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29
02
2012

Start zum 6. Tokyo-Marathon im Stadtteil Shinjuku um exakt 9:10 Uhr. ©Victah Sailer

„Von der Strecke besiegt.“ Haile Gebrselassie verpasst die Qualifikation für Olympia. Eine Nachlese zum Tokyo-Marathon vom 26.2.2012. Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Haile hatte schon auf der Pressekonferenz vor dem Tokyo-Marathon geahnt, was ihn beim Lauf erwartete. „Bei den 10000 m im Stadion kämpft man gegen seine Gegner, beim Marathon aber gegen die Strecke", so der Äthiopier am Freitag. Er sollte mit diesem Statement zwei Tage später sehr richtig liegen.

Nach dem Dubai-Marathon 2010 beendete Haile wieder einen Marathon, verfehlte aber mit 2:08:sein hochgestecktes Ziel, sich für das äthiopische Olympiateam zu qualifizieren, am Ende sehr deutlich. Ironischerweise waren es auch noch die Fabelzeiten seiner jungen Landsleute beim diesjährigen Dubai-Marathon, die die Latte für seine Olympiaqualifikation unerwartet hoch legten.

Und auch dem zweiten Topstar der Veranstaltung, dem „Shooting Star" der japanischen Marathonszene Yuki Kawauchi, ereilte das gleiche Schicksal. Auch er musste der Streckenlänge Tribut zollen und fiel nach sehr guten 1:03:20 für die Halbdistanz bereits nach 23 km aus einer vielköpfigen Verfolgergruppe zurück und erreichte in für ihn indiskutablen 2:12:51 das Ziel. Nachdem er durch seine gute Vorstellung als bester Japaner beim Fukuoka-Marathon im Dezember 2011 schon fast die Fahrkaste für London gebucht hatte, wird er nun vermutlich zu Hause bleiben müssen.

Am Montag arbeitete Kawauchi schon wieder in seiner Schuladministration und hatte sich als „Strafe" für seine enttäuschende Leistung eine Glatze geschnitten. Vor Tokyo hatte er beabsichtigt, am 29. April beim Düsseldorf-Marathon den Effekt des Jetlags für die Olympiade zu testen. Bleibt zu hoffen, dass er trotz des Fehlschlags – dann schon mit nachgewachsenen Haaren – auf Deutschlands Straßen zu bewundern sein wird. Er wird ohne Zweifel auch beim Metro Group Marathon wieder alles geben.

Während Kawauchi auf der Pressekonferenz seine Leistung sehr konsequent einschätzte und sich einer Teilnahme bei Olympia nicht würdig fand, konnte man von Haile andere Statements vernehmen. Denn statt des befürchteten erneuten Rücktritts von seiner aktiven Karriere (auch dazu Haile am Freitag: „Man hört niemals mit dem Laufen auf, man beendet irgendwann nur den Wettkampfsport.") war Haile erstaunlich realistisch, aber auch optimistisch. Er fühle sich aktuell sehr fit und könne schon in „zwei Wochen" wieder einen Marathon laufen, machte aber keine klare Aussage, wie es mit seiner Qualifikation weitergehen soll, vor allem, wo er noch in diesem Frühjahr an den Start gehen will.

Startgelegenheiten gibt es im Frühjahr in Europa in großer Zahl, aber nur wenige Kurse bieten vom Profil und der professionellen Betreuung sowie dem Umfeld das Potential, sehr schnelle Zeiten zu garantieren. An Spekulationen, ob das hochgradig besetzte Rennen in Rotterdam eine erste Wahl sein könnte, wollen wir uns nicht beteiligen. Ein direkter Lauf gegen die Elite der Kenianer eine Woche später in London wäre ein fast historisches Highlight, aus diversen Gründen ist diese Option aber noch unwahrscheinlicher. Auf ein Spiel mit diversen Unwägbarkeiten wie am Sonntag in Tokyo wird sich der Superstar der Szene sicher nicht noch einmal einlassen.

Und damit kommen wir noch einmal auf seinen Start in Tokyo zurück, der im Vorfeld angesichts des Drucks der Qualifikation für London nicht sehr schlüssig erschien. Die Ereignisse am Sonntag gaben diesen Befürchtungen leider Recht. Dabei meinte es das Wetter überaus gut mit dem kleinen Äthiopier, nach kräftigen Regengüssen, Kälte und scharfen Windböen an den Vortagen waren für lokale Standards die Bedingungen erstklassig: Geschlossene Bewölkung, günstige Temperaturen (6,0°C am Start um 9:10 Uhr, 7,5°C am Ziel um 11:22 Uhr) und Luftfeuchte (58%, 50%), mäßiger Wind.

Leider konnten Haile und seine Mitstreiter die Gunst der Stunde für eine Flut von Topzeiten nicht nutzen, herauskam bei den Eliteathleten bestenfalls solides Mittelmaß. Welches Glück diese und alle weiteren 35.000 Läufer (34.674 im Marathon sowie 10 km im Ziel) mit dem Wetter hatten, zeigte sich schon zwei Tage später mit heftigen Schneefällen und verschneiten Straßen.

