Wolfgang Maennig, Professor an der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, in seinem Büro der Hamburger Universität ©privat
Wolfgang Maennig im Interview: „Deutschland ist sportlich und wirtschaftlich olympiareif“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Vor einem Jahr haben die Bürger Hamburgs gegen die Olympiabewerbung ihrer Stadt votiert. So wie gerade die Fertigstellung der Elbphilharmonie gefeiert wird: Würde Hamburg sich, hätte man nicht abgestimmt, 2024 über eine teure, aber glückliche Entscheidung pro Olympia freuen?
Ich kann mir das gut vorstellen. Der Soziologe Harry Hiller hat dargestellt, wie die Zustimmung systematisch steigt, je näher die Spiele kommen. Was gab es zum Beispiel für beißende Kritik an den Plänen für London, an der Kostenexplosion, an den Zeitplänen und den Sicherheitskonzepten. Heute schwelgen die Londoner in Erinnerungen an die schönen Spiele von 2012.
Glauben Sie, dass es bei den projektierten Kosten von achteinhalb Milliarden Euro geblieben wäre und Hamburg davon nur 1,2 Milliarden hätte aufbringen müssen?
Insgesamt waren es sogar 11,2 Milliarden Euro, Hamburg legte eines der großzügigst kalkulierten Konzepte vor. Allerdings sind die Menschen geprägt durch die Erfahrung, dass bei Olympia immer um mindestens hundert Prozent überzogen wurde. Studien weisen dies statistisch inzwischen nach.
Hat Hamburg eine Riesenchance verpasst, oder war die Volksabstimmung ein Riesenglück?
Eine Chance war da, auch wenn es schwer geworden wäre, sich gegen Paris und Los Angeles durchzusetzen. Hamburg hätte jedenfalls die Chance gehabt, noch ein weiteres Jahr lang internationales Stadtmarketing zu betreiben. Und hätte die Chance gehabt, bei der Abstimmung achtbar abzuschneiden. Das hätte die Möglichkeit geboten, beim zweiten, dritten oder meinetwegen sechsten Versuch erfolgreich zu sein. Paris hat sich für 1992, 2008 und 2012 vergeblich beworben – und gilt nun als Favorit.
Damit wären wir bei 2032 oder 2048.
Wir Deutschen glauben immer, dass wir so perfekt arbeiten, dass wir sofort Erfolg haben müssen. Als ich in Hamburg angedacht habe, mit langem Atem an eine Reihe von Bewerbungen zu gehen, hat man mir Defätismus vorgeworfen. Aber Sportler wissen, dass sie einige Niederlagen erleben müssen und nicht gleich Olympiasieger werden.
Sie empfehlen eine anhaltende Olympiabewerbung?
Warum nicht? Istanbul ist fünfmal angerannt. Wenn sich die Türkei wieder dem Westen annähert, wird sie sich – mit guter Aussicht – wieder bewerben. Detroit hat sich siebenmal beworben.
Eine Olympia-Kampagne um der Kampagne willen?
Eine Olympiabewerbung kann ein Wert an sich sein, auch wenn man nicht gewinnt. Wenn man es gut macht, ist es eine einzigartige Möglichkeit, die Stadt international zu präsentieren und der Stadtgesellschaft und -verwaltung einen Impetus zu geben. Und: Es kann sich immer ein gutes, eventuell unerwartetes Zeitfenster ergeben. Es war doch unwahrscheinlich, dass die Bewerbung Pekings um Olympische Winterspiele Erfolg haben könnte: eine Stadt ohne Schnee und ohne Berge. Dann zieht sich München, der einzige namhafte Kandidat, nach einem verkorksten Referendum zurück, und auf einmal ist der einzige Gegenkandidat Almaty in Kasachstan. Schon ist die Sommer-Olympiastadt von 2008 auch die Winter-Olympiastadt von 2022.
Ist nicht das Resultat vom ersten Advent 2015 eine Aufforderung an die Sportorganisationen, sich mit ihrem Selbstverständnis, ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung zu beschäftigen?
