Wolfgang Heinig über die deutsche Misere im Langstreckenlauf, Perspektiven für junge Athleten und dreißig Kilometer am Abend auf dem Laufband - Uwe Martin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Lothar Pöhlitz
Wolfgang Heinig über die deutsche Misere im Langstreckenlauf, Perspektiven für junge Athleten und dreißig Kilometer am Abend auf dem Laufband – Uwe Martin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der 61 Jahre alte Wolfgang Heinig ist seit November Bundestrainer Lauf/Gehen des Deutschen Leichtathletik-Verbands. Er kümmert sich auch um den Kader Langstrecke/Marathon. Heinig ist mit der erfolgreichsten deutschen Marathonläuferin Katrin Dörre-Heinig verheiratet, Tochter Katharina zählt zu den größten nationalen Hoffnungen unter den Langstreckenläufern. Das Ehepaar Heinig wohnt in Erbach im Odenwald.
Sie waren schon von 1990 bis 2004 Marathon-Bundestrainer – warum musste es dieser derzeit eher undankbare Job noch einmal sein?
Weil wir in den Neunzigern viele Initiativen entwickelt haben und in gewissem Maß erfolgreich waren. Bei der EM 2002 gewannen die Frauen den Mannschafts-Europacup, im Einzel sind Luminita Zaituc und Sonja Oberem auf die Plätze zwei und drei gelaufen. Mit Wehmut habe ich in den vergangenen Jahren gesehen, wie dieser Weg nicht weiter verfolgt wurde. Wir müssen im Nachwuchsbereich bei null anfangen. Das ist der Reiz. Ich möchte nicht von der Bühne abtreten, ohne sagen zu können: Das war eine schöne Zeit.
Wo steht der deutsche Marathon im nacholympischen Jahr?
Statistisch betrachtet, sind wir weit weg von der internationalen Klasse – ausgenommen Irina Mikitenko. Und der Nachwuchs hat sich zuletzt kaum entwickelt. Das zu ändern ist die Herausforderung. Deutsche Marathonläufer können genauso schnell sein wie die besten Europäer, also Schweizer, Polen, Franzosen und Belgier. Mit Fleiß, Ehrgeiz und einem entsprechenden Anspruch ist dies in verhältnismäßig schneller Zeit erreichbar. Ich spreche von Männerzeiten um 2:10 Stunden und schneller.
Jan Fitschen als bester Deutscher war 2012 mehr als drei Minuten langsamer.
Ältere Athleten wie Fitschen und Sören Kah werden ihren Weg gehen, da sind meine Einflussmöglichkeiten begrenzt. Es geht vorrangig darum, jüngere Leute zu entwickeln, das strebe ich zusammen mit meiner Frau Katrin als Honorartrainerin an. Über Unterdistanzen wie 10 000 Meter und Halbmarathon müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, um von 2:10 Stunden träumen zu können. Das hat mit Weltspitze noch nichts zu tun, ist aber schon mal eine Hausnummer.
Und wie lautet das Erfolgsrezept?
Nur Trainingslager in Kenia zu absolvieren reicht nicht. Das kann nur das i-Tüpfelchen sein. In erster Linie brauchen Athleten eine Vorstellung: Ich möchte etwas erreichen! Was es heißt, in Regionen zu kommen, in denen der Marathonlauf interessant wird, ist dann meine Aufgabe.
Die Athleten müssen sich über die Belastungen bewusst sein und die Frage beantworten, ob sie in der Lage sind, Lebenszeit und Energie zu investieren.
Ich rede über Wochenumfänge von 250 Kilometer, und das nicht nur im Trainingslager. Und über einen Zeitaufwand von 35 bis 40 Stunden pro Woche. Jahresumfänge von 7000 bis 10 000 Kilometer müssen zunächst in den Kopf hinein. Wer dazu bereit ist, wird auch Erfolge feiern. Doch ohne Klarheit im Kopf geht gar nichts. Fleiß und Verbissenheit inbegriffen.
Und das vermissen Sie bei einigen – etwa bei Musa Roba-Kinkal aus Frankfurt?
Bei ihm bin ich am Zweifeln, ob es in Richtung Marathonlauf gehen kann. Es fehlen ein paar Charakterzüge, die man braucht für 42,195 Kilometer. Bei Musa kann ich eine gewisse Zielstrebigkeit nicht immer erkennen. Wer nicht verrückt ist nach dem Marathon und bereit ist,
in seinem Leben vieles hinten anzustellen – Beruf, Familie, was auch immer -, hat keine
Chance, vorne anzukommen. Es geht nur über die abgeleisteten Kilometer. Egal, ob an
Geburtstagen, Weihnachten oder Silvester.
