Salazar war ein erbarmungsloser Front-Runner und Kämpfer und -machte auf die Zuschauer immer den Eindruck, dass er in jedem Rennen sein letztes Hemd gab.
Herzensangelegenheit – ALBERTO SALAZAR IST EINE LAUFLEGENDE. ALS DER DREIFACHE SIEGER DES NEW-YORK-MARATHONS EINEN HERZSTILLSTAND ERLITT UND ÜBER 14 MINUTEN OHNE PULS WAR, HIELT DIE LAUFSZENE DEN ATEM AN. IM EXKLUSIV-INTERVIEW MIT RUNNER’S WORLD SPRACH ER ÜBER SEINEN ZUSTAND mit Amby Burfoot
ALBERTO SALAZARS GROßE ZEIT waren die achtziger Jahre. 1981 stellte der gebürtige Kubaner in New York mit 2:08:13 Stunden einen Marathon-Weltrekord auf (der ihm aber später aber-kannt wurde, da die Strecke ein paar Meter zu kurz gewesen sein soll). Noch heute unvergessen ist sein Sie im Duell mit Dick Beardsley beim Boston-Marathon 1982, das als „Duell in der Sonne“ in die Geschichte einging.
Sensationell war auch sein Comeback 1994 beim Comrades-Marathon in Südafrika (86,4 Kilometer), den er quasi „aus dem Nichts“ gewann.
Salazar war ein erbarmungsloser Front-Runner und Kämpfer und -machte auf die Zuschauer immer den Eindruck, dass er in jedem Rennen sein letztes Hemd gab. Außerdem legte er Wert auf ein gepflegtes Äußeres, beim Laufen und auch sonst, was damals dem klassischen Image des Läufers erfrischend widersprach. Er trug die angesagtesten Klamotten und wurde zu einem Testi-monial des aufstrebenden Sportartikelriesen Nike. Salazar blieb auch nach » Beendigung seiner Laufkarriere „bekannt wie ein bunter Hund“ (Zitat des Ex-US-Präsidenten George Bush senior) und führte fortan als Trainer des „Oregon Project“, eines von der Firma Nike gesponserten Laufclubs zur Förderung von Talenten, diverse Läufer in die Weltklasse.
14-minütiger Herzstillstand
Umso größer war das Entsetzen, als Salazar am 30. Juni 2007 einen 14-minütigen Herzstillstand erlitt, der ihn fast das Leben kostete. Die Nachricht erfüllte die Laufszene mit Bestürzen. Wie konnte so etwas passieren? Ausgerechnet einem ehemaligen Super-läufer, der dreimal hintereinander (1980 – 1982) den New-York-Marathon gewonnen hatte. Dabei war Salazar erst 48 Jahre alt. Zudem war er schlank und lief noch immer regelmäßig 40 bis 50 Kilometer pro Woche. Seit dem überraschenden Tod des Laufgurus Jim Fix, der 1984 bei einem Lauf zusammenbrach und starb, hatte die Laufwelt nicht mehr -unter einem solchen Schock gestanden.
Im Herbst letzten Jahres musste Salazar sich erneut -einer Herzoperation unterziehen. Als bei den amerikanischen Olympia-Ausscheidungen im November der Topläufer Ryan Shay nach acht Kilometern kollabierte und kurz darauf verstarb, war die Öffentlichkeit endgültig alarmiert – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland:
Neun Läufer sind hierzulande im vergangenen Jahr bei verschiedenen Laufveranstaltungen an der Strecke gestorben. Von Salazar über Shay bis zu den deutschen Todesfällen waren in der Regel Herzvorschädigungen die Ursache, die teils vorher bekannt (Shay), teils nie aufgefallen waren (Salazar).
Amby Burfoot, ehemaliger Boston-Marathon-Sieger (1968) und später unter anderem Chefredakteur der US-Ausgabe von RUNNER’S WORLD, führte mit Salazar ein sehr offenes Interview. Der Journalist war überrascht, wie offen Alberto Salazar auf den Gesprächswunsch reagierte. Nichts sollte unausgesprochen bleiben, „sogar über seine Blutwerte wollte er sprechen“. Salazar war offensichtlich sehr daran gelegen, dass andere Läufer verstanden, was ihm widerfahren war. Er wollte, dass sie erfuhren, wie man gesundheitsverträglich laufen und leben kann.
RUNNER’S WORLD: WELCHE ERINNERUNGEN -HABEN SIE AN DEN AUGENBLICK, IN DEM SIE DEN HERZ-INFARKT ERLITTEN?
