2010 ist vorbei: die Fortschritte sind unverkennbar, die deutschen Fans und die Medien wollen aber Siege und Medaillen, Lauf / Gehen bleibt das Sorgenkind
Über Fortschritte, Problemlösungskompetenzen und andere Baustellen – Prof. Digel und Paul Schmidt offenbarten bei der Ehrung an der TA ihre Sorgen – Ein Kommentar von Lothar Pöhlitz
Die Europameisterschaften 2010 sind Geschichte, das Wettkampfjahr vorbei. Der Aufschwung ist unverkennbar. Das macht Mut. Die nächsten Olympischen Spiele aber sind schon wieder „gefährlich“ nahe.
Bei einem Rückblick, Bilanz und Standortbestimmung wird aber auch deutlich, dass vor allem der Bereich Lauf / Gehen als Sorgenkind weiterhin einer besonderen Pflege bedarf.
Wer sich nach einem „erfreulich – neuen“ Carsten Schlangen und „Mocki“ beruhigt zurücklehnt übersieht im Hinblick auf die Olympischen Spiele dass die Weltspitze in 12 Laufdisziplinen der Männer und Frauen weit weg ist. Deshalb sollen nicht, wie es sonst immer im Herbst üblich ist, Medaillen oder Punkte aufgerechnet werden, sondern mit diesem Rückblick auf das Kolloquium zur Festveranstaltung anlässlich der Emeritierung von Prof. Helmut Digel an der Trainerakademie Köln, einmal zum nachdenken aktiviert, animiert und angeregt werden.
Auch weil zuletzt 50000 Zuschauer beim gelungenen ISTAF signalisiert haben, dass sie immer noch Interesse an der Leichtathletik haben und Erfolge vor allem deutscher Athleten feiern wollen.
Ehrung wurde intensiv zur Problemdiskussion genutzt
Ein Rückblick auf etwas hilft aber nur, wenn er mit einem Ausblick und entsprechenden Handeln verbunden wird. Es ist erst wenige Wochen her seit Dr. Lutz Nordmann in der Trainerakademie Köln unter dem Thema „Der Hochleistungssport in Deutschland – Aktuelle Standortbestimmung, Erfordernisse für Gegenwart und Zukunft“ ein Ehrenkolloquium für Prof. Helmut Digel, einen verdienstvollen Funktionär, der als ehemaliger Chef des DLV weiß wie es gehen sollte, anlässlich seiner Emeritierung, organisierte.
Und viele waren seiner Einladung gern gefolgt.
Am 24.Juni berichtete www.germanroadraces.de bereits einmal kurz darüber. In umfangreichen Beiträgen ging es nicht nur um Digel, sondern auch um Sorgen, u.a. formulierte Paul Schmidt – Ex-Lauf – Bundestrainer im DLV und langjähriger Trainersprecher beim DOSB -, Forderungen nach einer höheren Professionalisierung, mehr Führungskompetenz von Spitzenfunktionären und die Sorge um die internationale Konkurrenzfähigkeit des DLV auf breiterer Front als wichtige Voraussetzungen für Erfolge in der olympischen Leichtathletik.
Die Medien und Fans drängen auf Siege und Medaillen
Fast parallel zur EM hat sich im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2010 gezeigt, wie Millionen Sportfans die Leistungsexplosion der jungen deutschen Fußballer, Ergebnis einer seit etwa 10 Jahren schwerpunktmäßigen neuen Nachwuchsarbeit in vielen Eliteschulen des DFB, bejubelten, Hochleistungssport wollen. Es wurde aber nach der 0:1 Niederlage gegen Spanien auch deutlich, wie Begeisterung und Leistung zusammenhängen, wie sensibel die Fans sind und wie viel vor allem Siege zählen. Beim Spiel um Platz 3 war für viele die WM schon zu Ende, die Fanmeilen weitgehend entvölkert.
