Die Spitzengruppe mit Haile und Makau passiert die 5 km Marke ©Helmut Winter
„Wachablösung“ – Anmerkungen zum 38. Berlin-Marathon am 25. September 2011 – Helmut Winter berichtet
Während der Sieg von Patrick Makau beim 38. Berlin-Marathon nicht unerwartet kam, konnte man mit einem neuen Weltrekord im Vorfeld nicht unbedingt rechnen. Selbst der Streckenscout der Veranstaltung, John Kunkeler, stets Garant für eine gute Prognose, lag diesmal mit 2:04:44 daneben.
Nachdem Makau im Frühjahr beim Halbmarathon in Ras Al Khaimah in 1:03 wenig überzeugen konnte und beim London Marathon als Dritter dem Sieger Emmanuel Mutai in der Schlussphase nicht mehr folgen konnte, demonstrierte er in Berlin seine alte Leistungsstärke und besiegte nicht nur den Superstar der Szene, Haile Gebrselassie, sondern nahm dem Äthiopier auch seinen vor drei Jahren an gleicher Stelle erzielten Weltrekord ab. 2:03:38 sind nun das Maß der Dinge über die Marathondistanz, 21 Sekunden oder 0,5 Sekunden/km schneller als Haile und im Ziel insgesamt 3 Minuten schneller als ein 3 Minutenschnitt, d.h. 2:55,8 pro km.
Und mit dem Weltrekord sowie dem gleichzeitigen Ausstieg von Haile vollzog sich sehr sichtbar eine Wachablösung, die mit einer weiter zunehmenden Dominanz der Läufer und Läuferinnen Kenias einhergeht.
Makau bleibt damit in den Straßen Berlins ungeschlagen und hält mit der Weltklassezeit von 58:56 auch den Streckenrekord beim Berliner Halb-Marathon. Dabei vollzog sich sein Durchbruch in der internationalen Straßenlaufszene ebenfalls in Berlin. Bei den „25 km von Berlin“ siegte er als 21jähriger Nobody und Nachwuchsmann namens Patrick Musyoki in einem beeindruckenden Spurtrennen, obwohl er sich beim Einlauf ins Olympiastadion kurz verlief.
Ein Jahr später kam er an den gleichen Ort zurück, nannte sich nach dem Wechsel der Namen von Vater und Mutter Makau und blies erstmals zur Jagd auf einen Weltrekord, die aber im Mai 2007 an der Hitze scheiterte. Das damalige Versprechen, nach Berlin zurückzukommen und im Marathon auf Rekordjagd zu gehen, löste er gut vier Jahre später eindrucksvoll ein.
Da man sich im Vorfeld zum diesjährigen Marathon auf eine Durchgangszeit von 62 Minuten verständigt hatte, ließ dies alle Optionen offen. Mit 6 Tempomachern ging man an der Spitze konsequent zur Sache. Neben Makau und Haile gingen die Kenianer Samal und Kimaiyo das hohe Tempo anfangs mit, mussten dafür aber bezahlen. Samal lief später die 5 km von 30 km nach 35 km in fast 19 Minuten und stieg dann aus, Kimaiyo verlor zwar 6 Minuten auf die Spitze, wurde aber in 2:09:50 noch Dritter.
Bis 15 km orientierten sich die glänzend geführten Pacemaker an den Zwischenzeiten der Vorjahre – 5 km 14:37, 10 km 29:17, 15 km 43:52 – dann zog das Tempo gegenüber Hailes Weltrekord von 2008 (2:03:59) an. Dies kann man recht gut in der Grafik erkennen, in der die Zeitdifferenzen zum Weltrekord aus dem Jahr 2007 von 2:04:26 (Berlin) als Funktion der Streckenlänge aufgetragen sind. Zum Vergleich sind auch die Daten des Weltrekords von 2008 (blaue Punkte) und des Berlin-Marathon von 2009 (rote Punkte) ebenfalls eingezeichnet.
