Dort saß entspannt und mit einem Fotoapparat vor dem Bauch Asafa Powell. Er hatte am Vortag den Sprint in 9,94 Sekunden gewonnen und gezeigt, dass er körperlich bereit ist für die Olympischen Spiele.
Von wegen Swinging London – Wenige Rockstars und ein Covergirl: Den Grand Prix der Leichtathletik in der Olympiastadt von 2012 empfindet so mancher Aktive als \“total chaotisch\“. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
LONDON. Weltmeister und Olympiasieger reichen der Leichtathletik nicht mehr. Ihre Besten sollen auch Rockstars sein. Beim auf zwei Tage ausgedehnten Grand Prix in Crystal Palace in London bereiteten der Weltverband IAAF und UK Athletics ihnen nicht nur eine Bühne, sondern präsentierten der Welt auch ihr neues Magazin "Spikes".
Mit dieser Mischung aus "Rolling Stone" und "Sendung mit der Maus" wollen die Verbände und ihre Agentur, wie sie schreiben, "eine ganz neue Art von Leichtathletik-Fans und Rekordbrechern schaffen". Die besten Läufer, Springer und Werfer müssten nämlich dringend besser verstanden, geschätzt und gefeiert werden.
Das deckt sich mit den Versprechen, die Swinging London für 2012 gemacht hat. Am Sonntag waren es noch vier Jahre bis zur Eröffnung der übernächsten Olympischen Sommerspiele. "Wählen Sie London und Sie geben der Jugend der Welt eine deutliche Nachricht", rief vor drei Jahren in Singapur Sebastian Coe, inzwischen Vorsitzender des Organisationskomitees, und versprach den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), "junge Leute zu inspirieren, sich für Sport zu entscheiden, einerlei, wo sie leben, was sie tun und woran sie glauben".
Leider aber müssen Leichtathleten, wie alle anderen Sportler auch, mit ihren Einsätzen und Leistungen sorgsam umgehen, insbesondere, wenn Olympische Spiele bevorstehen. So konnten sich am Freitag und am Samstag bei sonnigem Wetter jeweils rund 15 000 Zuschauer, unter ihnen ein großer Anteil Jamaikaner, an den herausragenden Sprints und den eher stereotypen Sprüchen von Asafa Powell und Usain Bolt erfreuen, zwei der ganz wenigen möglichen Rockstars der Veranstaltung. Deren größter Rivale, der Amerikaner Tyson Gay, hatte kurzfristig abgesagt.
Der 21 Jahre alte Bolt, der zu seiner eigenen Überraschung vor sieben Wochen in New York den Weltrekord im Sprint auf 9,72 Sekunden verbesserte und zu seinem nicht geringen Ärger am Dienstag in Stockholm über 100 Meter gegen Powell mit einer Hundertstelsekunde Rückstand verlor, lief am Samstag auf den 200 Metern 19,76 Sekunden. Nicht nur mit seiner Größe von 1,93 Meter war er der überragende Mann, sondern auch mit seiner Eleganz, Kraft und Schnelligkeit. Dreißig, vierzig Meter vor dem Ziel nahm er sich die Zeit, zunächst nach den Rivalen zu schauen und dann ins Publikum.
Dort saß entspannt und mit einem Fotoapparat vor dem Bauch Asafa Powell. Er hatte am Vortag den Sprint in 9,94 Sekunden gewonnen und gezeigt, dass er körperlich bereit ist für die Olympischen Spiele. Ob seine Nerven im Rennen um die erste Goldmedaille für Jamaika besser sein werden als bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr, wird sich weisen müssen. Vermutlich dürfte neben Gay auch Bolt als Konkurrent antreten, obwohl er in London wieder behauptete, er würde ja gern, das letzte Wort aber habe Trainer Glen Mills, und der habe sich noch nicht entschieden. "Das Rennen fühlte sich leicht an", tönte Powell. "Noch ein bisschen Arbeit, und alles sollte stimmen für Peking."
Das war es dann fast schon mit der Show und den Rockstars. Jelena Isinbajewa, das Covergirl von "Spikes", brauchte drei Versuche für ihre Einstiegshöhe von 4,74 Meter, besiegte ihre amerikanische Herausforderin Jennifer Stuczynski mit 4,93 zu 4,81 Meter und versuchte sich sogar am Weltrekord von 5,04 Metern. Ein Weltrekordversuch im Hochsprung der Frauen unterblieb, weil die dafür zuständige Kroatin Blanka Vlasic abgesagt hatte. Anna Chicherowa aus Russland siegte mit 2,01 Meter. Ihr Landsmann Andrej Silnow, nicht qualifiziert für die Olympischen Spiele, übersprang 2,38 Meter, so viel wie noch kein Hochspringer in dieser Saison. Christina Obergföll siegte im Speerwerfen mit 65,93 Meter, Steffi Nerius wurde Dritte mit 61,81. "Das war so, wie ich mir das vorgestellt hatte", sagte Christina Obergföll. Zwischen Trainingslager und Sportfest hatte sie noch schnell eine Sportklausur geschrieben.
Auch im Hürdensprint kratzte niemand an der Bestzeit, denn der Kubaner Dayron Robles, der sie in Ostrava auf 12,87 Sekunden verbessert hat, wurde vom Zoll mit der Forderung nach einem Visum überrascht. Er reiste postwendend nach Hause und dürfte sich darüber womöglich freuen. Viele Athleten nämlich warteten stundenlang am Flughafen darauf, abgeholt zu werden, suchten stundenlang Hotelzimmer oder vertaten ihre Zeit beim Warten auf den Bus.
Viel weniger entspannt als Powell etwa hockten Hürdensprinter Thomas Blaschek und Mittelstreckenläufer Stefan Eberhardt im Publikum – ihr Bus war derart verspätet gewesen, dass sie ihre Wettkämpfe verpassten. Auch 800-Meter-Läufer René Herms ging nicht an den Start. Stabhochspringer Tim Lobinger berichtete, dass der Organisator sich drei Tage vor der Veranstaltung krank gemeldet und keinerlei Unterlagen hinterlassen habe. "Total chaotisch" fand auch Weitspringer Nils Winter die Organisation, nachdem er mitsamt seinem Reisegepäck ins Stadion gefahren und schließlich im Hotelzimmer von Dreispringer Charles Friedek (16,16 Meter) untergeschlüpft war.
"Was hier im Stadion stattfindet, war alles perfekt", fand er – abgesehen von seinen Sprüngen, deren weitester nur auf 7,52 Meter ging. Die Hürdensprinterinnen dürften anderer Meinung gewesen sein. Viele von ihnen brachen ihren Lauf ab, weil die Hürden falsch aufgestellt waren und die Sportlerinnen ihren Rhythmus verloren. Die britische Siebenkämpferin Kelly Sotherton verletzte sich dabei leicht am Oberschenkel.
Es ist noch ein weiter Weg von der Leichtathletik zu einem Rock-Event.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 29.07.2008