DNA unter dem Elektronenmikroskop: Krebsforscher Massimo Lopes. ©Universität Zürich - UZH/Stefan Walter
Universität Zürich – UZH – Krebsforschung – Genetische Schnappschüsse – Felix Würsten
Viele Medikamente versuchen zu verhindern, dass sich Krebszellen weiter teilen. Doch die angegriffenen Zellen wehren sich mit einem raffinierten Mechanismus und lassen die Medizin ins Leere laufen. Assistenzprofessor Massimo Lopes hat den Reparaturvorgang der Zellen entschlüsselt.
Unterstützt von Forschungsgeldern der Europäischen Union will er ihn in Zukunft überlisten.
Es ist eine Arbeit, die viel Geduld erfordert: Stundenlang sitzen die Mitarbeitenden von Massimo Lopes in einem dunklen Raum und betrachten am Elektronenmikroskop kleine DNA-Fragmente, die sie vorher aus Krebszellen herausgelöst haben. Was die jungen Forscherinnen und Forscher suchen, sind eigentliche Schnappschüsse der Genetik: Es sind Stellen in der Erbsubstanz, wo sich der Doppelstrang der DNA gerade dupliziert und sich so auf die bevorstehende Zellteilung vorbereitet. Genau dort, so ist ihr Chef überzeugt, befindet sich ein Schlüssel, der die Krebstherapie massgeblich verbessern könnte.
Das Aufteilen und anschliessende Kopieren der DNA-Doppelstränge ist ein zentrales Element der Zellteilung, sagt Massimo Lopes, Assistenzprofessor am Institut für molekulare Krebsforschung. Denn erst wenn sich die Chromosomen im Zellkern verdoppelt haben, kann sich eine Zelle teilen. Und da sich Krebszellen häufig teilen, spielt dieser Mechanismus bei ihnen eine besonders wichtige Rolle.
«Ein wesentliches Merkmal von Krebszellen ist ja gerade, dass sie sich ungebremst vermehren», erläutert Lopes. «Deshalb setzen viele Krebsmedikamente genau hier den Hebel an: Sie zielen darauf ab, das Kopieren der DNA zu unterbinden und so das weitere Wachstum des Tumors zu verhindern.»
Den Kopiervorgang verstehen
Wie genau die Krebsmedikamente in den Kopiervorgang eingreifen und damit die ausgeklügelte Mechanik im Zellkern stören, versteht man erst ansatzweise. Deshalb kann man nicht genau sagen, warum die einen Medikamente bei einer Krebsart besser wirken als die anderen.
«Die Chemotherapie basiert nach wie vor zu einem grossen Teil auf empirischen Erkenntnissen», stellt der Wissenschaftler fest. «Das hat mich schon während meines Studiums erstaunt.» Genau dies will Lopes nun ändern, indem er Schritt für Schritt aufzeigt, wie die DNA kopiert wird. Dabei kann er einen ersten wichtigen Erfolg vorweisen: Mit seiner Gruppe hat er einen Mechanismus entdeckt, der erklären könnte, warum Krebsmedikamente teilweise nicht so wirken wie erhofft.
Pfiffiges Verfahren
Um das zu verstehen, muss man sich etwas in die Abläufe vertiefen, die sich unmittelbar vor der eigentlichen Zellteilung abspielen. In dieser Phase wird die DNA in den Zellen nach einem pfiffigen Verfahren kopiert: Der Doppelstrang wird vom einen Ende her wie ein Reissverschluss geöffnet. Gleich hinter dieser Öffnung werden die beiden Einzelstränge kopiert, so dass am Ende zwei vollständige DNA-Doppelstränge vorliegen.
Stellen im Erbgut, die sich gerade kopieren, erkennt man dementsprechend an einer typischen Gabelung: Auf der einen Seite der Verzweigung befindet sich derjenige Teil des DNA-Strangs, der noch aufgeteilt werden muss; auf der anderen Seite der Gabelung befinden sich die beiden neuen Kopien. Genau diese dreiarmigen Gebilde sind es, die Lopes’ Mitarbeiter unter dem Mikroskop suchen.
Den molekularen Zug stoppen
«Dieser Kopiermechanismus ist wie ein Zug, der einem Gleis nachfährt», vergleicht Lopes diesen Vorgang mit einem Bild aus dem Alltag. «Die Grundidee bei der Chemotherapie ist nun, dass wir Hindernisse auf die Gleise legen, sodass der Zug nicht mehr weiterfahren kann.» Übersetzt in die Welt der DNA heisst das: Die Moleküle der Krebsmedikamente verändern den bestehenden DNA-Doppelstrang so stark, dass der Kopiervorgang blockiert wird.