Die Spitze wurde nach gut 15 km schneller und orientierte sich an 2009, wo Haile allerdings in der Wärme im Schlussteil erheblich einbrach und seine Rekordmarke nicht verbessern konnte. Beim Halbmarathon lag man mit 61:44 20 Sekunden unter dem Weltrekordsplit von 2008 und auf Rekordkurs. Die Entscheidung um den Sieg fiel nach 27 km, wo Haile durch eine belastungsbedingten Asthmaanfall stoppen musste, kurz darauf mit km-Abschnitten von 3:30, 3:13 und 3:18 den Lauf zunächst fortsetzte, um dann aber bei 35 km mit einer Zeit knapp unter 1:45 endgültig auszustiegen.
Zu diesem Zeitpunkt war Makau schon weit enteilt und hatte durch eine weitere Temposteigerung die Matten an der 30 km-Marke in 1:27:38 passiert und damit den etwas fraglichen Weltrekord aus dem Jahr 2009 von Haile mit 1:27:49 deutlich verbessert. Hier wurde Makau noch von Peter Kirui unterstützt, der selbst etwa 10 m vor ihm die 30 km erreichte und mindestens eine Sekunde schneller war. Seine Zeit findet aber keine Aufnahme in die Rekordlisten, weil er das Rennen nicht zu Ende lief. Diese Regel mag verstehen, wer will, aber wäre er nach seinem Ausstieg als Tempomacher nach 32 km locker ins Ziel gejoggt, dann wäre jetzt er der Inhaber des Weltrekords. Das hatte ihm aber wohl niemand mitgeteilt. Zudem war im Frühjahr sein Landsmann Moses Mosop in Eugene auf der Bahn fast eine Minute schneller, was die Leistung relativiert.
Auch ohne die Unterstützung Kiruis hielt Makau zunächst auch allein das Tempo hoch und hatte bei 35 km in 1:42:16 bereits 50 Sekunden Vorsprung auf die Zwischenzeit beim Weltrekord. Das war ebenfalls schneller als Haile vor zwei Jahren. Schaut man sich die Schlussphase des Laufs an, so waren es besonders die Abschnitte von 25 km bis 30 km (14:20) und 30 km bis 35 km (14:38), die Makau ein Zeitpolster für das Finale verschafften.
Denn nach 35 km wurde er deutlich langsamer, die Duplizität der Ereignisse mit Hailes „Einbruch“ 2009 ist in der Grafik gut zu erkennen. Somit geriet der Weltrekord noch einmal kurz in Gefahr, aber das Polster für das Finale war ausreichend groß und ferner gelang es ihm auf den letzten 3 km das Tempo noch einmal zu steigern und den absteigenden Trend gegenüber Hailes Rekordläufen zu drehen.
Das Ergebnis ist bekannt: WELTREKORD in 2:03:38, 21 Sekunden schneller als Haile 2008. Nach 2007 kehrt nun diese prestigeträchtige Marke des Straßenlaufs wieder nach Kenia zurück. Erzielt hatte Makau diese tolle Zeit allerdings mit einer völlig anderen Renngestaltung als beim vorigen Weltrekord, wo Haile sehr gleichmäßig den Vorsprung auf seine Bestmarke davor herausholte. Im Vergleich dazu „brach“ Makau in der Schlussphase recht deutlich ein, wie auch seine 14:59 von 35 km nach 40 km belegen, die Haile 2008 in schnellen 14:28 lief. Hier impliziert die Grafik das Potential für weitere Steigerungen seines Rekords, falls es geling diesen Leistungseinbruch (den ganz ähnlich auch Haile 2009 zeigte) weiter zu begrenzen.
Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis die nächste Schallmauer von 2:03 fällt. In Berlin waren die zunehmenden Temperaturen und die Sonneneinstrahlung während des Finales sicher noch ein Nachteil, bei ansonsten allerdings recht guten Bedingungen: kaum Wind, anfängliche Temperaturen um 15°C.
Mit Makaus Fabelzeit setzt sich eine Entwicklung im Marathon der Männer fort, an dessen Geschichte die Berliner Strecke maßgeblich beteiligt war. Von den sieben letzten Weltrekorden, seit 1998 Ronaldo da Costa völlig überraschend 2:06:05 lief, wurden fünf in Berlin aufgestellt.