Absolut. IOC-Präsident Thomas Bach hat gesagt, die negative Volksabstimmung sei ein Problem von Hamburg und von Deutschland. Das ist so nicht richtig. Zwar haben auch Münchner dagegen gestimmt, und Berlin hätte auch dagegen gestimmt. Aber auch Wien, Krakau, Bern und St. Moritz haben dagegen gestimmt. Und in Boston, das sich für 2024 bewerben wollte, wäre die Abstimmung ebenfalls negativ ausgegangen. Das IOC kann offensichtlich zu vielen Bürgern auf der ganzen Welt nicht plausibel machen, dass sie und ihre Stadt per saldo etwas hätten von Olympischen Spielen in der Konzeption der beiden letzten Dekaden.
Bundespräsident Joachim Gauck wünscht sich Olympische Spiele, und Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, erwidert, dass Deutschland erst reif für Olympia werden müsse. Das ist das Gegenteil Ihrer These.
Deutschland ist sportlich, technisch und wirtschaftlich olympiareif. Daran zweifelt in der Welt kein Mensch. Wir haben allerdings in den relevanten Stadtbevölkerungen keine hinreichende Begeisterung, zumindest wenn es bei den bisherigen Bewerbungskonzepten bleibt.
Wenn die Abstimmung kein Ausrutscher war, warum tut sich dann nichts im Sport?
Ich habe schon den Eindruck, dass beim IOC die Alarmglocken schrillen. Zwar hat es mit Paris und Los Angeles zwei brillante Bewerber für 2024. Aber von Interessenten für 2028 hört man wenig. Deshalb kursiert die Idee, dem einen 2024 und dem anderen 2028 zuzuschlagen; die Fifa hat auch eine Doppelwahl mit Russland 2018 und Qatar 2022 gemacht. Dann hat man Ruhe zum Nachdenken. Bei den Winterspielen ist das Bewerber-Problem übrigens viel größer.
Warum ist Olympia so teuer?
Die Organisation der Spiele an sich finanziert sich selber. Das Problem beginnt mit dem falsch verstandenen Anspruch einer Legacy – ein Erbe zu hinterlassen. Diese Legacy wird viel zu stark mit Stadtentwicklung assoziiert, anstatt auch an „Intangibles“ zu denken – zum Beispiel neue Ideen zur Partizipation, zur Genderdiskussion, zur Integration, zur Breitensportentwicklung und so weiter. Stattdessen krempelt man lieber ganze Städte um. Das kostet Milliarden, und das ist den Bürgern nicht zu vermitteln. Auch passen solche Stadtentwicklungsprozesse nicht zu Gesellschaften, in denen die Bürger ein Recht auf Partizipation haben, in denen es vielschichtige Gerichtsstrukturen gibt mit der Möglichkeit zum Einspruch. Man kann den Leuten einfach nicht erzählen, dass man in sieben Jahren den Kleinen Grasbrook …
… die Insel im Hamburger Hafen …
… entmieten werde, die Altlasten beseitigen, aufschütten und ein Olympisches Dorf sowie ein Olympiastadion bauen werde, wenn man sich vorher mit dem Bau der Elbphilharmonie blamiert hat. Und es glaubt kaum jemand, dass dies mit demokratischen, die Institutionen unserer Republik achtenden Verfahrensweisen einhergehen kann.
Ist der deutsche Sport gar nicht in der Pflicht, etwas aufzuarbeiten?
Ein paar Fehler hat natürlich auch der deutsche Sport gemacht. Es hätte beispielsweise Volksabstimmungen gleich am Anfang und von beiden Städten geben sollen. Ein Dreivierteljahr früher, vor dem Fifa-Skandal, dem russischen Doping und der Terrorattacke von Paris, war die Stimmung ja noch deutlich besser. In einem solchen Wettbewerb hätten sich die Städte mehr gezwungen gefühlt, Konzepte für hohe Zustimmungsraten zu entwickeln. So war Hamburg ein Monopolist, der sich zu sicher fühlte.
