Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Horst Milde
Sexualisierte Gewalt im Sport: Kaum einer spricht, niemand hört zu – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Düstere Realität: Laut der Studie gibt es die meisten Fälle in den Sportarten Fußball und Turnen, den größten Verbänden.
Täterorganisation Sport: Die wissenschaftliche Studie zu sexualisierter Gewalt und sexuellem Kindesmissbrauch zeigt eine Vereins- und Verbandskultur auf, in der die Täter geschützt werden.
„Da muss eine schmerzliche Last anerkannt und durchgearbeitet werden“, zitiert Heiner Keupp: „Ohne einen solchen Prozess verspielt man seine eigene Zukunftsfähigkeit.“ Dem Wort seines Lehrers Theodor Adorno schließt der Psychologe und Soziologe an: „Dies gilt für alle Bereiche, dies gilt auch für den Sport.“
Als Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat Keupp am Montag in Berlin die erste wissenschaftliche Studie dieser Größenordnung zu sexualisierte Gewalt und sexuellem Kindesmissbrauch im Kontext des Sports vorgestellt. Sie führt den Blick auf die dunkle Seite des Sports. Auf einen Lebensbereichs, der gemeinhin als schön und bereichernd, geradezu romantisiert dargestellt wird.
„Es gibt im Sport kaum eine Kultur des Sprechens, des Sprechens über diese Erfahrungen, Sprechen über Gewalt“, konstatierte Keupp: „Und es gibt auch kaum eine Kultur des Zuhörens. Betroffene sexualisierter Gewalt stoßen bis heute häufig auf Unverständnis und Zurückweisung im eigenen Verein. Eine Voraussetzung für den Kulturwandel, der hier notwendig ist, ist die Öffnung für die Aufarbeitung der Vergangenheit.“
Keupp sprach sich für die Einrichtung des von Athleten Deutschland initiierten und von der Bundesregierung gewollten Zentrums für Safe Sport aus, warnte Vereine und Verbände aber vor der „Flucht in die Prävention“. Ohne Aufarbeitung würden Prävention und Intervention kein Fundament erhalten. Viele konkrete Schritte der Aufarbeitung seien nicht gegangen worden.
Er forderte vom Sport eine finanzielle Beteiligung an Safe Sport, wie sie Bund und Länder bereits zugesagt haben. Der Sport könne die Bedeutung, die er für viele habe, nur dadurch glaubhaft machen, indem er die Schweigemauern überschreite. Betroffene hätten ein Recht auf Aufarbeitung, die Institutionen des Sports hätten als Täterorganisationen eine Pflicht zur Aufarbeitung.
Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch seien Alltagsrealität im Sport, konstatierte Angela Marquardt, ehemalige Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Betroffenenrats bei der unabhängigen Kommission. Es gebe eine Pflicht zur Entschädigung, sagte sie. Viele Betroffene bräuchten lebenslang Therapien, seien unfähig zur Arbeit und würden nicht ausreichend von ihren Krankenkassen unterstützt. Die Verantwortung liege bei Täterorganisationen. Die katholische Kirche zahlt bis zu 40 000 Euro Entschädigung.
Auf die Frage nach der im Vergleich zur Kirche geringe Zahl von Opfern im Sport erwiderte Marquardt, diese Frage schiebe klammheimlich den Betroffenen die Verantwortung zu. Diese seien nicht verpflichtet, ihre Geschichte öffentlich zu machen. „Es geht nicht darum, noch die 200. und die 300. Geschichte zu hören“, sagte sie: „Was wir brauchen, ist, dass die Institutionen Verantwortung übernehmen.“
Sie forderte, dass der Staat seine Spitzensportförderung nicht von der Zahl der Goldmedaillen abhängig mache, sondern androhe, dass die ausbleibende Finanzierung unabhängiger Anlaufstellen im Zentrum für Safe Sport Konsequenzen für den Verband habe. Die Qualität einer Medaille bemesse sich an den Strukturen dahinter, am Maß des Schutzes von Kindern und Jugendlichen.