Besonders erwähnen wir hier den ersten Lauf unter 2:05 im Jahr 2003 durch Paul Tergat mit 2:04:55. Damals ein Lauf in neue Dimensionen. Wie weit sich die Szene weiter entwickelt hat, zeigt die Tatsache, dass heute das Zehnermittel der Berliner Strecke exakt dieser Zeit entspricht. Eine schier unglaubliche Entwicklung. Dank Makau hat sich Berlin somit wieder den Titel der schnellsten Strecke zurückgeholt, vor Rotterdam mit 2:05:07 und London mit 2:05:21.
Die Gründe für die Dominanz Berlin in der Marathonszene, zumindest was die Weltrekorde der letzten Jahre anbetrifft, sind sicher vielschichtig. Immer wieder genannt werden die attraktive Strecke, deren Höhendifferenzen für Höchstleistungen noch akzeptabel sind, sowie der Zuschauerzuspruch an der Strecke.
Ganz wichtig natürlich auch die äußeren Bedingungen, die am letzten Sonntag wieder ausgezeichnet waren, es herrschte kaum Wind und die Temperaturen waren am erträglichen oberen Limit, die Luft war leistungsfördernd kühl und trocken. Aber neben den Athleten, die dann eine solche Tempohatz mitmachen und auch überstehen, benötigt man – und das belegen auch die Daten der Grafik – besonders im ersten Teil des Rennens ein kontrolliertes Pacing.
Und da ist das „Berliner Modell“ weltweit nach wie vor führend und wird mittlerweile bei diversen anderen Veranstaltungen mit Erfolg kopiert. Durch eine verschwenderisch hohe Anzahl von Tempomachern, die vom Racedirector Mark Milde und verantwortlichen Managern exzellent geführt werden, gelingt es, den Spitzenathleten jenes „Tempo zu machen“, was unabdingbare Voraussetzung für Spitzenzeiten am Ende ist. Der grandiose Erfolg Berlins in diesem Segment belegt diesen Aspekt nachhaltig.
Dass die glänzend vorbereiteten Tempojagden auch ihren Preis haben, verdeutlicht ein Blick auf die Nächstplatzierten und bestätigt die Einschätzung, dass ein zu hohes Anfangstempo im Marathon später unerfreuliche Wirkung zeigt. Platz 2 in 2:07:55 ging an einen Hasen der zweiten Gruppe Stephen Chemlany, der den Halbmarathon in 1:03:31 passierte, und Platz 3 in 2:09:50 an Edwin Kimaiyo, der wie schon erwähnt am Ende gewaltig einbrach. Damit liefen nur 3 Läufer unter 2:10, das ist für die Ansprüche einer Veranstaltung wie den Berlin-Marathon eher bescheiden, und nur insgesamt 5 Läufer unter dem internationalen Qualifikationsstandard von 2:13 bedeuten eine enttäuschende Leistungsbreite.
Und enttäuschend war auch das Abschneiden der deutschen Elitemänner. Falk Cierpinski sah bis zum Halbmarathon in 1:06 noch gut aus, stieg aber nach 25 km aus, das gleiche Schicksal ereilte 5 km später Martin Beckmann. Somit waren Markus Weiß-Latzko (LG Neckar-Enz) in 1:19:03 als 24. und Sven Weyer (SG Spergau) in 1:19:06 als 25. die besten Deutschen. Dass das deutsche Jahresbestzeiten sind, sollte man nicht übermäßig herausstellen.
Durch den Sieg in Berlin übernahm Patrick Makau mit 60 Punkten auch die Führung in der Marathon Majors Wertung (ein hochdotiertes Punktesammeln bei int. Meisterschaften und den Marathongrößen London, Boston, Berlin, Chicago und New York City), dicht gefolgt von den beiden Mutais, die Makau beim Kampf um die halbe Million US$ beim New York Marathon noch überholen können. Aber Makau kann sich dafür schon heute mit einem neuen Weltrekord trösten, der das Jahr jedoch noch nicht überstanden hat. Nach dem überraschenden Ausgang in Berlin wartet man jetzt auf Chicago, Frankfurt und Amsterdam; die Jagd auf Makaus neue Marke kann beginnen.
