
30. AVON Frauenlauf im Berliner Tiergarten - mit Sonnenbrille die "Geburtshelferin" der Berliner Veranstaltung Kathrine Switzer ©Horst Milde
Sind Frauenläufe noch zeitgemäss? Starker Anstieg des „schwachen“ Geschlechts – Jürg Wirz
Zu einer Zeit, als die Frauen an Olympischen Spielen nicht weiter als 1500 Meter laufen durften, weil es hiess, längere Distanzen würden die zarte Weiblichkeit überfordern und könnten zu einer Vermännlichung oder gar zu Unfruchtbarkeit führen, kümmerten sich die New York Road Runners nicht einen Deut darum und organisierten den 10 Kilometer langen Crazylegs Mini Marathon (heute New York Mini 10K).
Mary Wittenberg, bis im Mai dieses Jahres NYRR-Präsidentin und CEO, kennt die Geschichte: „Damals dachten viele, es handle sich um einen Witz. Ein Lauf für Frauen über 10 Kilometer war unvorstellbar.“ Die Premiere war denn auch alles andere als ein Erfolg. Bloss 78 Läuferinnen nahmen teil, aber es war ein Anfang.
Bei der Organisation half auch Kathrine Switzer mit, die visionäre Frau, die sich 1967 unter die ausschliesslich männlichen Teilnehmer des Boston-Marathons gemischt hatte, und 1978 die internationale Avon-Laufserie ins Leben rief, die schliesslich Events in nicht weniger als 27 Ländern durchführte, auch in Deutschland. „Mit der Serie wollten wir den Frauen die Möglichkeit geben zu laufen und der Welt zeigen, dass auch Frauen laufen können“, sagt Switzer.
Die heute 68-jährige im deutschen Amberg als Tochter eines US-Majors geborene Switzer kämpfte auch an vorderster Front, als es darum ging, den Marathon ins olympische Frauenprogramm zu integrieren, was schliesslich 1984 gelang. Sie läuft noch immer, ist Buchautorin, gibt Motivations-Speeches und arbeitet auch als TV-Kommentatorin.
Berliner Frauenlauf seit 1984
In den achtziger Jahren entstanden immer mehr Frauenläufe. 1984 begann Grete Waitz in Oslo mit ihrem Lauf, der es bis auf über 40 000 Teilnehmerinnen brachte. Im gleichen Jahr hatte auch Berlin Premiere. Die Organisatoren bekamen böse Briefe von Männern.
„Die fragten uns, wie wir dazu kämen, einen Lauf nur für Frauen zu veranstalten“, erinnert sich der langjährige Race-Direktor Horst Milde, der das Rennen zudem über viele Jahre hinweg ausgerechnet am Vatertag ansetzte. „Schon bald fragte aber niemand mehr.“
Berlin begann 1984 mit 645 Läuferinnen. Die Veranstaltung wuchs kontinuierlich und hatte von 2012 bis 2014 dreimal hintereinander über 18 000 Teilnehmerinnen, verteilt auf die vier Wettbewerbe 5 Kilometer Lauf, 5 Kilometer Walk und Nordic Walk, 10 Kilometer Walk und Nordic Walk sowie 800 Meter Bambinilauf.
Im letzten Mai waren’s dann aber plötzlich zweieinhalb tausend weniger!
Drei Jahre nach Oslo und Berlin war auch Bern bereit für den ersten Schweizer Frauenlauf. Es war die Zeit, als in der Schweiz noch nicht alle Kantone und Gemeinden das Frauenstimmrecht eingeführt hatten und noch kaum jemand von einem Gleichstellungsgesetz sprach.
Die Organisatorinnen rechneten mit tausend Teilnehmerinnen, es kamen 2230, und selbst der Regen trübte die Stimmung nicht entscheidend.
Es zeigte sich, dass ein Lauf nur für Frauen auch in der Schweiz einem echten Bedürfnis entsprach. Nicht zuletzt wegen des Frauenlaufs begannen immer mehr Frauen regelmässig Sport zu treiben. Vor 30 Jahren war das längst nicht selbstverständlich. Da gab es höchtens den Turnverein und das aufkommende Aerobic, das gab’s noch kein Power Yoga, kein Pilates oder Zumba.