Obwohl Haile etwas undifferenzierte Rückenprobleme ins Spiel brachte und sportliche Höchstleistungen durch viele Parameter bestimmt sind, hatte die Veranstaltung in Tokyo Defizite aufzuweisen, die klar zu Lasten der Eliteathleten gingen und Topleistungen geradezu verhindern. Allein eine nüchterne Analyse des Leistungsniveaus auf den Straßen der japanischen Hauptstadt belegt, dass da etwas nicht optimal läuft.

Zwar verbesserte der Lauf das Zehnermittel der Zeiten des Kurses in Tokyo auf 2:07:46, das ist aber international bestenfalls zweite Wahl und bedeutet je nach Bewertungskriterien etwa nur Platz 18 im weltweiten Ranking. Die Siegerzeit vom Sonntag vom 2:07:37 hätte in Dubai vor vier Wochen nicht einmal für ein Preisgeld gereicht und selbst im Januar im israelischen Tiberias lief man schneller; im letzten Jahr waren global 55 Läufer schneller, in diesem Jahr schon 15.

Ein erstes Defizit waren die Pacemaker der ersten Gruppe, Samuel Tsegay (PB 2:07:28) und Mulugeta Wami (PB 2:08:32), die schon vor der Halbmarathonmarke überfordert waren. Zunächst machten sie bis 10 km in 29:35 gute Arbeit, auf den nächsten 5 km in 15:05 zeigten sich erste Schwächen, zumal 20 Sekunden dahinter eine zweite Gruppe von gut 20 Läufern diesen Abschnitt in 14:56 zurücklegte. Nach der Halbdistanz in akzeptablen 62:51 zog Haile die Konsequenzen und übernahm mit seinem Landsmann und Vorjahressieger Hailu Mekonnen die Spitze, die Mitstreiter und der letzte Tempomacher fielen schnell zurück. Bei 25 km in 1:14:17 lag man auf Kurs von unter 2:05:30, Haile war mit einem Fuß in London.

Doch nach 30 km in 1:29:07 stockte der äthiopische Express an der Spitze, 15:34 für die kommenden 5 km waren der Anfang eines mächtigen Leistungsabfall. Und da kamen noch zwei weitere Defizite in Tokyo dazu. Bei einer Veranstaltung, bei der mit Humanressourcen sehr verschwenderisch umgegangen wird (auf einer Fußgängerbrücke konnten 5 Polizisten und 15 Ordner gezählt werden, die die Zuschauer und Medienvertreter daran hindern sollten, von dieser den Lauf zu verfolgen), scheint man nicht in der Lage zu sein, das Aufnehmen von Trinkflaschen zu organisieren. Haile und alle Spitzenläufer mussten die sich diese ganz am Streckenrand von unübersichtlich angeordneten Tischen mit erheblichen Schwierigkeiten heruntersuchen. Bei 35 km war es dann soweit, Haile verfehlte in dieser wichtigen Phase sein Getränk. Damit war er aber noch deutlich besser dran als der arme Yuki Kawauchi, der in der Anfangsphase bei 5 km und 10 km seine Trinkflaschen verpasste und auch deshalb später große Probleme bekam. Unhaltbare Zustände!

Trotzdem lief Haile nach kurzem Stopp weiter und konnte sich von seinem Mitstreiter Mekonnen lösen, dem die Tempoarbeit sichtlich Kraft gekostet hatte; mit 17:11 für die kommenden 5 km ging er förmlich ein. Aber auch Haile hatte zu kämpfen. Mit einem km-Abschnitt von 3:10 nach 36 km wurde er zwar Mekonnen los und sah schon wie der Sieger aus. Aber nach zwei weitern km in 3:15 war nicht nur ein gute Zeit dahin, von hinten kam nun Michael Kipyego (PB 2:06.48, Eindhoven 2011) auf und überholte den Topstar hinter der 38 km Marke.

In dieser Phase des Rennens bekamen aber nicht nur Haile ein weiteres Defizit zu spüren, den Streckenverlauf in der Schussphase. Um die große Menge der Läufer am Ende „abzufertigen" endet der Lauf nicht an einer spektakulären Location der Stadt, sondern in einem nur durch seine Zweckmäßigkeit zu rechtfertigenden Messezentrum. Die letzten km dahin sind fast eine Zumutung. Über Hochstraßen, die penibel abgesperrt waren, und Vorstadtbrachen ging es weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit zum Ziel. Das ganze erinnert an frühe Jahre des Chicago-Marathons, wo der Schlusspart über den Lake Shore Drive – eine für Zuschauer gesperrte Autobahn – ging; die Streckenverlegung in die South Michigan Avenue ist mittlerweile eines der Highlights der dortigen Strecke.

