Prof. Helmut Digel - Sotschi 2014 – Gegen politische Heuchelei ©Universität Tübingen
Sotschi 2014 – Gegen politische Heuchelei – Prof. Helmut Digel
Sexuelle Handlungen zwischen Personen mit demselben menschlichen Geschlecht standen bis 1994 in Deutschland unter Strafe und allein in der Zeit von 1950 bis 1969 wurden hierzulande etwa 50.000 Schwule verurteilt, weil Sex unter Männern verboten war. Paragraf 175 des Deutschen Strafgesetzbuches existierte bis zum 11. Juni 1994. In der DDR wurde der entsprechende Paragraf 1988 aufgehoben.
Zu erinnern ist auch an die Gesetzesreform im Jahr 1973, seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar. Wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereini-gung wurde 1994 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik der Paragraf 175 ersatzlos gestrichen.
Betrachtet man diese historischen Fakten, so könnte aus heutiger Perspektive die Frage gestellt werden, ob 1972 die Olympischen Spiele in einem Land stattgefunden haben, in dem Menschen-rechte mit Füßen getreten wurden. Vorausgesetzt man sieht das Recht auf Homosexualität als Menschenrecht an.
In diesen Tagen sind homosexuelle Beziehungen in Russland das zentrale Thema, wenn von Menschenrechtsverletzungen in diesem Land gesprochen wird. Die gesamte Berichterstattung ist dabei mit Staatspräsident Putin auf einen einzigen Akteur bezogen, dem die alleinige Verantwor-tung für die Verletzung der Menschenrechte in Russland zugewiesen wird.
Zu beurteilen wäre dabei ein Gesetz, das die Duma verabschiedet hat und das auf Kinder- und Jugendliche ausgerichtet ist. Ihnen gegenüber ist eine Propaganda zugunsten homosexueller Beziehungen nicht erlaubt. Welche Rolle dabei die russisch-orthodoxe Kirche im Vorfeld der Verabschiedung dieses Gesetzes gespielt hat wird nicht zur Kenntnis genommen. Welche Meinungen im Parlament zur Debatte gestanden haben gilt als nicht erwähnenswert.
Der Sachverhalt der Menschenrechtsverletzung gilt als erwiesen, und deshalb muss aus Anlass der Olympischen Winterspiele Russland mit seinem Staatspräsidenten an der Spitze in Frage gestellt werden. Einer erfolgreichen russischen Leichtathletin, die sich zu ihrer Vorliebe für heterosexuelle Beziehungen bekennt wird vorgeworfen, dass sie damit Menschenrechtsverlet-zungen toleriert. Sportlerinnen und Sportler, Trainerinnen und Trainer und die Funktionäre werden mit mahnendem Zeigefinger aufgefordert, sich bei den Winterspielen in Sotschi öffentlich gegen die Verletzung der Menschenrechte zu engagieren.
Das Thema der Verletzung der Menschenrechte ist nur eines unter vielen Themen, mit denen in der deutschen Presse und in der deutschen Öffentlichkeit die Olympischen Spiele von Sotschi in Frage gestellt werden. Von der „Festung Sotschi“ ist die Rede, wenn von den Sicherheitsvorkeh-rungen zu berichten ist. Mit Kampf-Jets und Kriegsschiffen wird demnach versucht die Sicherheit der Spiele zu gewährleisten, nachdem es zu religiös-motivierten Terroraktionen in Wolgograd gekommen war.
Die Berichterstattung suggeriert, dass sich die Sicherheitsvorkehrungen durch eine Totalität auszeichnen, wie sie so noch nie zu vor anzutreffen war. Dass in London im Jahr 2012 Kosten in Millionenhöhe zur Gewährung der Sicherheit entstanden sind, dass bei allen Spielen zuvor vergleichbare Sicherheitsvorkehrungen notwendig gewesen sind, seit in München 1972 islamische Terroristen jüdische Athleten und Trainer ermordet hatten, wird dabei allenfalls am Rande erwähnt.
Gebetsmühlenhaft wird auch das Problem der Umweltzerstörung durch Olympiabauten diskutiert. Es wird die Nachhaltigkeit der Sportstätten in Frage gestellt, wenngleich diese Frage aus heuti-ger Sicht nur sehr bedingt zu beantworten ist. Die Neubauten werden des Stilbruchs bezichtigt, so als ob in anderen Skiorten eine Kombination traditioneller Bauten mit moderner Architektur nicht üblich wäre.
Die Kritik an den Spielen gipfelt in der Aufforderung zum Boykott, und dem IOC wird indirekt nahegelegt, über eine Absage der Spiele nachzudenken.
Vorgetragen wird solch eine Kritik zumeist von Politikern, die sich damit öffentlich in Szene setzen und sich anmaßen, die Organisationen des Sports in Bezug auf die Ausrichtung ihrer sportlichen Großveranstaltungen belehren zu müssen. Auffällig ist dabei, dass solcher Kritik meist nur ein Wissen zugrunde liegt, das nahezu ausschließlich auf die Berichterstattung in öffentlichen Medien Bezug nimmt.
