2015 Prefontaine Classic Eugene, Oregon May 29-30, 2015 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Hochspringer Barshim – Allein gegen die Schwerkraft – Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Den Gegner zu verhöhnen ist eigentlich kein guter Stil. Mutaz Essa Barshim hat eine Kunst, zumindest ein Markenzeichen daraus gemacht. Denn als Gegner versteht der Hänfling von fast 1,90 Meter Länge nicht die besten Hochspringer der Welt, mit denen er im Wettbewerb um Goldmedaillen und Bestleistungen jenseits von 2,40 Meter steht.
„What gravity, huh?“ ist sein Motto, und er verbreitet es auf Kappe, T-Shirts und seiner Facebook-Seite. Der Schwerkraft will er es immer wieder mal so richtig zeigen, da sollen seine acht Sprünge über 2,40 Meter und mehr, da sollen Olympia-Bronze von London 2012, WM-Silber von Moskau 2013 und der Hallen-WM-Titel von Sopot 2014 nur der Anfang sein.
„Mehr als 2,45 Meter“ wolle er überspringen, sagt Barshim. Damit stellt sich der Athlet, der mit seinen Rehaugen und seinen abstehenden Ohren, mit seinen kurzen Haaren und seinen spindeldürren Armen aussieht wie ein Kind, einer der größten Herausforderungen der Leichtathletik-Welt: den bald 23 Jahre alten Weltrekord des muskulösen kubanischen Wunderspringers Javier Sotomayor zu übertreffen.
Barshims Entdecker und Trainer, der Pole Stanislaw Szczyrba, behauptet gar, dass dieser Wunder vollbringen könne. „Er kann 2,50 Meter springen“, sagt er. „Ja, kann er.“ Im Vergleich dazu erscheint das Ziel des Jahres geradezu bescheiden. „Die olympische Goldmedaille wartet auf uns“, sagt Szczyrba. „Das ist unser größtes Ziel. Wir wollen die Goldmedaille.“
Das Selbstbewusstsein, ja, die Gewissheit des Trainers hat sich auf den Athleten übertragen. Der Ehrgeiz Barshims, die Selbstverständlichkeit, mit der er die Latte im Wettkampf höher legen lässt, kontrastieren geradezu verwirrend mit dem fast scheuen Lächeln, der reinen Freude, die aus diesem Kindergesicht spricht – selbst wenn er sich mit verspiegelter Sonnenbrille und riesiger Kappe ein wenig Gangster-Chic zu geben versucht.
Er schaue nicht auf die anderen, sagt er, auf Ukhov und Bondarenko, auf Drouin und Prodsenko, die ihm in die dünne Luft oberhalb von 2,40 Meter gefolgt sind, seit er vor drei Jahren, als Erster seit mehr als einem Jahrzehnt, in diese Höhen vorstieß. Er meint das buchstäblich so. Denn nichts kann er sich von diesen explosiven Muskelmännern abschauen; sein fragiler Rücken hielte ein Krafttraining nicht aus, wie sie es machen.
Und so betrachtet er nur Videos seiner eigenen Sprünge, um herauszufinden, welche kleinen Fehler er noch vermeiden kann, wenn er aus seinem kurzen, entspannt erscheinenden Anlauf in die Luft gleitet und über die Latte schlüpft.
„Früher dachte ich, hartes Training ist besser“, sagt er. Bei Olympia in London trat er mit angeknackstem Rückenwirbel an. Im Jahr darauf, bei reduzierter Belastung, flog er so hoch wie nie zuvor. „Hart zu trainieren kann dich umbringen“, hat er gelernt. „Man muss schlau trainieren.“ 2015 übersprang Barshim in Eugene beim Diamond League Meeting 2,41 Meter; kein anderer Hochspringer erreichte auch nur 2,40 Meter.
Bei der WM in Peking wurde er Vierter. Mit dem Beginn der Olympia-Saison soll die Verschnaufpause vorbei sein. An diesem Freitagabend ist Barshim wieder der Local Hero beim Auftakt der Diamond League in Doha, wo er in den vergangenen drei Jahren siegte.
Dieser erste große Wettkampf der Saison ist fast so wichtig wie Olympia – jedenfalls für Barshims Heimat. Das kleine, superreiche Emirat am Persischen Golf, das sich Athleten, Veranstaltungen und sportliche Erfolge in einem solchen Maß zusammenkauft, dass Theo Zwanziger es straflos „Krebsgeschwür des Fußballs“ nennt, hat in Barshim ein Eigengewächs großgezogen.
Mutaz ist nicht der einzige Springer in seiner Familie
Vater Eissa Mohammed Barshim war einer der vielen Läufer, die in den achtziger Jahren gegen gutes Geld Ruhm und Ehre des Emirates in der Welt mehrten. Er kam aus Somalia und blieb in Qatar. Er holte seine Frau nach, fand eine Beschäftigung als Trainer, und alle seine sechs Kinder wandten sich, da sie praktisch auf dem Sportplatz aufwuchsen, der Leichtathletik zu.
Dem Ältesten, Mutaz, 25 Jahre alt, folgt Muamer Aissa: der 22 Jahre alte Barshim II. steht mit einer Bestleistung von 2,28 Meter auf der Startliste von Doha. Die Brüder, zwei von nur 250 000 Qataris in einem Land mit zehnmal so vielen Einwohnern, sind das, was es für kein Geld der Welt zu kaufen gibt: Identifikationsfiguren. Mutaz Essa Barshim, Überflieger in den Stadien aller Kontinente, ist die menschliche Ausprägung von Air Qatar.
In Malmö, wo er einen Großteil des Jahres lebt und trainiert, hat Barshim in diesem Jahr bereits 2,34 Meter übersprungen. In Doha will er, das deutete er gegenüber qatarischen Reportern an, 2,41 Meter am Freitagabend übertreffen.
Es gilt nur, einen einzigen Gegner zu überwinden. What gravity, huh?
Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 6. Mai 2016