In der Süddeutschen Zeitung vom 9.7.2010 hatte Philip Selldorf die Leistungssport-Erwartungshaltung der Medien bereits vor dem Spiel um Platz 3 wie folgt auf die Spitze getrieben: „Die Teilnahme am Spiel um Platz drei bei einer Weltmeisterschaft entspricht nach herrschenden Profi-Verständnis einer grausamen Strafe“.
Die erfreulich umfangreiche Fernseh-Berichterstattung von den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften wurde von den Moderatoren mit der Erwartung eingeleitet, welche Sportler sich in diesen zwei Tagen wohl für Gold, Silber und Bronze bei der EM anbieten werden. Auch während der ARD, ZDF und Eurosport – Berichterstattung wurde immer wieder klar, dass es im Endeffekt in Barcelona um Medaillen gehe.
Jedem Zuschauer war aber auch klar dass es für die DLV – Läufer eine kaum lösbare Aufgabe wird, da derzeit der Abstand zum Weltniveau groß ist. Wo stehen wir aber in Europa, war die Frage. Schon vor der Europameisterschaft hatten sie nämlich viele ihrer früheren Fans verloren, auch weil bei den Übertragungen von der Diamond League bei sport 1, die inzwischen in Deutschland ja nicht mehr vorbeikommt, keine deutschen Läufer mehr gegen die Weltbesten zum Kampf um Siege antreten.
Außer Sabrina Mockenhaupt haben sie auch bei der DM mit ihren Bummelrennen und dem Eindruck dass sie gar nicht ins Weltniveau wollen, einen zusätzlich abwertenden Beitrag geleistet. Dann ließ Carsten Schlangen die EM-Rakete steigen, sensationelle Silbermedaille, toll, endlich, eine Hoffnung für alle anderen. Und zuletzt haben die 50.000 beim ISTAF zum Abschluß 2010 noch einmal eindrucksvoll dokumentiert was sie sich wünschen: vor allem konkurrenzfähige deutsche Athleten. Das bedeutet aber zugleich dranzubleiben und weiter Probleme zu lösen.
Nicht nur verwalten – verändern ist Aufgabe
Zur Digel-Ehrung trug Paul Schmidt – mit einem bemerkenswerten Diskussionsbeitrag – natürlich in erster Linie die Sorgen um den deutschen Lauf mit Fakten und Erfahrung bei. Verbunden mit der Hoffnung dass in den nächsten Wochen sich auch die Verantwortlichen beim DLV um die, von Ausnahmen abgesehen, nun bereits mehrjährige Stagnation und auch Rückgang im Bereich der 2 – 25 Bahnrunden, aber auch im Marathonlauf und Gehen, sorgen.
Dabei ist neu und zugleich überraschend auffällig: keine Leute, kaum Talente für die 12 Disziplinen bei Männern und Frauen! Und im Gehen scheint es noch schlimmer (siehe geringe Anzahl der Teilnehmer bei den DM).
Das Kolloquium in Köln wies auf einige brennende Probleme der olympischen Leichtathletik hin. Auch dass nicht alles das Ergebnis unbefriedigender Trainer-Athleten-Arbeit ist. Mehr Professionalität muß an den Schlüsselstellen der Macht dazu führen dass nicht mehr länger nur verwaltetet, sondern verändert wird, war in Köln zu hören.
Prof. Digel und Paul Schmidt offenbarten ihre Sorgen
Prof. Helmut Digel – einst DLV-Präsident – formulierte seine Sorgen im Rahmen der genannten Veranstaltung so:
Im Sport gibt es – obwohl seit Jahren immer wieder diskutiert – vielerlei Widerstände gegen eine höhere Professionalisierung, einerseits das Ehrenamt mit hoher Entscheidungsmacht bei eher zufälliger Selektion und Qualifikation, andererseits ist auch die Hauptamtlichkeit unzureichend auf die Aufgaben im Spitzensport vorbereitet. Nicht zuletzt ist der Föderalismus ein Hemmschuh schneller, sachorientierter Entscheidungen für den Spitzensport. Er weist auch darauf hin, dass die Traineroffensive in mehreren wichtigen Punkten nicht umgesetzt sei, es fehlen Arbeitsrecht, Weiterbildungssysteme, systematischer internationaler Austausch und das Coach-Net.