Die Berichterstattung insbesondere die Sportberichterstattung wiederum wird von einem norma-tiven Phänomen geprägt, das schon seit längerer Zeit zu beobachten ist. Die Leitmedien der deutschen Berichterstattung (dpa, FAZ, SZ, etc.) geben die Themen und die Richtung der Berichterstattung vor und alle übrigen Medien folgen dann dem Leithammel, so dass man von einer ungewollten Gleichschaltung der Massenmedien zu sprechen hat. Fundierte Recherchen liegen den einzelnen Berichten nur selten zu Grunde, Recherchen vor Ort haben meist gar nicht stattgefunden, und Pro-und-contra-Recherchen scheinen auch nicht erwünscht zu sein.
Vergewissern wir uns des Sachverhalts, dass die Spiele bereits vor sieben Jahren an Russland vergeben wurden und man eben diese sieben Jahre Zeit gehabt hätte, fundiert das IOC und den russischen Ausrichter zu kritisieren, so kann vieles von dem, was heute an Kritik gegenüber den Olympischen Spielen in Sotschi vorgetragen wird, nur als Heuchelei, teilweise aber auch als Dummheit bezeichnet werden.
Im Interesse einer spektakulären öffentlichen Aufmerksamkeit bedient man sich kurzfristig des Sports, um sich mit seiner moralischen Urteilskraft ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen. Dort wo die Politiker in ihrer eigentlichen Verantwortung gegenüber Russland zu handeln haben, dort wo sie die Menschenrechtsverletzung zu kritisieren hätten, im Dialog zwischen den Regierungen, bei Wirtschaftsverhandlungen und bei Besuchen von Parlamentariern in Russland, ha-ben sie in den vergangenen Jahren ständig versagt und benutzen nun den Sport als Alibi-Thema, um sich öffentlich als kritische Mahner zu präsentieren.
So wie sich kurz vor den Spielen in Peking im Jahr 2008 alle Medien und damit verbunden viele Parlamentarier auf die Seite der Menschenrechtsverteidiger gestellt haben, so haben dieselben Medien und dieselben Politiker das Thema in Bezug auf China bereits wenige Wochen nach den Spielen der Vergessenheit preisgegeben.
In Sotschi wiederholt sich nun dasselbe Spiel: Unter dem Aspekt des Spektakels wird Kritik, für die man sich beinahe sieben Jahre lang nicht interessierte, nunmehr resonanzfähig.
Die Olympischen Winterspiele in Sotschi sind wahrlich kein Ruhmesblatt für das Internationale Olympische Komitee. Bei der Vergabeentscheidung spielten fragwürdige Interessen eine Rolle. Unter klimatischen und ökologischen Gesichtspunkten ist die Vergabe der Winterspiele in einen Sommerbadeort in Kooperation mit wenigen alpinen Wintersportstätten eine fragwürdige Ent-scheidung.
Russland ist ohne Zweifel keine Demokratie im westlichen Sinne, und Staatspräsident Putin wird angesichts seiner fragwürdigen Menschenrechtspolitik, die sich allerdings nicht nur auf Homosexuelle beziehen darf, international zu Recht in Frage gestellt. Gefährdung der Pressefreiheit, Folter von Inhaftierten durch die Polizei, Diskriminierung von ethnischen Minderheiten, willkürliche Inhaftierungen und fragwürdige Haftbedingungen können durchaus Anlass für einen Menschenrechtsdialog sein, den gewiss auch das IOC mit den Ausrichtern der Spiele zu führen hätte.
Die Einhaltung aller Menschenrechte zum alleinigen Vergabekriterium für Olympische Spiele zu machen, ist weder realistisch noch wünschenswert. Die Analysen von Amnesty International sprechen diesbezüglich eine eindeutige Sprache. Selbst einige westliche Demokratien müssten dabei in Frage gestellt werden. Amnesty International dokumentiert für das Jahr 2013 in 112 Staaten Folter und Misshandlungen und in 101 Staaten Einschränkungen der Menschenrechte.
Die Kritik an Sotschi wurde in den vergangenen sieben Jahren mehrfach auch aus Kreisen des Sports vorgetragen, sie war jedoch für das Politiksystem nicht resonanzfähig, weil sie einem gewünschten Spektakelinteresse nicht entsprechen konnte. In diesen Tagen gelingt es hingegen den politischen Heuchlern einmal mehr, sich diese Kritik zu Eigen zu machen, sie zu instrumentalisieren, und sie schaffen eine Atmosphäre gegenüber den Athletinnen und Athleten, dass diese sich beinahe zu entschuldigen haben, wenn sie an den Spielen teilnehmen.
Einmal mehr zeigt sich dabei aber auch, dass sich die Verantwortlichen des Sports in einer De-fensive befinden, die sie selbst zu verantworten haben. Sie haben zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, weil sie in ihrem politischen Handeln immer nur passiv bzw. reaktiv sind.
Nicht nur in diesen Fragen wäre hingegen ein proaktives Handeln dringend erforderlich. Ein offenes Bekenntnis zur Vielfalt der Sexualität und zur sexuellen Selbstbestimmung ist dabei ohne Zweifel längst überfällig.
Der deutschen Mannschaftsführung für die Olympischen Winterspiele in Sotschi ist zu wünschen, dass sie schlagende Argumente findet, die die Teilnahme unserer Olympiamannschaft rechtfertigt und dass sie sich dabei voll und ganz vor und hinter die Athleten stellt, die sich mit den besten der Welt messen möchten.
Prof. Helmut Digel in der DOSB Presse
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