Malaika Mihambo gewinnt in Rom GOLD - 2022 Zurich - Foto: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com
Weitspringerin Malaika Mihambo: Das Rätsel unter dem Druckverband – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Ein WM-Ausfall von Malaika Mihambo wäre für die deutsche Leichtathletik so etwas wie das größte anzunehmende Unglück. Sie selbst beruhigt nach ihrer Verletzung erst mal die Gemüter.
Der zweite war ein turbulenter Tag bei der deutschen Meisterschaft. Alexandra Burghardt, Europameisterin mit der Sprintstaffel und Olympia-Zweite im Bob, wollte in Kassel nach ihrem Verzicht auf den Hundertmeterlauf leise die Saison mit dem Endlauf über 200 Meter beenden – und war plötzlich, in 23,36 Sekunden, Meisterin.
Joshua Hartmann unterbot auf derselben Distanz den 18 Jahre alten deutschen Rekord von Tobias Unger um 18 Hundertstelsekunden: 20,02 Sekunden mitsamt dem Versprechen, noch in diesem Jahr die 20 Sekunden zu unterbieten.
Das turbulente Rennen über 5000 Meter gewann überraschend für 10.000 Zuschauer und auch für ihn selbst Florian Bremm (13:35,65 Minuten). Lea Meyer wurde einen Tag nach ihrem Sieg über 5000 Meter auch Meisterin über 3000 Meter Hindernis, der Disziplin, in der sie Europameisterschafts-Zweite ist. Christoph Harting, Olympiasieger von Rio 2016, gab nach einem Tief von anderthalb Jahren in Depression ein Comeback als Dritter im Diskuswerfen mit 62,87 Metern.
Und Malaika Mihambo, Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Weitsprung, setzte an, zum ersten Mal in diesem Jahr sieben Meter zu übertreffen. Im ersten und dritten Versuch landete sie jeweils bei 6,93 Metern, der Titel war ihr gewiss. Und so sprintete die 29 Jahre alte Athletin so schnell an wie lange nicht im Anlauf – und brach den Versuch ab. Sie humpelte, ließ sich von einer Konkurrentin stützen und sank schließlich an der Bande zu Boden. Mit Eis kühlte sie den linken Schenkel, während sie ins Leere starrte.
Malaika Mihambo verletzt – das wäre für die Leichtathletik in Deutschland so etwas wie das größte anzunehmende Unglück. In diesem Augenblick war dies im Auestadion von Kassel zu spüren. Schlagartig wurde es still in der Arena. Malaika Mihambo, Gold-Favoriten bei der Weltmeisterschaft von Budapest im August, darf nicht ausfallen. Von keinem deutschen Sportler und keiner deutschen Sportlerin wird der Titel, ihr dritter, so sehr erwartet wie von ihr.
Und so war es an der Athletin, souverän die Gemüter zu beruhigen und Sorgen auszuräumen – die sie durchaus selbst hat. „Bis Budapest ist noch viel Zeit und dies ist auch keine superschwere Verletzung“, versicherte sie, als sie mit Druckverband um den Oberschenkel zur Siegerehrung gehumpelt war und danach die Mixed Zone mit den Journalisten aufsuchte: „Man muss das einfach auskurieren; das wird schon wieder.“
Malaika Mihambo hat Nehmerqualitäten. Bei der Europameisterschaft von München im vergangenen Jahr war sie, nachdem sie, kaum erholt von einer Corona-Infektion Zweite geworden war, zusammengebrochen. Sie bekam keine Luft.
„Nicht den Kopf in den Sand stecken“
Diesmal gab sie souverän Auskunft. Eine Ultraschalluntersuchung habe keine Hinweise auf eine ernsthafte Verletzung ergeben; weitere Diagnosen seien erst am Mittwoch sinnvoll. „Wenn ich Glück habe, ist es nichts“, sagte sie: „Wenn ich Pech habe, ist es eine Zerrung oder sogar ein Muskelfaserriss.“ Vermutlich war die Kälte beim Diamond-League-Meeting von Stockholm in der vergangenen Woche Ursache der muskulären Irritation, sagte Mihambo. Von dem Wettkampf dort bei lediglich 13 Grad Celsius sei sie mit Schmerzen im Oberschenkel heimgekehrt. Möglich, sagte sie, dass die Hitze nun und ein möglicher Elektrolytmangel diese Reaktion des Muskels ausgelöst habe. Auf Fragen und Befürchtungen reagierte sie gelassen: „Ich kann jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken; davon heilt der Oberschenkel nicht schneller. Auch Sorgen machen hilft nicht bei der Heilung.“
Die bevorstehende Trainingspause kommt ungelegen. Wegen Erkrankung hatte Malaika Mihambo später mit der Vorbereitung auf die Saison begonnen als geplant. Beim Anlauf ist sie zum kompromisslosen Sprint wie im Jahr ihres ersten Weltmeisterschaftsgewinns, 2019 in Doha, und damit zu ihren Sätzen auf 7,30 Meter zurückgekehrt. Damit ist sie nicht nur die Schnellste der Welt, sie trifft auch den Absprungbalken mit größerer Präzision als in den vergangenen Jahren.
Kassel zeigte, dass sie auf gutem Weg war. Dennoch hob sie bei einem ihrer beiden Meisterschaftssprünge zehn Zentimeter zu früh ab, so dass sie rechnete: „Das waren netto sieben Meter.“ Sie hat die Weite also drauf. Sie komme derzeit gut in die Wettkämpfe und wisse, dass sie bislang unter ihren Möglichkeiten geblieben sei: „Schade, dass ich so gebremst werde.“
Weiter zu denken, an Budapest gar, erlaubt sie sich nicht: „Ich versuche nicht zu verzweifeln oder traurig oder ängstlich zu sein, dass es nicht klappen könnte.“ Das Hoffen und Bangen überlässt sie den Fans.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 10. Juli 2023