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24
09
2011

Haile Gebrselassie im Ziel beim Dubai Marathon 2009. ©Helmut Winter

Wie lange hält (noch) Hailes Marathon-Weltrekord? Helmut Winters Meinung

By GRR 0

Spätestens mit der 38. Ausgabe des Berlin-Marathons hat die heiße Phase der großen Marathonläufe in der zweiten Jahreshälfte begonnen. Nachdem bei der WM in Daegu vor knapp einem Monat schon im Vorfeld keine außergewöhnlichen Zeiten zu erwarten waren (es gab aber eine unerwartet schnelle zweite Hälfte), werden bei den kommenden Stadtmarathons Tempoläufe in Szene gesetzt, die sich am aktuellen Weltrekord von 2:03:59 orientieren, den Haile Gebrselassie 2008 in Berlin aufstellte.

Der Rekord ist somit noch relativ jung, war aber in den Jahren danach immer wieder im Fokus und wurde im April beim Boston-Marathon bei extrem günstigen Bedingungen um fast eine Minute unterboten. Da die Bostoner Strecke zwar eine große Tradition hat, aber nicht regelkonform ist, bleiben die 2:03:02 von Geoffrey Mutai und 2:03:06 von Moses Mosop eine Kuriosität der Laufhistorie. Das Maß der Dinge für die Weltrekordjagden der kommenden Wochen bleibt somit Hailes Berliner Marke aus dem Jahr 2008.

Bevor es in Berlin zur Sache geht, erregen Beschlüsse der IAAF zu den Weltrekorden bei den Frauen zu Recht die Gemüter. Die sind für Berlin weniger relevant, man könnte sich aber in einer Argumentation der Gleichstellung vorstellen, dass (Welt-)Rekorde der Männer auch nur in separaten Männerwettbewerben erzielt werden könnten. Wer immer sich diesen Unsinn ausgedacht haben mag, er wird der Inhaberin des Fabelweltrekords von 2:15:25 bei den Frauen, Paula Radcliffe, erklären müssen, warum man ihr nach fast 10 Jahren den Weltrekord wegnehmen will, obwohl sie die Bestmarke seinerzeit nach den gültigen Regeln erzielt hatte.

In Berlin jagen beide amtierenden (Noch-)Weltrekordler ihre originären Marken, wobei aber in einer realistischen Einschätzung nur bei den Männern die Chancen auf eine Verbesserung des Rekords gegeben sind. Dass beide amtierenden Rekordler in Berlin am Start sind, ist eine Rarität. Das hat es zuvor nur in New York (1989), Chicago (2002) und London (2005) gegeben. Und auch dies ist ein Fingerzeig, eine Verbesserung des Weltrekords gab es in nur einem dieser Rennen, allerdings nicht durch die amtierende Rekordlerin. Paula Radcliffe besiegte 2002 in Chicago Catherine Ndereba. Dafür hatten zweimal die Rekordhalter bei den Frauen (Kristiansen, Radcliffe) und einmal bei den Männern (Khannouchi) die Nase vorn. Die Historie ist somit wenig aufschlussreich.

Wichtiger dürften die äußeren Bedingungen sein, Haile hatte 2008 bei seinem Rekord ideale Voraussetzungen, was die Temperaturen und einen leichten Wind anbetraf, der auch noch günstig drehte. Wie wichtig dieser Aspekt ist, zeigte Hailes letzter Auftritt in Berlin 2009, wo er nach einem Weltrekord bei der 30km-Passage bis 35 km auf Rekordkurs lag, dann aber der zunehmenden Wärme (wie alle Läufer) Tribut zollen musste und seine Marke sehr deutlich verfehlte. Haile erzählte später über diesen Lauf, dass er das Gefühl hatte, „nach dem Kürfürstendamm in einen Ofen hineingelaufen zu sein“.

Für Sonntag sind die aktuellen Vorhersagen günstiger – insb. scheint ein Dauerregen wie im letzten Jahr auszubleiben – aber Temperaturen von 20°C in der Schlussphase des Rennens sind sicher am Limit.

Förderlich für ein schnelles Rennen wird die schon vielfach diskutierte Randbedingung sein, dass sich Haile und sein vermeintlich schnellster Konkurrent, Vorjahressieger Patrick Makau (KEN), bereits für die Olympischen Spiele 2012 in London durch schnelle Zeiten empfehlen wollen. Bei den aktuellen Standards im Marathon der Männer dürfte eine Zeit über 2:05 kaum ausreichen. Leider musste als weiterer Mitstreiter Sammy Kosgei absagen, der 25 km Weltrekordler (BIG 25 Berlin, 2010) hatte vor zwei Jahren Haile beim Durchgang bei 30 km zum Weltrekord gezogen und im Frühjahr in Prag mit 2:07 ein akzeptables Marathondebut hingelegt.

