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Usain Bolt – Unheimliche Strahlkraft – Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
06.08.2012 · Die Sportwelt huldigt Usain Bolt. Er selber weiß: Ich bin der Größte. Wie kein Zweiter versteht es der Jamaikaner, sich auf der Tartanbahn selbst zu vermarkten. Er besitzt ein Charisma, von dem auch seine Sportart profitiert.
Ich bin der Größte – das hat man in der Welt des Sports schon mal gehört, und das hat man in der Welt des Sports auch immer wieder gern geglaubt. Schließlich hat Muhammad Ali, so weit er seine Klappe damals aufriss, bis zur Selbstzerstörung bewiesen, dass er es nicht bei Sprüchen bewenden lässt.
Mit der gleichen Strategie treibt Usain Bolt sich zu immer neuen Triumphen. Er wolle eine Legende werden, versprach er vor Mikrofonen und Fernsehkameras, und seine Olympiasiege im Sprint wiederholen.
Mit solcher Großmäuligkeit setzt sich der Jamaikaner vor allem selbst unter Druck. Und er hält den Erwartungen, die in einem Stadion mit 80.000 entfesselten Zuschauern körperlich zu spüren sind, scheinbar spielerisch stand. Das ist fast noch eindrucksvoller als sein Lauf. Was früher das Schwergewichtsboxen war, der archaische Kampf Mann gegen Mann, ist heute der Sprint, ebenfalls ein Vergleich, den jeder auf der Welt versteht, ohne Regeln kennen zu müssen. Die Verschiebung der Gewichte hat gewiss mit der Krise des Schwergewichtsboxens zu tun. Doch den braven Klitschko-Brüdern fehlt es nicht nur an Gegnern, sondern auch an Ausstrahlung.
Das Charisma ist ihm in die Wiege gelegt
Bolt scheint dieses Charisma, diese unerschütterliche und mitreißende Gewissheit, Großes leisten zu können, in die Wiege gelegt zu sein. Davon profitiert mindestens ebenso stark wie er selbst seine Sportart. Aus der Leichtathletik, die mit historischen und statistischen Argumenten stets darauf beharrt, den Kern der Olympischen Spiele zu bilden, könnte ein Schwergewicht im Unterhaltungsbetrieb Sport werden, schließlich verfügt sie in Bolt über einen Champion aller Klassen.
Verband und Veranstalter können gar nicht anders, als auf ihn und seine Wirkung zu setzen und so ihr Publikum zu verjüngen – das vor kurzer Zeit noch im Verdacht der Vergreisung stand. So groß die Chancen durch die Attraktion Bolt sind, so groß ist allerdings auch das Risiko, allein auf eine Disziplin und auf einen einzigen Namen zu setzen.
Vorsicht: Das Pendel kann umschlagen
Vierzehn Hundertstelsekunden mögen im Sprint eine Ewigkeit sein. Doch wenn man bedenkt, dass der überführte Doper und vier Jahre vom Sport ausgeschlossene Justin Gatlin am Sonntagabend so dicht dran war am Gewinn der Goldmedaille, kann man ermessen, wie schnell das Pendel von Jubel, Zuneigung und Aufschwung umschlagen kann auf Peinlichkeit, Schande und Depression.
Zumal es mit Dopingkontrollen in Regionen wie der Karibik nicht weit her ist. Für die Leichtathletik gilt es, die Aufmerksamkeit zu nutzen. Was in der Wirtschaft Diversifikation heißt, bietet sie längst: faszinierende Vielfalt.
Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 6.Ausgust 2012