Wie hätte so ein Konzept ausgesehen?
Keine Bewerbung „von oben“, sondern eine Graswurzel-Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern. Mut zu einem neuartigen, vielleicht provozierenden Konzept. Partizipation im Zentrum und nicht auf ein Ja oder Nein beschränken. Bei solcher Partizipation käme vielleicht heraus: Eine Führung durch glaubwürdige Persönlichkeiten aus dem Sport, möglichst ehrenamtlich, in einem transparenten Verfahren auszusuchen. Kein Anspruch auf Stadtentwicklung, keine ikonischen Stadien. Keine falschen Versprechungen von milliardenschweren Konjunktureffekten. Ein Olympisches Dorf ohne Angst vor Mietpreissteigerungen. Keine öffentliche Milliardenfinanzierung, sondern Nutzung des Vorhandenen. Private Finanzierung der eventuell notwendigen Neubauten, am besten schon der Bewerbungskampagne selbst, vielleicht Crowdfinancing.
Nach der Ablehnung war die Rede davon, dass eine Olympiabewerbung Deutschlands auf Jahrzehnte unmöglich sei. Nun meldet sich Düsseldorf, unterstützt von Landesregierung und Opposition. Was tun?
Ich weiß nicht, warum man von Düsseldorf spricht, wenn man eine Bewerbung des Ruhrgebiets meint. Man muss das Ruhrgebiet nicht verstecken; es hat die allerbesten Voraussetzungen, vor allem mit einer sportbegeisterten Bevölkerung und vielen olympiareifen Sportanlagen. Wenn das Ruhrgebiet mit einem frischen Konzept antritt – bitte nicht wieder ein Stadtumkremplungskonzept „copy paste Barcelona“ -, verdient es jede Unterstützung.
Sind nicht Spitzensport und Olympia in einer Krise?
Wir Sportler haben Ansehen verloren, vor allem durch die unsäglichen Korruptionsskandale im Fußball und leider auch in einigen anderen Sportarten. Geschadet haben sie auch Sportarten, die nicht direkt davon betroffen sind, wie zum Beispiel Rudern, Segeln, Tischtennis. Dazu kommt der wirklich inakzeptable Doping-Sumpf. Die Grundfesten des Sports sind erschüttert.
Woran macht ein Volkswirt das fest?
Natürlich ist dies zuerst ein Bauchgefühl, aber: die Preise fallen. Ich sammle die Fackeln von Olympischen Spielen. Für eine von den Spielen 1972 in München habe ich vor nicht allzu langer Zeit noch mehr als dreitausend Euro bezahlt. Inzwischen gibt es sie für weniger als die Hälfte.
Werden die Spiele der Zukunft kleiner und bescheidener werden müssen?
Ja, was zum Beispiel den Anspruch an Stadtentwicklung und Kosten betrifft. Nein, was die Zahl der Athleten angeht. Alles in der Welt wächst, die Bevölkerung, die Wirtschaft, die Zahl der Sportarten. Es gibt nichts, was nicht wächst. Ich finde es überdenkenswert, dass nur die Zahl der Olympiateilnehmer nicht steigen soll.
Brauchen wir in Deutschland eigentlich die Austragung Olympischer Spiele?
Deutschland braucht die Ausrichtung der Olympischen Spiele nicht unbedingt, die größeren Probleme werden dadurch nicht gelöst. Aber der deutsche Sport als ein sehr wichtiger Mosaikstein der deutschen Gesellschaft könnte es schon brauchen. Bei allen derzeitigen Bemühungen um eine Reform des Spitzensports:
Zu einer fundamentalen, effektiven Neuordnung werden wir erst kommen, wenn wir den Zuschlag für Olympische Spiele bekommen und wenn es heißt: Da wollen wir richtig viele Medaillen gewinnen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 6. Dezember 2016