Alberto Salazar: Ich hielt mich mit einigen meiner Läufer auf dem Nike-Gelände in Beaverton auf. Wir waren auf dem Weg zum Fitness-Center. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Ich sagte zu Galen Rupp: „Mir wird schwindelig, ich muss mich setzen.“ Das Nächste, woran ich mich erinnere, sind all diese Stimmen und dazu ein pulsierendes Geräusch. Das war wohl das Sauerstoffgerät. Ich kann nichts sehen, habe aber trotzdem kein Gefühl von Panik. Alles ist irgendwie weit weg. Ich bin total durcheinander. Dann erinnere ich mich daran, dass ich aufwache und einen Rosenkranz in meiner Hand sehe und ein Kreuz auf einem Tisch. Das war im Krankenhaus.
WAS HABEN SIE SPÄTER ÜBER DEN ZEITRAUM ERFAHREN, AN DEN SIE SICH NICHT ERINNERN KÖNNEN?
Alberto Salazar: Kurz nachdem mir schwindelig wurde, bin ich kollabiert. Galen sagt, mein Gesicht sei hellblau angelaufen und es habe ausgesehen, als atmete ich nicht mehr.
Die Jungs wussten sofort, was zu tun war. Galen blieb bei mir und rief per Handy den Notarzt. Jared Rohatinsky rannte zum Spielfeld der Football-Spieler und alarmierte zwei Trainer, die auch sofort kamen und erste Wiederbelebungsversuche unternahmen. Währenddessen suchte Josh Rohatinsky im Fitness-Center jemanden, der wusste, wo die Defibrillatoren waren. Als sie gerade dabei waren, sie einzusetzen, kam der Rettungswagen und das Team übernahm die Initiative. Meine Atmung hatte ausgesetzt und sie platzierten die Defibrillatoren-Paddles auf meiner Brust und begannen mit der Reanimation. Erst nach dem vierten Stromstoß setzte mein Puls wieder ein. Seit meinem Zusammenbruch waren mittlerweile 13 bis 14 Minuten vergangen.
WIE IST ES FÜR SIE, SICH DIESE VORGÄNGE NOCH EINMAL VOR AUGEN ZU FÜHREN?
Alberto Salazar: Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, kann ich kaum fassen, dass ich noch lebe. Es ist kaum zu glauben, was für ein Glück ich hatte. Es ist schlicht ein Wunder. Man muss sich mal vorstellen: Ich war eine Zeitlang so gut wie tot, und jetzt bin » ich immer noch hier. Das muss man erst mal verarbeiten. Eine Zeitlang habe ich mich jeden Abend vor dem Einschlafen gefragt, ob ich wohl am nächsten Morgen wieder aufwachen werde. Aber jetzt bin ich darüber hinweg und habe mich an meine Situation gewöhnt, obwohl mir klar ist, dass mir dasselbe noch einmal passieren kann.
Vielleicht werde ich es rechtzeitig merken, vielleicht auch nicht. Aber die Tatsache, dass es sich jederzeit wiederholen kann, stellt einen vor die Frage: „Bist du darauf vorbereitet?“ Es zwingt dich, dein ganzes Leben bis ins letzte Detail zu durchdenken – Dinge, die du aufgeschoben hast, Kummer, der dich bedrückt. Du beginnst dich zu fragen: Habe ich noch etwas zu erledigen? Gibt es Konflikte in der Vergangenheit, die mich bedrücken?
Und du kommst zu dem Punkt, an dem du dir sagst: Ich packe das jetzt an, beginne die Liste abzuarbeiten. Insofern ist es gut, dass mir das passiert ist, denn jetzt sehe ich vieles klarer. Es ist Zeitverschwendung, sich Gedanken über Geld und Investments zu machen. Gott hätte mir auch körperliche oder geistige Behinderungen aufbürden können, aber er hat es nicht getan. Ich bin so dankbar, dass ich keine Folgeschäden davongetragen habe. Ich habe lediglich eins auf die Finger bekommen, bildlich gesprochen.
SIE WAREN NEUN TAGE LANG IM KRANKENHAUS. WIE SAH DIE BEHANDLUNG AUS?
Alberto Salazar: Ich bekam einen Stent in eine große Herzarterie eingesetzt, und zwar gleich nachdem ich eingeliefert wurde. Einen Tag lang war mein Zustand kritisch, danach ging es mir wieder besser. Zur Sicherheit haben sie mir gleich einen Defibrillator eingepflanzt. Die Ärzte halten das zwar für unnötig, denn sie glauben, dass der elektrische Impuls bei mir nicht das Problem ist. Aber jetzt habe ich ihn, und wenn mir noch einmal so etwas passiert, schaltet er sich automatisch ein, und dann brauche ich keine Behandlung mit Stromstößen.
