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NACHBARSTRECKE UND WETTKAMPFLEISTUNG – Eine Analyse zur Abhängigkeit von Laufleistungen auf flachen Strecken in der Leichtathletik – Von Dr. Wolfgang Blödorn
Nun ist sie da, die Zeit, in der die Bundestrainer tüfteln und tagen, welche Athleten es aufgrund ihrer Leistungen in diesem Jahr verdient haben, in den Bundeskader berufen zu werden. Es geht dabei aber nicht (nur) um die Leistungen in der nunmehr verflossenen Saison.
Vor allen Dingen geht es um die individuelle, sportliche Zukunft der Athleten. Welche Perspektive besitzen sie, um im internationalen Leistungskonzert der Zukunft mitspielen zu können? Welches Potential werden sie abrufen können?
Mit dem Potential ist es so eine Angelegenheit. Es kann auf Hoffnungen oder auf Fakten beruhen. Sicher ist auf alle Fälle, dass ein einziger Leistungsnachweis für eine Perspektivbewertung nicht ausreichen dürfte. Sicherer erscheint es da, eine Kombination von Leistungsnachweisen für eine Kaderberufung vorauszusetzen. Dies dürfte die Chancen auf einen Erfolg bei internationalen Meisterschaften erhöhen.
Eine solche Kombination besteht aus dem Verhältnis der Hauptstrecke zu den Leistungen auf der Unter- und Überdistanz. So ergibt sich ein Anforderungsprofil zu einer möglichen Perspektive, zum vorstellbaren und zu erwartenden Potential. Mit dem Zusammenhang zwischen der Wettkampfdistanz und seinen Nachbarstrecken befasst sich der nachfolgende, kurze Artikel.
Die Wettkampfleistung ist der Kulminationspunkt der verschiedensten Wettkampfvoraussetzungen. Diese Erkenntnis ist altbekannt und unumstritten. Aufgabe der Trainingswissenschaft ist es, diese Wettkampfvoraussetzungen zu erforschen und der Praxis zugänglich zu machen.
Am Beispiel der Wettkampfleistungen auf den flachen Strecken der Leichtathletik im Stadion wurde mit einer wissenschaftlichen Arbeit überprüft, ob ein statistischer Zusammenhang zwischen der Leistung auf der Hauptstrecke und der benachbarten Distanz (Streckenpaar z.B. 400/800 oder 800/1500) besteht. Ausgangspunkt dieser Grundlagenforschung waren die DLV-Bestenlisten. Als Grundlage dieser Untersuchung wurden die jährlichen Bestleistungen in den U-Altersklassen beiderlei Geschlechts sowie der Frauen und Männer gewählt, welche in einem Streckenpaar in der DLV-Bestenliste vertreten waren. Die Streckenpaare beginnen mit 100/200 und enden mit 5000/10000 m. So ist eine Kette von Streckenpaaren entstanden, in der die obere Distanz im nächsten Streckenpaar die untere Distanz darstellt. Jede Strecke taucht also zweimal auf.
Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass bei allen Streckenpaaren ihr statistisches Verhältnis über dreißig Jahre hinweggesehen konstant geblieben ist. Es ist mit dieser Methode sozusagen eine „physiologische Konstante“ entstanden, welche das Verhältnis von zwei benachbarten Strecken zueinander beschreibt. Das so entstandene Verhältnis der beiden Nachbarstrecken zueinander wird „Koeffizient der speziellen Ausdauer“ (KsA) genannt. Die KsA-Werte sind statistisch signifikant durch die Auswertung von rund 14000 Datensätze belegt.
Die Abbildung 1 gibt den Verlauf dieser KsA-Werte für verschiedene Streckenpaare im Stadion (ohne Hürden/Hindernisse) wieder. Es zeigt sich sehr deutlich, dass die Mittelwerte der KsA-Werte für verschiedene Streckenpaare und unterschiedliche Klassen nach Alter und Geschlecht sehr ähnlich verlaufen. Dies spricht wiederum zusätzlich für eine physiologisch konstante Abhängigkeit der beiden Nachbarstrecken zueinander.
Abb. 1: Abhängigkeit benachbarter Laufstrecken (W. Blödorn).
