In monatelangen Auseinandersetzungen mit dem Leichtathletik-Weltverband (IAAF) hat er das Recht erstritten, auf Prothesen, die seine Füße und seine Unterschenkel ersetzen, um die Qualifikation für die Olympischen Spiele zu kämpfen
Vorkämpfer Pistorius – „Menschenrecht auf Sport“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Ganz sicher: Es gibt ein Menschenrecht auf Sport“, sagt Oscar Pistorius. „Ob es Behinderungen sind, die die Menschen trennen, Rasse, Geschlecht, Ideologie oder Religion, eines bringt sie zusammen: Sport. Deshalb ist er ein Menschenrecht.“ Das hatte sich der 21 Jahre alte weiße Südafrikaner gewiss nicht vorgestellt, dass er eines Tages ein Kämpfer für das Recht auf Bewegung und Wettbewerb werden würde.
In monatelangen Auseinandersetzungen mit dem Leichtathletik-Weltverband (IAAF) hat er das Recht erstritten, auf Prothesen, die seine Füße und seine Unterschenkel ersetzen, um die Qualifikation für die Olympischen Spiele zu kämpfen. Als er sich am Dienstag in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz präsentierte, kamen mehr als drei Dutzend Journalisten aus mehreren Ländern Europas. „Italien ist das verrückteste Land für mich“, sagt Pistorius. „Da kommen noch mehr Leute. Ich freue mich darauf, dort zu starten.“ An diesem Wochenende tritt er bei den Internationalen Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften der Behinderten in Berlin an.
„Ich habe sie einfach überrannt und niedergemacht“
Oscar Pistorius hatte eine handfeste Art, Sportkameraden die Berührungsangst gegenüber Behinderten zu nehmen. Er spielte Rugby. „In den ersten fünf Minuten war es meist ziemlich einfach für mich. Ich habe sie einfach überrannt und niedergemacht“, erzählt er. „Dann haben sie gemerkt, dass ich nicht lasch spiele, und haben ohne Hemmungen härter zugepackt.“
Offensichtlich gefällt sich der Mann ohne Beine in der Rolle des Rauhbeins. Zunächst hatte er gar nicht verstanden, worin das Problem bestehen sollte, einen Spieler ohne Beine zu tacklen. Da rollte er eines seiner Hosenbeine hoch und bat, mit dem Finger auf die Prothese zu drücken. „Sie ist ganz weich“, sagte er, „keine Gefahr, dass Sie sich verletzen.“
Der Junge, der ohne Schienbeine geboren wurde
Er war es, der sich damals beim Rugby verletzte. Weil er eine Pause vom Kampfsport nehmen musste, begann er zu laufen. Oscar Pistorius stieg um auf Leichtathletik und auf Prothesen, die nicht weich, sondern schnell sind: auf Karbon-Schwingen mit dem Namen „Cheetah“, Gepard.
Der ehemalige Rugby-Spieler Pistorius: „Ich habe sie einfach niedergemacht”
Der ehemalige Rugby-Spieler Pistorius: „Ich habe sie einfach niedergemacht”
Bald wollte er sich nicht damit zufriedengeben, Weltrekorde von hundert (10,91 Sekunden) über zweihundert (21,58) bis vierhundert Meter (46,56) aufzustellen und Medaillen bei den Paralympics zu gewinnen. Oscar Pistorius, der Junge, der ohne Schienbeine geboren wurde und dessen Eltern seine Beine deshalb einen Monat vor dem ersten Geburtstag unterhalb der Knie amputieren ließen, will zu den Olympischen Spielen.
„Du läufst ja gar nicht, es ist deine Prothese, die läuft!“
Sein Kampf mit der IAAF, die im März vergangenen Jahres eine Regel speziell für ihn, besser: speziell gegen ihn und seine Prothesen schuf, mag Geschichte sein. Doch sein Erfolg vor dem Internationalen Sportgerichtshof (Cas) ist ein Sieg für alle Menschen, die sich nicht vom Sport ausschließen lassen wollen, weil sie zum Laufen einer Prothese bedürfen. „Ich bekomme E-Mails aus aller Welt. Eine kam von einem Mann aus Amerika, der im Irak-Krieg ein Bein verloren hat“, erzählt Pistorius. „Er wollte einen Marathon mitlaufen, nur mitlaufen, aber sie ließen ihn nicht. Jetzt kann er sich auf mich berufen.“
Seine Art von “Beine baumeln lassen“
Seine Art von "Beine baumeln lassen"
Obwohl der oberste Gerichtshof des Sports sein Urteil strikt auf Oscar Pistorius und allein auf dessen Rennprothesen aus Kohlenstoff beschränkt, hat er doch deutlich gemacht, dass die IAAF bei ihrem Verfahren zum Ausschluss von Pistorius allein belastende Fakten erhob, nicht aber solche, die den Läufer entlastet hätten. „Wenn jetzt jemand sein Startrecht erkämpfen will, muss er nicht durch all diese Tests und Verfahren wie ich“, sagt Pistorius. „Allein das ist ein Fortschritt. Niemand auf der Welt wird mehr zu einem behinderten Läufer sagen können: Du läufst ja gar nicht, es ist deine Prothese, die läuft!“
„Wenn es nicht klappt, habe ich immer noch ein paar Jahre“
Seit wenigen Wochen rennt Pistorius wieder. Bis zum Urteil des Cas am 17. Mai stand das Training hinter dem Rechtsstreit und gutachterlichen Untersuchungen zurück. „Wir nehmen das hier als Zeittest“, sagt Trainer Ampie Louw zum Neustart in Europa. Bei drei Starts in den vergangenen Wochen lief Pistorius nicht schneller als 47,91 Sekunden. Dabei muss er seine Bestzeit von 46,34 allein für die Qualifikation mit der B-Norm um vier Zehntel unterbieten; die A-Norm, die ihn fast sicher nach Peking bringen würde, liegt bei 45,55.
Sie heißen „Cheetah”, Gepard: Karbon-Schwingen statt Unterschenkeln
Sie heißen „Cheetah”, Gepard: Karbon-Schwingen statt Unterschenkeln
Weniger ein Einzelstart als die Qualifikation für die südafrikanische Staffel fasst Pistorius ins Auge. „Vielleicht ist das kein realistisches Ziel, aber wir versuchen es“, sagt er. „Wenn es nicht klappt, habe ich immer noch ein paar Jahre.“ Die Veranstalter in Berlin haben ihre Meisterschaft zur Sicherheit beim Deutschen Leichtathletik-Verband angemeldet; Rekorde und Qualifikationszeiten gelten.
Vielleicht kommt Pistorius ja schon vor seinem vorolympischen Saisonhöhepunkt in Schwung, den Sportfesten von Mailand und Rom.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 12. Juni 2008