SIND SIE VOR IHREM KOLLAPS VIEL GELAUFEN?
Alberto Salazar: Ich bin an sechs Tagen in der Woche jeweils 6,5 bis 8 Kilometer gelaufen, aber kein Tempotraining, sondern immer sehr ruhig, das heißt in einem Tempo von 4:22 bis 4:51 Minuten pro Kilometer, meistens mit einem meiner Hunde. Nach dem Lauf habe ich Sit-ups und Liegestütze gemacht, danach zehn Minuten Stretching.
UND WIE WAR IHR GESUNDHEITSZUSTAND?
Alberto Salazar: Vor zwölf Jahren stellte mein Arzt fest, dass mein Blutdruck ein wenig zu hoch war, etwa 140 zu 97. Da es in meiner Familie auf Seiten beider Eltern mehrere Fälle von hohem Blutdruck gibt, bekam ich verschiedene Medikamente verschrieben, durch die die Werte auf etwa 125 zu 75 zurückgingen, was ganz in Ordnung ist. Außerdem bekam ich Medikamente, die dazu beitrugen, dass mein Cholesterinwert auf 175 zurückging. Ich wiege zurzeit knapp 72 Kilogramm. Zu meinen Wettkampfzeiten lag mein Gewicht bei 65,5 Kilogramm. Doch ein Teil des Mehrgewichts entfällt auf die Oberkörper-Muskulatur, die ich durch mein regelmäßiges Krafttraining aufgebaut habe. Vor ein paar Jahren habe ich mal meinen Körperfettanteil messen lassen. Der Wert lag bei 4,9 Prozent. Das ist wenig.
Zwei Monate vor meinem Kollaps hatte ich einen kompletten Check-up machen lassen, und zwar von meiner Hausärztin, die selbst sehr fit ist. Sie war kurz zuvor einen Marathon in 3:07 Stunden gelaufen. Sie hat mich gründlich untersucht. Dabei wurde auch ein EKG gemacht, wobei keine Auffälligkeiten zutage traten. Angesichts meiner familiären Vorbelastung meinte sie jedoch, ich sollte noch ein Echokardiogramm machen, also eine Herzultraschalluntersuchung. Aus Termingründen ist es jedoch nicht mehr dazu gekommen. Allerdings sagte mir Dr. Caulfield, mein Kardiologe im Krankenhaus, das hätte auch nichts genützt, man hätte schon ein Belastungs-EKG machen müssen.
GIBT ES SCHLECHTE ANGEWOHNHEITEN, AN DENEN SIE ARBEITEN WOLLEN?
Alberto Salazar: Eigentlich nicht. Ich schlafe ausreichend und ernähre mich gesund. Ich esse vielleicht alle Vierteljahr einen Hamburger, aber das ist auch schon das Ungesündeste, was ich mir antue. Wenn es zu Hause Pizza gibt, esse ich ein Stück und gehe dann zum Salat über. Mein Alkoholkonsum ist mäßig, vielleicht ein oder zwei Gläser Bier oder Wein am Abend, aber es heißt ja, das soll sogar gesund sein.
OFFENSICHTLICH IST DIE FAMILIÄRE VORBELASTUNG IHR GRÖßTES PROBLEM?
Alberto Salazar: Mein einer Großvater starb mit 52 an einem Herzinfarkt, der andere mit 70 – er war ebenfalls herzkrank. Mein Vater hatte zwei oder drei Herzinfarkte, zwei meiner Geschwister leiden unter hohem Blutdruck und eins hatte Herzprobleme – also Vorbelastungen in jeder Hinsicht.
IHRE GESCHICHTE DÜRFTE MANCHEM LÄUFER GEWALTIGE ANGST EINJAGEN.
Alberto Salazar: Ich finde, niemand braucht Angst zu haben. Ich glaube aber, dass man auf der Hut sein sollte. Deshalb spreche ich auch mit den Menschen und erzähle, was mir widerfahren ist. Läufer sollten sich darüber im Klaren sein, dass es jeden treffen kann, auch wenn man in toller Form ist. Auch Läufer sollten ihren Blutdruck und ihr Cholesterin messen lassen sowie ihre familiäre Vorbelastung bedenken. Und wenn jemand wirklich in Sorge um seine Gesundheit ist, sollte er zum Arzt gehen und sich einem Belastungs-EKG unterziehen.
WAS WÜRDEN SIE EINEM 20-JÄHRIGEN RATEN, DER SICH SO VERHÄLT WIE SIE MIT 20?