Dem möchte man hinzufügen: es fehlen kompetente Trainer an allen Ecken und Enden.
Paul Schmidt ergänzte Digel zur nicht gelösten Trainerproblematik, forderte eine Weiterbildung der Leistungssport – Verantwortlichen und Leistungssporttrainer und stellte in seinem mit Beifall aufgenommenen Beitrag auch die Frage: wer bewertet die Führungskompetenz von Spitzenfunktionären?
Die Antwort war: Niemand.
- Seine Vorschläge: 1. Ziele für das eigene Aufgabenfeld zu formulieren,
- 2. nach angemessener Frist ihre Realisierung überprüfen,
- 3. Evaluation der Eignung für Führungsaufgaben,
- 4. gegebenenfalls Nachschulung.
Um sportliche Ziele zu realisieren, dabei dachte er sicher in erster Linie an seinen ehemaligen Arbeitsbereich Laufen, muss man nicht nur die Bedingungen dafür schaffen, sondern auch geeignete Mitarbeiter auswählen und auf ihre Aufgaben vorbereiten.
Bereits 2009 in leichtathletiktraining 10+11/2009 hatte er einmal in seinem Beitrag „DLV – Läufer mit Schwächen“ u.a. gefordert nicht nur ein neues Lauf-Konzept für alle Distanzen mit tief greifenden Veränderungen, dass mit dem Anspruch „zur Weltklasse (!) gehören zu wollen“ verbunden sein muß, die Talent- und Hochbegabtensuche ohne Zufälle, einen Neubeginn mit neuen Organisationsstrukturen und die Trainerproblematik endlich zu lösen. Man hat das Gefühl, dass damals kaum jemand seinen Appell „aktiv werden und handeln, dass würde aber tief greifende Veränderungen initiieren“ gelesen hat.
Die international attraktiven Laufdisziplinen brauchen Handlungskompetenz
Heute, nach einem erneut „verspielten Jahr“ sollte man ernsthaft nach einer Lösung suchen. Gerade das letzte Jahr hat unterstrichen, das andere nicht resignieren, dass Weiße aus Europa und Amerika gegen Schwarze in den Laufdisziplinen durchaus konkurrenzfähig sein können.
Bei einer insgesamt nicht mehr nur zu überdenkenden Trainerproblematik scheint es notwendig zuerst über einen kompetenten, erfahrenen Lauf-Fachmann an der Spitze nachzudenken, der als „Chef“ etwas vom Bereich Lauf / Gehen, vom Hochleistungssport, Nachwuchsleistungsport und Höhentraining versteht, die durchaus vorhandenen Talente systematisch in die Spitze führt, der organisieren, führen und neue spezielle trainingsmethodische Leitlinien für diesen Bereich vorgeben kann.
Und sollte es in Deutschland – wie es scheint – einen solchen nicht geben, so sollte man möglichst schnell, wie es andere Sportarten in der Vergangenheit schon erfolgreich vorgemacht haben, auch nicht ausschließen einen Profi aus dem Ausland zu engagieren. Die erfreuliche langjährige Vertragsverlängerung des DLV mit NIKE macht Hoffnung, dass damit ein solcher Deal auch finanziell möglich wäre.