Aber neben dem Geld geht es auch um die Ehre, besonders für einen Kenianer. Und da zeigte der Weltrekord bereits Wirkung. Nach aktuellen Informationen sollen sowohl der neue Weltmeister Abel Kirui als auch der neue Weltrekordler Makau eine Wildcard für das kenianische Team bei den Olympischen Spielen in London 2012 erhalten. Trotz der erheblichen Konkurrenz im eigenen Land haben beide das sicher verdient, die zufälligerweise (oder auch nicht?) vom gleichen Coach, Roberto Canova, trainiert werden; eine in der Tat erfolgreiche Trainingsgemeinschaft.
Bleiben vom 38. Berlin-Marathon wird sicher auch die Erinnerung an einen der Größten der Laufszene, Haile Gebrselassie, dessen Karriereende nun unweigerlich naht. Seine Vorstellung bis 27 km war glänzend, wie weit sein Ausscheiden nur auf sein Asthma zurückzugeführt werden kann (so sein Manager Jos Hermens in einer improvisierten Pressekonferenz), wird spätestens seine wohl letzte Chance der Qualifikation für die Olympischen Spiele in London zeigen, die aktuell der Dubai-Marathon sein dürfte. Die Erfahrungen zeigen, dass man Haile nicht zu früh abschreiben sollte, so schwer es für ihn auch sein dürfte, sich gegen die jüngere, beinharte Konkurrenz durchzusetzen. Spätestens beim Berlin Marathon ist die Wachablösung des großen Läufers erfolgt.
Eine Wachablösung gab es auch bei den Frauen, wo die junge Florence Kiplagat erstmals in sehr guten 2:19:44 ein Marathon durchlief und die „alten Damen“ auf die Plätze verwies. Grandios der zweite Platz in 2:22:18 von Irina Mikitenko, die in einem überaus klug eingeteilten Rennen die Ausnahmeläuferin der letzte Dekade, Paula Radcliffe, mit 2:23:46 deutlich hinter sich ließ. „Miki“ hat 2012 in London sicher gute Chancen auf eine vordere Platzierung und ist mit dieser Zeit das Aushängeschild der deutschen Marathonszene.
Und ohne großes Aufsehen ist eine weitere Karriere in Berlin zu Ende gegangen. Bernd Hübner, die Lauflegende aus Berlin, bis zum vorletzten Jahr bei allen 36 Berlin-Marathons dabei, musste nach dem Verzicht im letzten Jahr diesmal nach 15 km die Segel streichen. Damit dürfte eine einmalige Serie zu Ende gehen. Schon seit dem letzten Jahr gibt es niemanden mehr, der bei allen Auflagen dabei war. Bernd Hübner und der Berlin-Marathon, auch das dürfte jetzt Geschichte sein.
Ganz jung dagegen nimmt sich die Zeitspanne aus, in der in privater Verantwortlichkeit die Fernsehübertragung vom Berliner Marathon produziert wird. Nach den guten Ansätzen des letzten Jahres, allerdings dem schlechten Wetter geschuldeten Problemen, hatte man sich diesmal viel versprochen, wurde aber enttäuscht, weil die sehr wichtigen Motorradkameras alle ausfielen. Mit gekonnter Improvisation hat man die Defizite zu lindern versucht, aber die Standards anderer Marathon-Übertragungen konnten die Bilder aus Berlin 2011 nicht erfüllen.
Die Ansätze mit (allerdings nicht immer korrekten) Zwischenzeiten, Streckenlängen und projizierten Zeiten waren wieder sehr gut, fürs nächste Jahr kann man dem Team nur mehr Glück wünschen. Und dieser Wunsch geht auch in Richtung besserer Zuschauerquoten, denn einige 100.000 Zuseher sind für eine Live-Produktion mit diesem Aufwand einfach zu wenig.
Helmut Winter
Patrick Makau springt über Ziel-Barriere | 38. Berlin Marathon
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