Somit wird sich der Kampf um den Sieg und vor allem auch um eine gute Zeit auf Haile und Makau konzentrieren, wobei beide Läufer in Berlin herausragende Leistungen vollbrachten und alle ihre Läufe gewannen. Somit wird zumindest eine Serie am Sonntag zu Ende gehen.

Gibt es in Berlin einen neuen Weltrekord? Das Potential ist bei beiden Läufern vorhanden, aber dann muss insb. vom Rennverlauf und vom Wetter alles stimmen. Haile hat sich nach seinem „Rücktritt vom Rücktritt“ recht rar gemacht, aber durchaus überzeugt. Zu Silvester besiegte er souverän den besten 10000 m Mann der letzten Saison bei einem 10km-Straßenlauf in Angola, den Tokyo-Marathon sagte er ab, um später beim Wien-Marathon ein Verfolgungsrennen über die Halbmarathondistanz in knapp über einer Stunde zu gewinnen. Makau beeindruckte im letzten Jahr neben seinem Hausrekord von 2:04:48 in Rotterdam durch seinen „Regen-Weltrekord“ beim letzten Berlin-Marathon in 2:05:08, den viele als gleichwertig mit Hailes Marke ansehen.

Beim Halbmarathon – seiner Paradedisziplin – im Februar in Ras Al Khaimah konnte er mit 63 Minuten wenig überzeugen, vielleicht auch wegen seiner Vorbereitungen auf den London-Marathon, bei dem er in guten 2:05:45 Dritter wurde. Dabei wurde er kurz durch einen Sturz zurückgeworfen. Als allerdings etwas später die Tempoverschärfung durch Emmanuel Mutai erfolgte, war er nicht in der Lage zu folgen.

Eine Kuriosität im Vorfeld des Berliner Laufs dürfte die (allerdings kaum beabsichtigte) Besichtigung von Teilen der Strecke durch den höchsten katholischen Würdenträger sein. Vielleicht hilft dieser Beistand von „oben“ zumindest beim Wetter. Haile und Makau würden sich freuen.

Über günstiges Wetter dürfte man sich auch zwei Wochen später in Chicago freuen, wo man einen Angriff auf den Weltrekord angekündigt hat. Dort hatte man in den letzten Jahren unter ungewohnt heißen Wetter gelitten, vor drei Jahren musste der Lauf für die zweite Hälfte des Läuferfeldes sogar aus diesem Grund abgebrochen werden. Sollte am 9. Oktober das Wetter mitspielen, dann könnte der Rekord in der Tat wackeln. Hauptakteur in Chicago dürfte Moses Mosop KEN) sein, der Shooting Star des Jahres auf den langen Strecken.

In seinem ersten Marathon in Boston lief er gleich 2:03:06, leider ein Muster ohne Wert. Aber beeindruckend war dieses Marathondebut allemal. Als sich bei 30 km Geoffrey Mutai absetzte, holte ihn Mosop wieder ein, wobei er die 5 km von 35 km nach 40 km in 14:07 zurücklegte. Und das in einem Marathon!
Dass diese Leistung nicht nur durch günstige Umstände zustande kam, zeigte er schon einen Monat später auf der Bahn in Eugene, wo er über 25 km und 30 km neue Weltrekorde aufstellte. Dabei war es vor allem die Renngestaltung in Eugene, die es durchaus realistisch erscheinen lässt, dass dieser Mann in ein 2:02-Regime eindringen kann.

Wie großartig seine Vorstellung auf der Bahn in Eugene war, zeigt auch die Tatsache, dass er den alten und neuen Marathon-Weltmeister, Abel Kirui, nach der Hälfte stehenließ und mehr als zweimal überrundete. Beide werden übrigens vom Erfolgstrainer Roberto Canova betreut. Dabei wird Mosop in Chicago ein eindrucksvolles Feld von Elitemännern unterstützen, von denen Ryan Hall (2:04:58), Bazu Worku (2:05:25) und Evan Cheruiyot (2:06:25) zu nennen sind. Bis zur Halbmarathonmarke lag man in Chicago in den letzten Jahren – u.a. auch mit Kebede und Wanjiru – stets auf Rekordkurs, es wird aber wichtig sein, anschließend, wenn es aus der Stadt hinaus nach Little Italy und Chinatown geht, das Tempo hoch zu halten.

