Christina Schwanitz: „Ich liebe mein Kugelstoßen“ - Foto: Victah Sailer
Kugelstoßerin Schwanitz: Ein verflixtes Jahr – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Saisoneinstieg war eine Katastrophe. Und dann kam es noch viel schlimmer. Doch trotz allem ist Kugelstoßerin Christina Schwanitz wieder bei Olympia dabei.
Der Saisoneinstieg war eine Katastrophe. Regenjacke und wasserdichte Stiefel hatte Christina Schwanitz mitgebracht zum ersten Meeting der Diamond League im Mai nach Gateshead im Norden von England.
Wie befürchtet schüttete es wie aus Kübeln. „Eis wäre schlimmer gewesen“, scherzt die Kugelstoßerin. Kein Wort verliert sie darüber, dass der beste ihrer vier gültigen Stöße lediglich 17,86 Meter weit ging: letzter Platz im Wettbewerb.
Denn es kam viel schlimmer.
Christina Schwanitz erholte sich damals im Mai von einem Bandscheibenvorfall; es ging ihr vor allem darum, wieder in Schwung zu kommen. Die Verletzung hatte sie sich bei der Hallen-Europameisterschaft in Toruń Anfang März zugezogen, als sie sich im letzten Versuch 19,04 Meter abrang und die Bronzemedaille gewann. Mehr als fünfzig Athleten und Betreuer, mindestens sieben von ihnen Deutsche, kehrten damals mit einer Corona-Infektion aus Polen zurück. Christina Schwanitz dagegen reiste heim mit einem tauben rechten Arm und einer tauben rechten Hand. Kein Gedanke daran, dass sie die vier Kilo schwere Eisenkugel an die zwanzig Meter weit stoßen könnte.
Gegen den Schmerz nahm sie 1200er-Ibuprofen, „eine Elefanten-Dröhnung“, wie sie sagt. Aber sie half nicht. Neurologen empfahlen schließlich eine Cortison-Injektion in die betroffene Stelle. Die Folge war dieselbe wie die für viele der Infizierten: Bettruhe. Christina Schwanitz verbrachte sie auf der Couch und versuchte sich mit Gymnastik fit zu halten.
Der erfahrenen Athletin, 35 Jahre alt, läuft die Zeit davon. „Es ist nicht einfach, mit bald 36 noch ganz vorn mitzumischen“, sagt ihr Trainer Sven Lang. Intensiv bereiteten sich die beiden auf Gateshead vor. „Endlich geht’s wieder los“, glaubte sie. Mit dem Auto von Chemnitz nach Berlin, mit dem Flugzeug nach Newcastle, Ärger über einen zu spät fertiggestellten Test – spät in der Nacht traf sie im Athletenhotel ein.
Und erst dort, um zwei Uhr am Morgen, erfuhr sie, dass Deutschland Großbritannien am Vortag zum Mutationsgebiet erklärt hatte und sie, zurück in der Heimat, zwei Wochen in Quarantäne würde gehen müssen. Das bedeutete: kein Training und kein Start bei der deutschen Meisterschaft in Braunschweig, bei der sie letzte Zweifel an der Qualifikation für ihre vierten Olympischen Spiele ausräumen wollte. So ernst nahm die Athletin die Isolierung, dass sie, um Mann und Kinder keinem Risiko auszusetzen, im Keller schlief.
„Ich liebe mein Kugelstoßen“
Während dieser Zeit erreichten sie die Nachrichten vom überraschenden Tod ihrer ehemaligen Managerin und vom Tod ihres Großvaters. Als sie, praktisch aus dem Krafttraining heraus, an einem Wettkampf in Bad Liebenzell im Schwarzwald teilnahm, war dies auch mehr Frust als Bestätigung: vier ungültige Versuche und ein Stoß auf 18,11 Meter – für die Weltmeisterin von 2015, die früher Jahr für Jahr zwanzig Meter übertraf, eine indiskutable Leistung.
Anfang Juli kehrte sie aus dem Trainingslager in Südtirol beim Meeting der Diamond League in Stockholm in den Ring zurück. Dass sie dort die Olympia-Norm von 18,40 Metern mit einer Weite von 18,59 Metern übertraf, war irrelevant. Die Zeit war abgelaufen. Die stärkste Kugelstoßerin weit und breit ist dank der dritten Plätze bei der Hallen-Europameisterschaft von Toruń in diesem Jahr und von der Weltmeisterschaft von Doha 2019, wo sie 19,17 Meter erreichte, dennoch Mitglied der Olympiamannschaft. Am Freitag vergangener Woche, um die Ecke von zu Hause, in Thum im Erzgebirge, kam sie auf 18,63 Meter – Bestleistung der Saison und Hoffnungszeichen, in Tokio endlich wieder 19 Meter zu erreichen.
Wozu all die Mühe, all der Ärger nach 25 Jahren Sport?
„Ich liebe mein Kugelstoßen“, sagt die starke Frau von 1,80 Meter Länge. „Die Kugel in der Hand und am Hals zu spüren, das ist für mich Leidenschaft, Passion, da fühle ich mich zu Hause.“ Sie wolle eines Tages auf ihr Leben zurückblicken und sagen können: „Ich war viermal bei Olympischen Spielen. Manche schaffen es nur einmal.“
Anders als von Weltmeisterschaften, bei denen sie Gold, Silber und Bronze gewann, kehrte sie von den Sommerspielen stets mit leeren Händen zurück. Peking 2008 war das erste Mal. Fünfmal hatte sie sich an den Füßen operieren lassen und reiste mit Schrauben im Körper nach China. Sie wurde Elfte. London 2012 bestritt sie, obwohl ihr fast die Sehne im rechten Arm gerissen war: Platz zehn. In Rio de Janeiro 2016 trat sie als Welt- und Europameisterin an, doch anderthalb Tage vor dem Wettkampf erfuhr sie vom Suizid ihrer besten Freundin. „Das hat mich aus den Angeln gehoben“, erinnert sie sich. Hoch favorisiert wurde sie Sechste.
Schnell hin, schnell weg
Nun also steht Tokio bevor mit Spielen, denen wegen der Pandemie voraussichtlich alles fehlen wird, was Olympia ausmacht. Schnell hin, schnell weg, so stellen sich das Internationale Olympische Komitee und die Organisatoren in Japan das für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor. Christina Schwanitz hätte die Spiele, würde sie bestimmen können, auf den Termin von Paris 2024 verschoben, Paris auf den von Los Angeles 2028 und so fort.
Wer weiß, vielleicht wird sie nach freudlosen Spielen in Japan auf ein Fest in Bayern vorausschauen wollen: auf die European Championships von München 2022 mit der Leichtathletik-Europameisterschaft im Olympiastadion von 1972 mit dem berühmten Zeltdach. Darüber wird sie entscheiden, wenn sie zum Geburtstag an Heiligabend mit Mann und Kindern zurückblickt auf ihre sportliche Laufbahn und dieses vermaledeite Jahr 2021.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 19. Juli 2021