Während diese Streckenführung auch durch kräftige Anstiege und anschließendes Gefälle sicher nicht leistungsfördernd auf die Läufer einwirkt, sorgte sie am Sonntag immerhin für einen sehr spannenden Schlussteil. Bei 40 km wurde Haile nach indiskutablen 16:13 für die letzten 5 km auch von Stephen Kiprotich eingeholt. Haile km-Splits waren mittlerweile bei 3:19 angelangt. Nach weiteren 3:22 holte ihn auch der von hinten heranstürmende Japaner Arata Fujiwara ein, der bei 30 km noch über eine Minute hinter ihm gelegen hatte. Haile war nun völlig aus der Spur und nach 3:22 erreichte er die Zielgerade bei 42 km. Da waren aber schon drei vor ihm im Ziel. Michael Kipyego sicherte einen kenianischen Sieg in Tokyo in 2:07:37 knapp vor dem Japaner Fujiwara mit Bestzeit in 2:07:48, der Stephen Kiprotich im Zielsprint mit 2:07:50 niederringen konnte. Ein Ausgang des Rennens der in dieser Reihung war nicht unbedingt zu erwarten.

Und am Ende hatte Haile nicht nur den Zug nach London verpasst, sondern wäre fast noch von jemanden passiert worden, der die Olympia-Fahrkarte bereits gelöst hat: Victor Röthlin wurde großartiger Fünfter in für ihn sehr guten 2:08:32. Der amtierende Europameister ist in der aktuellen Form nach wie vor der beste Europäer über diese Distanz. Victor hatte sich wie beabsichtigt nicht an der Tempohatz der Spitze beteiligt, sondern lief in der zweiten Gruppe, die allerdings die Halbdistanz in vermeintlich etwas zu schnellen 1:03:22 passierte. Aber eine neue Bestzeit – sein Rekord von 2:07:23 blieb als Streckenrekord von Tokyo bestehen – war auch wegen der oben aufgeführten Gründe kaum zu erwarten.

Yuki Kawauchi kam sichtbar gezeichnet in für ihn enttäuschenden 2:12:51 als 14. ins Ziel und trug dazu bei, dass 15 Läufer unter 2:13 bleiben. Ein sehr beachtliches Ergebnis. Yukis Höhenflug ist damit erst einmal gestoppt, aber auch nach Hailes Aufmunterung am folgenden Tag sollte er Tokyo schnell vergessen und hoffentlich nach Düsseldorf am 29. April kommen. Und unsere deutsche Spitze würde sich sicherlich auf diesen beeindruckenden Selfmade-Mann freuen.

Auch das Leistungsniveau bei den Frauen entsprach kaum hohen internationalen Ansprüchen. Schon früh hatte sich die Japanerin Eri Okubo abgesetzt und lag in 33:40 bei 10 km fast 1 Minte vor drei Verfolgerinnen, die beim Halbmarathon nach 1:11:40 sogar 1:45 zurücklagen. Dann drehte sich das Blatt, Okubo wurde langsamer, die Verfolgerinnen deutlich schneller. Am Ende siegte die Äthiopierin Atsede Habtamu in 2:25:28, die damit den Kursrekord von 2:25:38 aus dem Jahr 2009 steigern konnte. Aber wie bei den Männern ist das im internationalen Maßstab eher bescheiden. Zweite wurde kurz dahinter Landsfrau Yeshi Esayias in 2:26:00 vor Favoritin Helena Kirop in 2:26:02. Dann erst die lange führende Eri Okubo in 2:26:08.

Damit ging ein Marathon über die Bühne, der an der Spitze nicht ganz die hohen Erwartungen erfüllte. Bei einer Veranstaltung mit einem immensen organisatorischen Aufwand stand somit der Breitensport mit 30.149 Finishern im Marathon im Mittelpunkt. Die allerdings sehr kontrollierte Begeisterung der Japaner für den Straßenlauf war an vielen Stellen zu spüren, übermäßige Stimmung kam aber nur selten an der Strecke auf, dafür sorgten schon eine schier unerschöpfliche Anzahl von Helfern, die in vielerlei Hinsicht die Dinge überzogen und jegliches Augenmaß vermissen ließen.

Wer als Außenstehender miterleben darf, wie mit Hilfe von Stricken sekundengenau an den markanten Stellen die Strecke für die späteren Läufer gesperrt wird oder das Ziel nach exakt 7:00:00 Stunden geschlossen wird (der letzte zugelassene Läufer schaffte die 42195 m in 26:59:40), dem stellt sich die Frage, ob hier nicht die Freude am Laufsport der erbrachten organisatorischen Leistung geopfert wird. Das hat eigentlich niemand verdient.

Die Veranstalter sind gut beraten, die Entwicklungen im Spitzen- und Breitensport bei ihrer Veranstaltung ausgiebig zu reflektieren, ein Blick auf andere Veranstaltungen dieser Kategorie könnte als Orientierung sehr hilfreich sein.

 

Helmut Winter

 

 

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