Sind Ihre Möglichkeiten als Bundestrainer da nicht begrenzt?
Ich kann nur Impulse geben, etwa auf Trainertagungen. Und meine Vorstellungen mit bestimmten Athleten vorleben. Um zu zeigen, was machbar ist. Das betrifft insbesondere junge Athleten. Der Marathonlauf ist nichts für die Zeit nach dem Ende der Bahnkarriere, sondern bedarf einer frühzeitigen Spezifik. Das zeigt uns Europa, das zeigt uns die Welt. Mit 23 Jahren muss ich in der Lage sein, einen ordentlichen Marathon zu laufen. Sonst schaffe ich es nie mehr.
Heißt das, Sie haben über 30-Jährige wie Fitschen und Kah abgeschrieben?
Auch diese Athleten haben ihre Chance. Sie haben ja viele Jahre geübt und müssen schauen, in welchen Bereichen sie sich noch verbessern können. Warum sollte nicht auch ein älterer Athlet einen Leistungssprung machen? Ich klammere niemand aus. Sören hat im fortgeschrittenen Alter das Marathonprinzip verinnerlicht, seinen Beruf für eine Zeitlang aufgegeben und als Profi auf Angriff umgeschaltet. So eine Entscheidung finde ich unwahrscheinlich stark. Aber langfristig setze ich auf die Jugend, das hat Vorrang.
Welche Rolle spielt Ihre Frau?
Sie ist für ein Jahr eine Art Assistenztrainerin, sie wird den Langstreckenbereich begleiten und in die Abläufe eingearbeitet. Ich hoffe, dass sie die Aufgabe als Marathon-Bundestrainerin perspektivisch weiterführen kann. Sie weiß, welche Belastungen nötig sind, und ist in der Lage, dies zu vermitteln.
Lassen Sie uns über den schon recht erfolgreichen weiblichen Nachwuchs sprechen.
Wir haben eine verhältnismäßig stabile Gruppe. Dazu gehören Anna und Lisa Hahner, aber auch Veronica Pohl, obwohl sie schon etwas älter ist. Und meine Tochter Katharina, die noch nicht das zeigen konnte, was sie wirklich kann. Im Blickfeld sind auch U-23-Athletinnen, etwa Nina Stöcker. Alle haben das Potential, um in ein, zwei Jahren zumindest in Europa mitlaufen zu können. Eine reifere Athletin wie Sabrina Mockenhaupt könnte bei einer EM sogar auf dem Podest stehen. Egal, auf welcher Strecke. Und wir wollen natürlich nach Rio de Janeiro.
Olympische Spiele 2016 – mit den seit Jahren schwächelnden deutschen Marathon-Männern?
Am liebsten mit drei Männern und drei Frauen.
Was können die nationalen Veranstalter für die deutsche Szene tun?
Die Vereinigung der deutschen Straßenlauf-Veranstalter (German Road Races) muss verstärkt darauf hinwirken, dass es für den Nachwuchs U 20 und U 23 überhaupt genügend Rennen gibt. Es soll demnächst ein Pokalsystem geben – mit einem Finale in Berlin. Nur so kommen Nachwuchsathleten irgendwann beim Marathonlauf an.
Wie weit muss die Leidensfähigkeit eines Marathonläufers gehen?
Meine Frau wollte in die Weltspitze. Dazu war es nötig, auch morgens um fünf Uhr vor dem Studium zu trainieren. Oder abends um 21 Uhr auf dem Laufband 30 Kilometer zu beginnen. Diese Verbissenheit zeichnet Topathleten aus. Da war es egal, ob der Weihnachtsbaum schon brennt oder die Oma mit dem Kaffee wartet. Das Training war der Schwerpunkt. Wir hatten auch ein Familienleben, nur die Prioritäten waren anders. Und wenn es 15 Grad minus waren, wurden 30 Kilometer auf der Rundbahn in der Halle gerannt. Wenn ich heute jemandem sage, wir laufen zehn Kilometer in der Halle, blicke ich in erstaunte Gesichter. Aber das erwarte ich von Athleten, wenn sie für ein großes Ziel alles tun wollen.
Das Gespräch führte Uwe Martin. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, dem 8. Januar 2013