Alberto Salazar: Ich würde zu ihm sagen: Du hast eine große, lange Karriere vor dir, deshalb brauchst du Geduld. Außerdem musst du lernen, die Signale deines Körpers zu verstehen und auf sie zu hören. Du musst dazu bereit sein, so hart zu trainieren wie deine Konkurrenten, eventuell härter. Allerdings ist es auch sehr wichtig, Erholungsphasen ins Training einzubauen.
DAS SAGT DER ARZT DER KARDIOLOGE TODD CAULFIELD ÜBER DEN FALL SALAZAR UND DIE RISIKOFAKTOREN DES LAUFENS
UM ANDERE LÄUFER ÜBER DIE GEFAHR eines Herzinfarkts aufzuklären, erteilte Alberto Salazar seinem Kardiologen die Erlaubnis, sich öffentlich über seinen Fall zu äußern. Todd Caulfield ist medizinischer Forschungsdirektor für Herzchirurgie am Providence St. Vincent Medical Center in Portland, USA. Er war Alberto Salazar nie zuvor begegnet, als dieser nach seinem Herzstillstand ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ironie der Geschichte: Nur sieben Wochen, bevor er Salazar behandelte, hatte Caulfield seinen ersten Marathon geschafft (Vancouver, 3:53:23 Stunden).
NICHT ALLE RISIKOFAKTOREN LASSEN SICH ELIMINIEREN
Alberto Salazar hatte gleich mehrere Risikofaktoren: Zu einer eindeutigen familiären Vorbelastung kamen ein hoher Blutdruck und hohe Cholesterinwerte. Beides wurde medikamentös behandelt. Ein weiterer Risikofaktor besteht schon allein darin, ein Mann zu sein. „Alles zusammen führte wohl zu dieser Situation, obwohl er früher mal ein Top-Athlet war“, so Caulfield. „Denn auch wenn man Risikofaktoren für Herzkrankheiten feststellt, bleiben sie doch bestehen. Sie lassen sich nicht reduzieren.“
DER FITNESSZUSTAND MACHT DOCH DEN UNTERSCHIED
Nach Aussage von Caulfield war Sala-zars Herzinfarkt zwar „nicht von der schlimmsten Sorte“, aber seine außergewöhnliche Fitness kam ihm definitiv zugute: „Wäre er kein so aktiver und leistungsfähiger Mensch, wäre er höchstwahrscheinlich schon mit 30 und nicht erst mit 48 Jahren in eine solche Situation gekommen.
HERZKRANKHEITEN KANN MAN NICHT WEGZAUBERN
Salazars rechte Koronararterie war zu 70 bis 80 Prozent verengt, berichtet Caulfield. „Wir öffneten sie, setzten einen Stent, und schon war das Problem behoben. Sein Herz hat nichts von seiner Pumpkapazität verloren.“ Der Herzspezialist erwartet, dass Salazar seine sportlichen Aktivitäten in gewohntem Umfang wieder aufnehmen kann, und hält seine Aussichten auf eine vollständige Regeneration für exzellent. Einschränkend fügt er jedoch hinzu, Salazars Herz habe Schaden genommen. „Es gibt Narben und er hat eine leichte Verkalkung in den anderen Arterien. Hier handelt es sich um einen chronischen Zustand.“
AUF DIE RICHTIGEN MEDIKAMENTE KOMMT ES AN
Schon vor dem Herzinfarkt nahm Salazar Medikamente ein: gegen hohen Blutdruck und den zu hohen Cholesterinspiegel, doch Caulfield sprach sich für ein aggressiveres Vorgehen aus und verschrieb ihm ein Blutverdünnungsmittel. Der Arzt empfahl Salazar, langsam zu seinen gewohnten Belastungen zurückzukehren und vor jedem Lauf eine Weile zu gehen. „In einem Monat kommt er in unser Reha-Center und unterzieht sich einem Belastungstest. Dann werden wir sehen, wie sein Herz reagiert, wenn er 80 oder 90 Prozent seiner Leistungsfähigkeit erreicht.“
KLEINE VERÄNDERUNGEN, GROßE WIRKUNG
„Wenn man läuft, unterzieht man sich -quasi jedes Mal einem kleinen Belastungstest“, so Caulfield. „Beim geringsten Anzeichen, dass Ihre Leistungsfähigkeit unter das Normalniveau sinkt, sollten Sie zum Arzt gehen und sich durchchecken lassen. Herzprobleme darf man nicht ignorieren!“
Amby Burfoot,
RUNNER'S WORLD – Februar 2008