Und schließlich hängt das richtige Maß der Trainingsreduktion auch vom individuellen Leistungsstand des Läufers ab: Wer allgemein wenig läuft, braucht sein Lauftraining vor dem Wettkampf natürlich kaum zurückzuschrauben
TRAINING – Punktlandung – „Tapering“ nennt sich die Philosophie der Trainingsreduktion – Lisa Jhung, Martin Grüning in RUNNERS WORLD
Um am Wettkampftag in Bestform zu sein, muss man die letzten Tage davor das Training reduzieren.
„Tapern“ – nachlassen – nennt man das. Allerdings kann man in dieser Phase auch zu wenig trainieren
Punktlandung
Vier Wochen vor dem Boston-Marathon 2006 lief der US-Athlet Peter Gilmore noch 240 Kilometer pro Woche, drei Wochen vorher 200, dann 170 und in der letzten Woche vor dem Wettkampf immerhin noch 135 Kilometer. Ganz schön happig, nicht wahr? Andere Top-Läufer legen in der Marathon-Woche maximal 100 Kilometer zurück.
„Tapering“ nennt sich die Philosophie der Trainingsreduktion in der letzten Phase der Vorbereitung. Der Körper soll sich von den harten Belastungen erholen, um am Tag X die maximale Leistung bringen zu können. Und warum lief Gilmore dann so viele Kilometer? Ganz einfach: Drei Monate zuvor hatte er sich im Ziel des Houston-Halbmarathons mit Brian Sell unterhalten. Sell war Zweiter geworden, Gilmore mit viel Mühen Zwölfter.
„Brian erzählte mir, er habe vor dem Wettkampf bewusst das Training nicht so stark reduziert wie sonst.
Früher fühlte er sich in der Tapering-Phase immer matt und kraftlos, diesmal dagegen richtig spritzig“, blickt Gilmore zurück. „Da wurde mir klar, dass ich es in der Vergangenheit wohl mit dem Tapern übertrieben hatte“, so der 30-Jährige. Also reduzierte er seine Wochenumfänge vor dem Boston-Marathon nur noch um 35 Prozent gegenüber dem normalen Trainingsaufwand und nicht wie früher um 55 Prozent. Das Ergebnis: Er verbesserte in Boston seine Marathon-Bestzeit um 1:17 Minuten auf 2:12:45 Stunden.
Mit dieser neuen Philosophie des reduzierten Taperings stehen Sell und Gilmore keineswegs allein da. Immer mehr Topläufer machen die Erfahrung, dass sich eine sanfte Verringerung des Trainingsumfangs günstiger auf die Wettkampfform auswirkt als die bisher übliche extreme Reduktion. „Das Problem bei einer starken Reduzierung der Belastung besteht darin, dass der Körper gewissermaßen auf Urlaub schaltet“, sagt Greg McMillan, der eine Vielzahl US-amerikanischer Top-Athleten trainiert. Gilmores eigener Coach, der weltbekannte Leistungsphysiologe Jack Daniels, bringt es auf den Punkt: „Man kann sich auch kaputt schonen.“
Weniger ist nicht immer mehr
Greg McMillan hat das Tapern aber noch weiter revolutioniert: Seine Elite-Läufer halten nicht nur die Laufumfänge (relativ) hoch, sie beginnen auch erst zwei anstatt vier Wochen vor dem Marathon mit dem Tapering (siehe Kasten auf der rechten Seite).
Der Coach ist im Übrigen der Meinung, dass auch Freizeitläufer nicht mehr so viel Ruhe vor einem Marathon brauchen wie noch vor 30 Jahren: „Hobby-Marathonläufer laufen ja nur noch 45 bis 60 Kilometer pro Woche. Vor 30 Jahren waren es noch um die 100 Kilometer.“ Daniels stimmt ihm zu und nennt noch einen weiteren Grund: „Die Trainingsinhalte sind heutzutage viel besser aufeinander abgestimmt. Moderne Marathon-Trainingspläne enthalten in jeder Trainingswoche einen Rhythmus von Belastung und Erholung, wodurch einer übermäßigen Ermüdung von vornherein vorgebeugt wird.“
So tapern Sie richtig
Und wie soll man nun im Idealfall tapern? Wir empfehlen folgende Faustregel: Reduzieren Sie Ihre Kilometerleistung behutsam (konkret: um 20 bis 40 Prozent), aber bauen Sie auch in den Wochen, in denen Sie die Umfänge verringern, ab und zu noch intensive Laufreize in Ihr Training ein. Natürlich braucht man seinen Trainingsaufwand vor einem 5-Kilometer-Wettkampf auch nicht so stark zu verändern wie vor einem Marathon.
Und schließlich hängt das richtige Maß der Trainingsreduktion auch vom individuellen Leistungsstand des Läufers ab: Wer allgemein wenig läuft, braucht sein Lauftraining vor dem Wettkampf natürlich kaum zurückzuschrauben.
Wer viel und hart trainiert, dafür umso mehr.
Vor seinen ersten fünf Marathons bekam Peter Gilmore in der Taperingphase stets eine Erkältung. Möglicherweise hatte die starke Reduktion der Belastung seinem Immunsystem signalisiert, dass keine grossen Aufgaben mehr anstehen.
Ideales Tapering
Tapern ist eine Kunst für sich: Wer vor dem Wettkampf zu wenig trainiert, fühlt sich im Rennen kraftlos. Wer zu viel tut, ausgelaugt. Dies ist der Plan von US-Coach Greg McMillan. Ergänzen Sie ihn um Ihre gewohnten Dauerläufe.
5- oder 10-Kilometer-Wettkampf
7 Tage vor dem Rennen – Reduzieren Sie den Umfang um 10 bis 20 Prozent. 3–5 x 3 Min. im 5-oder 10-km-Wettkampftempo mit je 1 Min. Pause
4 Tage Ruhetag oder Dauerlauf nach Gewohnheit
2 oder 1 Tag Ruhetag oder Dauerlauf nach Gewohnheit
Halbmarathon
Noch 10 Tage Reduzieren Sie den Umfang um 10 bis 20 Prozent
7 Tage 15 km, die letzten 5 km im Halbmarathon-Renntempo
4 Tage 5 x 3 Min. im Halbmarathon-Renntempo mit je 1 Min. Pause
2 oder 1 Tag Ruhetag oder Dauerlauf nach Gewohnheit
Marathon
Noch 14 Tage Reduzieren Sie den Umfang um 10 bis 20 Prozent
12 Tage 10 x 400 m im 5-km-Renntempo mit je 1 Min. Pause
10Tage 3 x 2000 m im 10-km-Renntempo mit je 2 bis 3 Min. Pause
7 Tage Noch mal 10 bis 20 Prozent weniger Umfang. 18-km-Lauf, die letzten 8 km im Marathontempo
4 Tage 4 x 3 Min. im 10-km-Renntempo mit je 1 Min. Pause
2 oder 1 Tag Ruhetag oder Dauerlauf nach Gewohnheit
Lisa Jhung, Martin Grüning in RUNNERS WORLD