Denn an die Binsenwahrheit, dass ein Marathon erst nach gut 42 km zu Ende ist, haben sich nicht nur in Chicago alle die erinnern müssen, die sich an Hailes Marke versucht hatten. Aber die Chancen für einen neuen Weltrekord beim Chicago-Marathon sind in diesem Jahr besser als jemals zuvor.

Erfreulicherweise muss man bei der Rekordjagd auch den Frankfurt-Marathon ins Kalkül einbeziehen, der in den letzten Jahren eine beeindruckende Leistungsentwicklung vollzog. Dort ist der Vorjahressieger und Streckenrekordler Wilson Kipsang (2:04:57) wieder am Start und will mit Unterstützung von Robert Kiprono Cheruiyot (2:05:52) und Gilbert Kirwa (2:06:23) seinen Rekord angreifen. Dass dies ein sehr realistisches Unterfangen sein sollte, zeigt die Leistungsentwicklung des Kenianers in diesem Jahr. Im März siegte er auf dem windanfälligen Kurs am Lake Biwa im japanischen Otsu in sehr guten 2:06:13 und nahm dabei Deriba Merga (ETH) in der Schlussphase zwei Minuten ab. Der äthiopische Frontläufer wird auch in Frankfurt dabei sein und sicher im ersten Teil für ein hohes Tempo sorgen. Es könnte also auch in Frankfurt Ende Oktober beim 30. Jubiläum sehr schnell werden.

Ein weiterer Kandidat auf eine Spitzenzeit dürfte in guter Tradition der Amsterdam-Marathon sein. Hier ist nach aktuellen Informationen Wilson Chebet der Topstar, der im Frühjahr den Rotterdam-Marathon in 2:05:27 gewann und den Amsterdamer Kurs durch seinen zweiten Platz im Vorjahr bestens kennt. Durch den schnellen Start in Rotterdam ist Chebet bereits über eine Distanz von gut 30 km mit einem Tempo auf Weltrekordniveau vertraut, so dass auch in Amsterdam die Perspektiven für eine sehr schnelle Zeit des Siegers ausgezeichnet sind.

Im Hinblick auf den Weltrekord muss man bedauern, dass der vermeintlich beste Läufer der aktuellen Marathonszene, Geoffrey Mutai, mit hoher Wahrscheinlichkeit beim New York Marathon an den Start gehen, wo das Streckenprofil und die Renngestaltung bisher keine Spitzenzeiten auf internationalem Niveau zuließ. Nach seiner Fabelzeit von Boston von 2:03:02 ist Mutai auch vom Dreiermittel der schnellste Läufer der Geschichte, auch schneller als Haile. Unterstützt von Vorjahressieger Gebrmariam, Lel, Emmanuel Mutai und dem Debutanten Kisorio, der letzte Woche mit 58:46 der drittschnellster Halbmarathonläufer aller Zeiten wurde, könnte es auch in New York schneller als in den Vorjahren werden. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich so etwas wie im April in Boston in New York City wiederholt.

Dass aber generell der Marathon-Weltrekord der Männer „fällig“ ist, ersieht man auch an dem stetig steigenden Leistungsniveau. Zeiten unter 2:06 wurden nach Hailes Rekord etwa 30mal erzielt, und auf den Unterdistanzen steigt das Niveau immer weiter an. So gab es im Jahr 2011 bisher vier Läufer, die die Schallmauer der absoluten Weltklasse von 59 Minuten im Halbmarathon unterboten. Dabei wird auch die breitere Leistungsentwicklung immer hochwertiger und Siegerzeiten im Bereich von 2:07 können mittlerweile selbst kleinere und weniger bekannte Veranstaltungen aufweisen. Dies ist als profunde Basis für Höchstleistungen an der Spitze anzusehen.

Somit kann man sich auf einen spannenden Marathon-Herbst freuen, wo neben der Elite mehr als 200.000 Breitensportler an den Start gehen werden. Letztere haben natürlich andere Ambitionen und sehen mehr die Freude am Laufen sowie den Eventcharakter im Vordergrund. Der Marathonlauf ist aber auch eine Sportart im Spektrum der Leichtathletik, die vom Streben nach Rekorden ihren Reiz bezieht.

Es ist dieser Aspekt, der in den kommenden Wochen wieder zur Faszination des Marathons betragen wird.
 

Helmut Winter 

author: GRR

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