Die molekularen «Züge» in den Krebszellen sind von diesen Hindernissen natürlich besonders stark betroffen, da sich diese Zellen häufig teilen. Doch es werden auch bei gesunden Zellen «Gleise» blockiert. Dies ist besonders fatal bei jenen Zellen, die sich regelmässig erneuern, etwa die Zellen in den Schleimhäuten oder die Haarzellen. Dort behindern die Krebsmedikamente die Zellteilung ebenfalls. Deshalb fallen bei einer Chemotherapie den Patientinnen und Patienten die Haare aus.
Wehrhafte Krebszellen
Lopes hat nun herausgefunden, dass die Krebszellen über einen raffinierten Abwehrmechanismus verfügen, der die Wirkung der Krebsmedikamente reduziert. Dieser Abwehrmechanismus sorgt nicht nur dafür, dass die molekularen Züge stoppen, wenn sich ein Hindernis auf dem Gleis befindet, sondern er befähigt die Zellen auch, die Gleise wieder in Ordnung zu bringen. Oder anders gesagt: Der DNA-Strang wird vom Reparaturmechanismus neu arrangiert, sodass der Kopiervorgang fortgesetzt werden kann.
Dabei geschieht etwas Erstaunliches: Wenn der Reparaturmechanismus merkt, dass sich irgendwo im DNA-Strang eine Fehlstelle befindet, wird der Kopiervorgang unterbrochen und in der Gegenrichtung fortgesetzt. Dabei wird, anstelle des Teilstrangs mit Fehlstelle, der neue Doppelstrang, der keine Fehlstelle enthält, als Vorlage benutzt. Unter dem Mikroskop erkennt man dies an einer doppelten Gabelung. Anstelle eines dreiarmigen Gebildes hat man also plötzlich ein vierarmiges Gebilde vor sich.
Neue Gleise verlegen
Auf der einen Seite der Gabelung befindet sich derjenige Teil der DNA, der noch nicht aufgeteilt wurde; auf der anderen finden sich die anderen drei Arme: Zwei davon sind die neuen Kopien und der dritte besteht nur aus neuen Teilsträngen. Die Fehlstelle wird umgangen, indem anstelle des alten Doppelstrangs der fehlerlose neue Strang als Vorlage benutzt wird. Diese Korrektur ermöglicht es den Zellen, den ursprünglichen Kopiervorgang wieder aufzunehmen. Oder wie es Lopes ausdrückt: Der Zug kann die Strecke wieder befahren, weil um das Hindernis herum neue Gleise verlegt wurden.
Bei diesem Vorgang handelt es sich offenbar um einen fundamentalen Reparaturmechanismus: «Wenn wir Krebszellen untersuchen, die mit Krebsmedikamenten behandelt wurden, finden wir bei einem Viertel bis einem Drittel der gegabelten DNA-Fragmente vier Arme», berichtet Lopes. Bemerkenswert ist, dass bereits Mitte der 1970er-Jahre vorgeschlagen wurde, Zellen könnten auf diese Weise Defekte in der DNA korrigieren. Doch die Idee wurde nicht weiterverfolgt; sie schien zwar einleuchtend, aber letztlich doch zu kompliziert. Und man konnte sie damals auch nicht experimentell überprüfen. Erst jetzt, fast vierzig Jahre später, kann Lopes zeigen, dass die Korrektur in den Zellen tatsächlich so abläuft.
Den Mechanismus stören
Mit den neuen Erkenntnissen hat der Wissenschaftler einen guten Ausgangspunkt für die weitere Forschung. Für diese erhielt er Anfang Jahr von der EU im Rahmen eines ERC Consolidator Grant 2,3 Millionen Franken zugesprochen – gerade noch rechtzeitig vor der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, wie er schmunzelnd erklärt. Zusammen mit Partnern aus anderen europäischen Ländern will er nun herausfinden, wie man den Korrekturmechanismus in den Zellen gezielt stören könnte.
«Wenn es uns gelingt, das Abwehrsystem in den Krebszellen zu überlisten, müssen wir möglicherweise weniger Hindernisse auf die Gleise legen, um die Züge an der Weiterfahrt zu hindern. Oder anders gesagt: Wir könnten die Dosierung bei der Chemotherapie verringern und so auch die Nebenwirkungen reduzieren.»