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28
05
2007

Der ehemalige Weltklasseläufer und heutige Sportmediziner Thomas Wessinghage spricht über die Ursachen der Laufsucht, die Parallelen zwischen Hausfrau und Hobbyläufer sowie die Dopingproblematik im Freizeitsport.

Sportarzt Thomas Wessinghage: «Laufen löst andere Probleme nicht» – Dr. Thomas Wessinghage im Interview von Micha Jegge in der Berner Zeitung (BZ) – redaktion espace.ch

By GRR 0

Laufen ist zum Massensport geworden – wie erklären Sie sich diesen Boom?

Thomas Wessinghage: Boom ist das falsche Wort, es handelt sich vielmehr um eine seit zehn oder mehr Jahren auf hohem Level stabile Bewegung, welche auf die Folgen unserer modernen, bequemen Lebensweise zurückzuführen ist.

Welche Folgen meinen Sie?

Die Anzahl der Übergewichtigen nimmt stetig zu, es werden mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen registriert, viele leiden unter Bluthochdruck. Die moderne Medizin ist nicht in der Lage, diesen dauerhaft zu senken; sie vermag nur die Symptome zu bekämpfen. Eine kleine Veränderung des Lebensstils ist deutlich wirkungsvoller. Wöchentlich zwei Stunden Bewegung reichen bei vielen Leuten aus.

Ist Laufen wirklich so gesund?

Ja, sofern man sich nicht überfordert. Wer versucht, mit Laufen etwas zu kompensieren oder zu verdrängen, befindet sich auf dem Holzweg. Laufen löst andere Probleme nicht.

Zahlreiche Läufer sagen, sie bewegten sich zwischen Leidenschaft und Sucht. Wo befindet sich die Grenze?

In jedem Menschen steckt ein gewisses Suchtpotenzial, jeder ist geneigt, irgendwo des Guten zu viel zu tun. Denken wir doch nur an jene Hausfrauen, die erst zufrieden sind, wenn in den eigenen vier Wänden alles glänzt. Spürt ein Hobbyläufer nach drei Tagen Sonnenbad auf dem Liegestuhl das Verlangen, sich zu bewegen, ist das normal. Hat er das Bedürfnis, zehn Kilometer zu laufen, sieht das schon etwas anders aus. Will er diese zehn Kilometer unbedingt in 40 Minuten zurücklegen, kann man von Sucht sprechen.

Wie kann man sich von Laufsucht befreien?

Das ist sehr schwierig. Es gilt, die hinter dem Drang steckende Problematik zu erkennen und in den Griff zu kriegen. Das Spektrum an möglichen Ursachen ist gross; es kann sich um Ehrgeiz im Beruf oder familiäre Schwierigkeiten handeln, aber auch um andere Dinge wie beispielsweise Spielsucht.

Eine jüngst publizierte Studie besagt, dass sich in Deutschland über 200000 Freizeitsportler dopen. Überrascht Sie das?

Nein, überhaupt nicht. Trinken Sie morgens einen Kaffee, damit Ihnen der Einstieg in den Tag leichter fällt, konsumieren Sie eine in der Gesellschaft akzeptierte Droge. Der Mensch ist von Natur aus bestrebt, sich das Leben zu vereinfachen.

Ausdauersportler greifen oft auf Schmerzmittel zurück. Mit welchen Folgen müssen sie rechnen?

Kurzfristig nehmen die Medikamente dem Körper die Möglichkeit, Fehl- und Überbelastungen zu melden. Das Signal, das er aussendet, wird nicht erhört, was gravierende Schäden mit sich bringen kann. Langfristig betrachtet besteht auch die Gefahr, von den Substanzen abhängig zu werden.

Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob es für Hobbyläufer sinnvoll ist, Wettkämpfe zu bestreiten.

Grundsätzlich spricht nichts gegen die Teilnahme – im Gegenteil: Volksläufe können positive Gefühle vermitteln, die vielen Zuschauer beflügelnd wirken. Die Zielsetzung sollte jedoch immer hinterfragt werden; für die meisten Läufer ist es unsinnig, sich zeitliche Ziele zu setzen.
Dass dies dennoch gemacht wird, ist wohl auch gesellschaftlich bedingt.

Inwiefern?

In den USA wird der Läufer nach einem Marathon gefragt, ob er das Ziel erreicht habe; in Deutschland, welche Zeit er gelaufen sei. Der Respekt vor der körperlichen Leistung scheint bei uns relativ gering zu sein.

Wechseln wir zum Spitzensport. Ist es heute im Mittel- und Langstreckenbereich noch möglich, ohne Doping Olympiasieger zu werden?

Das kann ich nicht beurteilen. Über 1500 Meter wird nicht erheblich schneller gelaufen als zu meiner Zeit. Über 5000 Meter hingegen ist das anders. In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren die Ostafrikaner zwar schon sehr gut, aber schlagbar; heute laufen sie in einer eigenen Liga. Die Frage ist, ob die Überlegenheit auf die damals kaum existierende, heute hingegen minutiös betriebene Talentsichtung oder auf anderweitige Leistungsoptimierung zurückzuführen ist.

Haben die Afrikaner auf Grund ihrer genetischen Veranlagung Vorteile?

Darwinistisch betrachtet entspricht dies einer gewissen Logik. Die Strategien, sich in der Gesellschaft zu behaupten, waren in Europa und Afrika stets unterschiedlich. Die Europäer lebten nie im Hochland und waren in der jüngeren Vergangenheit auch nicht gezwungen, durch die Steppe zu laufen und Tiere zu jagen. Das ist aber nur Theorie. Ich denke, entscheidend ist die in der letzten Antwort erwähnte Frage.
Beantworten kann ich diese jedoch nicht.

Die vom Radteam T-Mobile freigestellten Ärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid werden beschuldigt, ihre Fahrer in der Team-Telekom-Zeit mit EPO und Wachstumshormonen versorgt zu haben. Weshalb ist ein Sportmediziner bereit, in einem solchen Betrieb mitzumachen?

Ich muss diese Frage als Unbeteiligter ausweichend beantworten. Im ehemaligen Ostblock wurde im grossen Stil gedopt mit dem Argument, jene im Westen würden das auch machen.
Im Radsport ist es ähnlich: Doping ist allgegenwärtig, Teil des Systems.
Das führt zu einem eingeschränkten Schuldempfinden. Ein Teamarzt hat dafür zu sorgen, dass seine Fahrer über die gleichen Chancen wie jene der Konkurrenz verfügen und mit den Mitteln keine Dummheiten machen, sprich nicht zu viel auf einmal einnehmen.
Ich bin froh, arbeite ich an der Basis. Da fühle ich mich wohl.

Interview: Micha Jegge
Berner Zeitung (BZ)
redaktion espace.ch
Dienstag, dem 22. Mai 2007

Dr. Thomas Wessinghage:
Läufer
. 5000m Europameister 1982
. 22x Deutscher Meister
. Weltcupsieger
. noch aktuelle Deutsche Rekorde über 1500m und 2000m

Ärztlicher Direktor
Rehaklinik Damp Experte für Vorträge, Seminare, Events Leiter Deutsches Zentrum für Präventivmedizin Damp

https://www.thomas-wessinghage.de/
Dr. Thomas Wessinghage

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