Erst knapp zwei Stunden nach dem 400-Meter Finale tauchte Wariner im Schlepptau seines Beraters Michael Johnson, der seit 1999 den Weltrekord hält, im Pressezelt auf.
Vom richtigen Umgang mit Niederlagen – Jeremy Wariner ist nicht mehr die Nummer eins – Jens Weinreich in der Berliner Zeitung
EUGENE. Ist Jeremy Wariner ein schlechter Verlierer? Wariner, 23, der vier Jahre lang unangefochten beste Rundenläufer der Welt, zog bei der Olympiaqualifikation der USA gegen LaShawn Merritt, 22, den Kürzeren. Hart für einen, der vergessen hat, wie sich Niederlagen anfühlen. Der Texaner gratulierte seinem Bezwinger zwar artig, wie am 1. Juni in Berlin, als er ebenfalls gegen Merritt verlor, doch dann ward er nicht mehr gesehen.
Ehrenrunde? Wariner fehlte. Interviews in der Mixed Zone? Wariner fehlte. Pressekonferenz? Wariner fehlte. Der Laufroboter zeigt Nerven.
Erst knapp zwei Stunden nach dem 400-Meter Finale tauchte Wariner im Schlepptau seines Beraters Michael Johnson, der seit 1999 den Weltrekord hält, im Pressezelt auf. Wariner spulte sein Pensum professionell herunter: Merritt sei großartig gelaufen, sagte er, aber wenn man die Bestzeiten vergleiche, habe er schon noch einen deutlichen Vorsprung (43,45 zu 43,96 Sekunden). Ja, er habe Fehler gemacht, den Endspurt zu früh angezogen. Zu früh? Diese Meinung hatte Wariner ziemlich exklusiv. Denn im Stadion Hayward Field hatte sich jeder gefragt, ob er die Fähigkeit zu seinem berüchtigten Finish verloren habe. "Ich weiß nicht, was mit ihm los war", sagte LaShawn Merritt und setzte eine feurige verbale Spitze: "Ich habe mich nicht umgedreht und nachgeschaut."
Antwort in Rom
Es war keine beliebige Niederlage für Wariner. Es waren die Trials! Der einzige Wettbewerb vor den Spielen, bei dem die Nation Notiz nimmt von ihren Leichtathleten. Für Amerikaner sind die Trials ein Mini-Olympia. Die Schlagzeilen am 4. Juli, dem Independence Day, gehörten nun einem anderen. Merritt merkte lässig an, er denke schon, dass er jetzt die Nummer eins sei. Wariner giftete: "Ich habe nach Berlin die Antwort gegeben. Ich werde sie auch jetzt geben." Eine Woche nach dem Istaf hatte er in Oslo gegen Merritt gewonnen. Nächsten Freitag will er das in Rom wieder schaffen. Im Übrigen sei er noch immer der Favorit auf den Olympiasieg in Peking. "Ich weiß, was es dazu braucht. Ich bin Olympiasieger. Ich war zwei Mal Weltmeister. Ich habe den Druck ausgehalten."
Es verstärkte sich der Eindruck, dass Wariner mit dem Wechsel seines Trainers etwas an Klasse verloren hat. Man könnte es auch positiv interpretieren: Seine Vorstellungen sind menschlicher geworden. Im Winter war es zum Bruch mit Clyde Hart gekommen, der früher auch Johnson trainiert hatte. Wariner wollte Hart, 74, statt zehn Prozent seiner Einnahmen nur noch fünf Prozent zahlen. Seither lässt sich Wariner von Harts ehemaligem Assistenten Michael Ford coachen.
"Ich sehe Jeremy jeden Tag, und ich denke, dass er nicht viel anders macht", sagt Sanya Richards, die von Hart betreut wird. "Aber er hat schon ziemlich damit zu kämpfen, dass ihm da plötzlich jemand ebenbürtig ist." Richards gewann die 400 Meter in Eugene souverän. Im vergangenen Jahr war sie bei den US-Meisterschaften sensationell nur Vierte geworden und hatte die WM-Qualifikation verpasst.
Wenn Jeremy Wariner klug ist, fragt er Sanya Richards beim nächsten Training, wie man mit Niederlagen umgeht.
Jens Weinreich in der Berliner Zeitung – Sonnabend, dem 5. Juli 2008
<a href="https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/0705/sport/0044/index.html">Berliner Zeitung</a>