Die errechneten KsA-Werte können wegen ihrer bestehenden Konstanz als ein wissenschaftlich fundierter Ansatz für die Berechnung der speziellen Ausdauer bei benachbarten Laufstrecken genutzt werden. Zwischen zwei benachbarten Streckenpaaren kann eine logische Beziehung hergestellt werden, da eine Strecke zweimal auftritt. Diese logische Beziehung lässt sich wie folgt beschreiben: Wenn A B beeinflusst und B C beeinflusst, dann muss A auch C beeinflussen. Da die KsA-Werte der Streckenpaare statistisch konstant sind, eröffnet dies die Möglichkeit, mit Hilfe eines Modells (Abb. 2), welches auf den KsA-Werten beruht, Berechnungen über die potenzielle Leistungsfähigkeit von Athleten zur Unterdistanzleistung (400 m) erster Ordnung unten bzw. Überdistanzleistung (1500 m) erster Ordnung oben zu der Hauptstrecke (800 m) anzustellen .
In der Abbildung 2 liegt die Leistung auf der Hauptdistanz im Berührungspunkt der Standardabweichungen (Stabw) unten und oben mit der Geraden der KsA-Werte. Die hierdurch entstandenen Leistungskorridore bilden die Unterdistanzen bzw. Überdistanzen in der ersten und zweiten Ordnung ab. Die auf diesen Strecken zu erbringenden Leistungen können nun mit den entsprechenden KsA-Werten der Paarstrecken sowie ihren Standardabweichungen berechnet werden.
Abb. 2: Modell eines Anforderungsprofils im Block Lauf der Leichtathletik (W. Blödorn).
So kann mathematisch festgestellt werden, ob die Athleten mit ihren Leistungen auf der Unter- bzw. Überdistanz in der Lage sind, die geforderte Leistungen für einen Erfolg – z.B. bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften – auf der Hauptstrecke zu erbringen. Die Leistung auf der Nachbarstrecke erster Ordnung unten und die auf der ersten Nachbarstrecke oben stellen somit ein Anforderungsprofil für die Hauptdistanz dar. Diese Feststellung eines Anforderungsprofils bietet so einen statistisch sicheren Aufschluss über das Potential eines Kaderathleten. Je nach kalendarischem und Trainingsalter gilt es, die Nachbarstrecke erster Ordnung unten oder oben stärker in der Perspektivbewertung bzw. Potentialbewertung zu berücksichtigen.
Dieses Verfahren ermöglicht das Aufzeigen von möglichen Defiziten in der Unter- bzw. Überdistanzleistung eines Athleten, seien sie z.B. durch fehlende Leistungsvoraussetzungen oder durch ein möglicherweise mittel- und langfristig unzureichend angelegtes Training – besonders in den Nachwuchsklassen – begründet. Es ermöglicht darüber hinaus auch das Erstellen von konkreten Normwerten mit ihren Anforderungsprofilen – z.B. für die Bundeskader – auf der Basis einer statistisch, wissenschaftlich abgesicherten Untersuchung für Kaderathleten.
Weiterhin ist es möglich, die KsA-Werte zu nutzen, um eine individuelle Talentberatung im Nachwuchsbereich vorzunehmen. Auf der Grundlage eines Vergleiches der individuellen KsA-Werte, mit denen der statistisch ermittelten KsA-Werte, ist es möglich, die aktuelle und zukünftige Leistungsentwicklung zu prognostizieren und zu einer konkreten Hauptstrecke zu raten, welche dann unter den Gesichtspunkten eines nachhaltigen und langfristigen Leistungsaufbaus zu entwickeln (Talententwicklung) wäre.
Den über die Kadernominierung brütenden DLV-Bundestrainern wird empfohlen, bei der Kaderberufung sich der Thematik von Anforderungsprofilen intensiv zu widmen. Die Hoffnung, ob ein berechtigtes Potential vorhanden ist, kann jedenfalls mit Hilfe der KsA-Werte konkret untersucht werden.
Diese Untersuchung scheint für eine Talentsichtung wichtiger zu sein als ein Platz unter den ersten Drei bei Deutschen Nachwuchsmeisterschaften. Eine so vorgenommene Talentsichtung, Talentberatung und Talententwicklung verspricht einen größeren Talenterhalt und damit eine geringere Drop-Out-Quote von Nachwuchsathleten.
Dr. Wolfgang Blödorn
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