieren auffällig viele jüngere Männer paarweise herum, manche tragen einen kleinen Kopfhörer im Ohr.
Andere Männer sitzen alleine auf Bänken. Auf Nachfrage stellt sich einer dieser Männer als Gartenbauarbeiter vor, kann aber keine einzige Blumensorte benennen. Auf braunen Säulen befinden sich Überwachungskameras. Als der Journalist geht, greift eine Dame, die sich als Parkmitarbeiterin vorgestellt hat, zum Telefon und berichtet: „Das war ein deutscher Journalist aus Berlin.“ Willkommen in der offiziellen Protestzone der Olympischen Spiele.
Im Ritan Park tummelt sich Zivilpolizei. Der 478 Jahre alte Park ist einer von drei Orten, an denen während der Spiele Proteste erlaubt sein sollen, wie Liu Shaowu, Sicherheitsbeauftragte des Pekinger Organisationskomitees, vor den Spielen auf eine Nachfrage hin erstaunlich beiläufig bekannt gegeben hatte. Demonstrationen in Peking wären ein tatsächlicher olympischer Fortschritt, doch diese Protestparks sind eine Farce. „Ich komme jeden Tag hierher, einen Protest habe ich noch nicht gesehen“, sagt eine Mutter.
Wie auch, fünf Tage vorher müssen die Anträge eingereicht werden, inklusive der Angabe des Protestgrundes, der Teilnehmer und der mitgeführten Transparente. Und der Protest muss genehmigt werden. Trotz wiederholter Nachfragen kann oder will Wang Wei, Sprecher des Pekinger Organisationskomitees Bocog, keine Details dazu nennen. „Bis jetzt wissen wir nicht, wie viele Anträge eingegangen sind und wie viele genehmigt worden sind“, sagt er.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch weiß mehr. Sie berichtet von einem Antragssteller, der festgenommen wurde und seitdem verschwunden ist. Ji Sizu, ein selbsternannter Bürgeranwalt aus der Provinz Fujian, hatte am 8. August nach Auskunft von Human Rights Watch bei der Polizeistation Deshengmenwai eine Demonstration für eine bessere Beteiligung der Bürger an politischen Prozessen in China und gegen Machtmissbrauch angemeldet. Als er sich am 11. August über den Stand seines Antrags informieren wollte, ist er laut der Menschenrechtsorganisation mit einem Auto an einen unbekannten Ort gebracht worden. „Beim Vorgang der Protestanmeldung geht es nicht darum, den Menschen Meinungsfreiheit zu gewähren, sondern es der Polizei zu erleichtern, sie zu unterdrücken“, sagt Sophie Richardson, China-Expertin von Human Rights Watch.
Das Raumschiff ist gelandet
. Nur selten begegnen sich die beiden Pekings.
Auf dem Olympic Green ist die Stimmung am Samstagmittag prächtig. Mütter fotografieren ihre Kinder vor den olympischen Maskottchen, vor Eingängen der Sponsorenpavillons bilden sich Schlangen. Das war nicht immer so. An den ersten Tagen sammelten sich die von den Spielen begeisterten Chinesen nur vor dem Zaun, der das Gelände begrenzt. Bis in die Nacht hinein fotografierten sie sich gegenseitig vor dem Nationalstadion, dem Vogelnest.
Nach Protesten der Sponsoren hat Bocog 100 000 Tickets für das Gelände herausgegeben. „Seitdem ist die Stimmung gut“, sagt ein Mitarbeiter eines Hauptsponsors. Seit dem Start der Leichtathletik kommen nun auch täglich zweimal je 91 000 Zuschauer hinzu. Nun sind die Spiele auf dem Olympic Green voll und laut.
Richtig chinesisch eben.
Eine Reportage unserer Olympia-Reporter Friedhard Teuffel und Benedikt Voigt im Tagesspiegel, Sonntag, dem 17. August 2008