Der Umstand, dass der Deutsche Schwimm-Verband seine Gewaltbeauftragte ehrenamtlich beschäftige und nicht hauptberuflich, zeige, dass Politik und Sport nicht ausreichend begriffen hätten, worum es geht. Vereine und Verbände bräuchten verpflichtend die Auseinandersetzung mit dem Thema ebenso wie Schutzkonzepte. „Niemand hat das Recht zu sagen, er hätte nichts gewusst“, rief sie. Irgendwann brauche man nicht mehr Studien, sondern Handeln.
Bettina Rulofs, die Leiterin der Studie, urteilte: „Eine Goldmedaille, die durch Druck und Gewalt erzeugt wurde, ist uns nicht recht.“ Sie fordert einen grundsätzlichen Kulturwandel im Sport. Die Untersuchung zeichne ein Bild vom Sport, das nicht zu dessen positivem Image passe. Man müsse die Erzählung vom gesunden, fairen und schönen Sport durchbrechen und Gewalt und Leid benennen. Es gehe nicht nur um alte Fälle, sondern es handele sich um ein aktuelles Problem.
Fünfzig Prozent aller Mädchen und sechzig Prozent aller Jungen seien Mitglied im Sportverein. Sieben Millionen Kinder und Jugendlich begeben sich beim Vereinssport regelmäßig in die Obhut von Trainern und Übungsleitern. Wenige der 114 der Kommission bekannt gewordenen Fälle, von denen 72 für die Studie untersucht wurden, seien im Sport offen gelegt worden.
Vielmehr stießen Betroffene auf Ablehnung, Bagatellisieren und Ignorieren; Vereine hätten Betroffene ausgeschlossen und mit Klage bedroht statt ihnen zu helfen. Die Idealisierung von Ehrenamtlichkeit sowie der Erfolgs- und Selektionsdruck innerhalb von Vereinen und Sportgruppen begünstige Gewalt. Sie berichtete von Suizidversuchen Betroffener.
Laut der Studie gibt es die meisten Fälle in den Sportarten Fußball und Turnen, den größten Verbänden. Die Betroffenen erlebten den Missbrauch überwiegend im Leistungssport und wettkampforientierten Breitensport, seltener im Freizeitsport und Schulsport.
Zwei Drittel der Betroffenen, die bereit waren, mit den Wissenschaftlerinnen über ihre Erfahrungen zu sprechen, waren laut Studie sexualisierter Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und über einen langen Zeitraum ausgesetzt. In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Die Tatpersonen stammten vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld: männliche Trainer, Betreuer und Lehrer. Die Täter befanden sich meist in machtvollen Positionen.
Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Sport der DDR. Zu diesem Bereich lagen bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Die Studie macht deutlich, dass die besonderen Bedingungen im System des DDR-Sports mit sehr früher Selektion und der Unterbringung in Kinder- und Jugendsportschulen mit Internat sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen wie auch andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung ermöglichte.
Für Betroffene war es fast unmöglich, Hilfe zu erhalten. Der sportliche Erfolg war wichtiger als andere Ziele. Betroffene und ihre Eltern waren nicht selten auch dadurch eingeschränkt, dass die Auswahl an eine KJS mit der Aussicht auf deine sportliche Karriere hohes soziales Prestige hatte. In den Sportschulen und Internaten gab es keine erwachsenen Vertrauenspersonen.
Die Kinder waren Gewalthandlungen von Trainern, Medizinern und Sportfunktionären schutzlos ausgeliefert. Angela Marquardt verwies auf personelle und strukturelle Kontinuität beim jüngst bekannt gewordenen Fall des Wasserspringers Jan Hempel, der jahrzehntelang von seinem Trainer missbraucht worden war.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 27.9.2022