Die Zahl der Teilnehmerinnen stieg fast ununterbrochen und vor zwei Jahren wurde mit 15. 115 Anmeldungen eine magische Grenze überschritten. Allerdings ist der Frauenlauf auch in Bern längst nicht mehr nur ein 5-Kilometer-Lauf: 2001 kam die Kategorie Walking und Nordic Walking dazu, 2005 die 10-Kilometer-Distanz, 2006 15-Kilometer-Walking und -Nordic Walking, 2009 der Girls-Sprint und 2010 schliesslich die Girls-Meile.
US-Marathons mit mehr Frauen als Männer
In den Jahren, als die Frauenläufe entstanden, war der Frauenanteil an allen Laufevents sehr gering. Inzwischen gibt es immer mehr Frauen, die laufen und auch mit langen Strecken keine Mühe haben. Beim Berlin-Marathon betrug der Frauenanteil in diesem Jahr 24 Prozent. In London sind es 38 Prozent.
In den USA ging auch diese Entwicklung wesentlich schneller; die Amerikanerinnen sind uns, wie in den Pionierjahren, wieder einige Schritte voraus.
Bei immer mehr Veranstaltungen laufen bereits mehr Frauen als Männer. Beim New York-Halbmarathon waren im letzten Jahr 9761 Männer und 10 989 Frauen am Start, und selbst beim New York Marathon herrscht beinahe Parität: 30 108 Männer und 20 422 Frauen kamen im letzten November ins Ziel, darunter 14 117 Amerikaner und 13 127 Amerikanerinnen – das sind 48,2 Prozent.
Der Chicago-Marathon bringt es auf 46 Prozent Frauen, die Marathons in Orlando und Portland haben bereits jetzt mehr Frauen als Männer.
Zeigen diese Zahlen nicht, dass sich die Frauen längst emanzipiert haben und es Frauenläufe eigentlich gar nicht mehr braucht? In den USA laufen einigen Rennen „for women only“ bereits die Teilnehmerinnen davon. Im letzten Herbst sind vier Frauen-Halbmarathons, die zu einer fünfteiligen Serie zählten, abgesagt worden.
Naht das Ende der Frauenläufe?
Mary Wittenberg von den New York Road Runners glaubt das nicht: „Es wird ein gewissen Gesundschrumpfen geben, aber Einsteigerinnen werden sich auch in Zukunft in einem reinen Frauenrennen wohler fühlen. Es macht einfach mehr Spass. Eine grosse Rolle spielt dabei auch der soziale Aspekt. Viele Frauen reisen in Gruppen an. Sie kommen, weil sie sich gemeinsam einen tollen Tag machen wollen. Die Leistung ist dabei für viele sekundär.“
Mit Krönchen und Feder-Boa
In den USA (wo denn sonst?) hat der „Women-only Race Calendar“ für 2015/16 nicht weniger als 120 Laufveranstaltungen, darunter auch zahlreiche High Heels- und Diva-Rennen. Die Diva-Halbmarathon-Serie umfasst zehn Events. In diesem Jahr gab es – halleluja! – erstmals diese neckischen, rosafarbenen Ballettröckchen, Tutus genannt. Zu tragen im Rennen oder auch sonst. Zudem laufen alle Teilnehmerinen auf den letzten Kilometern an einem Stand vorbei, wo sie sich mit einer Feder-Boa und einer Tiara (Dreifachkrone) eindecken können. Kommentar auf der Webseite:
„Nur weil Sie inzwischen erwachsen sind, heisst das nicht, dass sie keine Prinzessin mehr sein können.“
Abgerundet wird das Ganze durch die Diva-Medaille (ein Krönchen), ein Glas Schampus und ein T-Shirt, das „unsere Kurven betont. Aber Achtung: Seien Sie vorsichtig beim Überqueren der Strasse. Sie sehen in diesem T-Shirt so gut aus, dass Sie einen Unfall verursachen könnten!“ –
Ist es nicht so, dass sich die Frauen damit genau in diese Rolle manövrieren, gegen die sie seit Jahren eigentlich ankämpfen?
Jürg Wirz in LAUFZEIT&CONDITION – 12/2015
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