Damit sollen auf keinen Fall die seit einem Jahr fungierenden Cheftrainer Rüdiger Harksen und Herbert Czingon, excellente Fachtrainer für Sprint-Hürden oder die Sprünge, Vize Günter Lohre als ehemaliger Stabhochspringer oder Neu-Sportdirektor Thomas Kurschilgen, auch er ein ehemaliger Stabhochspringer, tangiert oder angegriffen werden. Ihre „Fachbereiche“ haben bei der EM ja – trotz Reserven – bestanden. Man könnte sich höchstens schlecht vorstellen wollen, wie Sprinter oder Stabhochspringer, für die in der Regel mehr als 2 Runden Einlaufen schon zur Langstrecke zählen, diesen Bereich Lauf / Gehen professionell verändern wollen. Zumindest sind bisher öffentlich keine Ansätze zu erkennen.
Profi – Professionalität – Problemlösungskompetenz waren Themen in Köln
WIKIPEDIA hilft, dort findet man zum Thema Professionalisierung (auszugsweise):
„Ein Profi ist jemand, der im Gegensatz zum Amateur oder Dilettanten eine Tätigkeit beruflich oder zum Erwerb des eigenen Lebensunterhalts als Erwerbstätigkeit ausübt.
Im Allgemeinen erwartet man von einem Profi eine formale Qualifikation und eine höhere Leistung als von einem Amateur. („Ein Profi weiß, was er tut.“)
Einem Profi werden professionelle Eigenschaften zugesprochen. Die Vorstellungen von Professionalität gehen im Allgemeinen mehr oder weniger weit über festgeschriebene berufliche Anforderungen hinaus: Es wird ein erhöhtes Maß an Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, eine besondere Problemlösungskompetenz erwartet. Dabei bezeichnet der Begriff solche Fähigkeiten, Kenntnisse oder Verhaltensweisen, die man in Bezug auf die Ausübung oder Durchführung einer Tätigkeit von einer Person (einem „Profi“) erwarten könnte, für die diese Tätigkeit den Schwerpunkt der beruflichen Arbeit bildet.“
Eine höhere Professionalisierung- wie sie von Prof. Digel und Paul Schmidt in Köln gefordert wurden – verlangt die Diskussion und Lösung nicht weniger derzeit noch offener Fragen und Aufgaben. Das Tal im Bereich Lauf / Gehen aufzufüllen und Aufgaben zu verteilen ist die eine, ab sofort aber auch die Olympischen Spiele vorzubereiten, eine andere. Handeln setzt Beschlussfassungen und Kontrollen zu vielen unterschiedlichen Schwerpunkten, Diskussionsrunden und Fragen voraus. Möglichst alle in eine Richtung.
Eine Auswahl bisher nicht zufriedenstellend gelöster Aufgaben und Themen wäre:
- · Hochleistungssport und Ehrenamt mit hoher Entscheidungsmacht
- · Hauptamtlichkeit auf die Aufgaben im Spitzensport besser vorbereiten
- · Die gesamte Olympische Leichtathletik zielt auf Erfolge (Finals Platz 1-8) bei den jährlichen internationalen Höhepunkten
- ·Föderalismus – ein Hemmschuh für das Hochleistungstraining
- Eine unzureichende materielle Basis zwingt zur Konzentration der Kräfte
- Zur Führungs- und Problemlösungskompetenz von Spitzenfunktionären
- Persönlichkeiten sind für das Management im Sport genauso wichtig wie in der Wirtschaft und in der Politi
- Die Traineroffensive zeigt zu wenig Wirkung, was ist zu tun
- Talentsuche und Talentausbildung LAUF müssen zuerst auf die Agenda
- Eliteschulen des Sports müssen „Goldkörnchen“ auf das Hochleistungstraining vorbereiten
- Ein neues Wettkampfkonzept muss die Nachwuchsleistungsentwicklung besser unterstützenBeschluß zur Qualifizierung der Nachwuchstrainer von echten Talenten im Lauf
- Professionalisierung im Bereich Lauf / Gehen nicht länger aufschieben; ein kompetenter Chef muß an die Spitze
Lothar Pöhlitz