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07
2023

World Athletics President Sebastian Coe - 2019 Zurich Diamond League Zurich, Switzerland August 29, 2019 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com

Sebastian Coe im Interview: „Der Ausschluss der Russen ist im Interesse unseres Sports“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Sebastian Coe über den Umgang des Welt-Leichtathletik-Verbandes mit den Russen, warum er nicht neutral sein kann, den Widerspruch zum IOC und die Herausforderung, junge Menschen ein Leben lang für Laufen, Springen und Werfen zu begeistern.

Sie sind zweimaliger Olympiasieger. Sie sind Weltrekorde gelaufen. Das House of Lords hat 778 Mitglieder; eines davon sind Sie. Das Internationale Olympische Komitee hat 105 Mitglieder; auch davon sind Sie eines. Sie haben den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2012 nach London geholt, und Sie waren Chef des Organisationskomitees. Sie sind Präsident des Welt-Leichtathletik-Verbandes World Athletics. Gibt es für Sie noch Herausforderungen?

Ja. Nummer eins ist Budapest.

Ihre Wiederwahl bei der Weltmeisterschaft der Leichtathleten.

Diese liegt in der Hand des Kongresses. Wenn ich gewählt werde, wird dies meine letzte Amtszeit von vier Jahren werden. Dem gilt meine volle Konzentration.

Sie werden die Leichtathletik der Welt dann zwölf Jahre geführt haben . . .

Die ersten vier Jahre ging es darum, die Krise zu bewältigen, in der unser Sport steckte. Mit der tiefen Pathologie umgehen, die sie enthüllte, mit dem Verhalten einer kleinen Gruppe von Menschen im Kern dieser Sportart. Dies führte zur Gründung der „Integrity Unit“ und der Reform an Kopf und Gliedern. In den zweiten vier Jahren ging es darum, mit Herausforderungen umzugehen, die viel zu lange unerkannt oder liegen geblieben waren; Nationalitätenwechsel zum Beispiel. Kalenderreform. Wir konnten das nicht früher angehen.

Zu Recht hätten Sie gesagt: Was tun diese Leute? Organisieren die Wettbewerbe neu, während ihr Sport lichterloh brennt? Wir haben unseren Exekutivrat neu aufgestellt im Sinne von Transparenz und dem Bemühen, uns um unsere Finanzen zu kümmern. Sie waren, sagen wir freundlich: undurchsichtig. Wir hatten uns um die unterschiedlich sexuell entwickelten Athleten zu kümmern und die Kategorie der Frauen zu schützen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die Menschenrechte von Caster Semenya verletzt wurden. Können Sie Ihre Regeln aufrechterhalten?

Die Entscheidung betrifft unsere Regeln nicht, und sie werden bestehen bleiben. Die Klage richtete sich gegen die Schweiz und nicht gegen World Athletics. Als Weltverband müssen wir die Menschenrechte all unserer Athleten berücksichtigen, und das tun wir. Die Regeln des Sports beschränken von Natur aus die Rechte von Menschen. Wenn diese Rechte sich widersprechen, ist es unsere Pflicht zu entscheiden, ob die Einschränkungen das Ziel rechtfertigen, welches in diesem Fall der Schutz des Frauensports ist.

Wir glauben, unsere Regeln für Frauen mit abweichender geschlechtlicher Entwicklung sind notwendig, angemessen und verhältnismäßig. Das fanden auch das Sportschiedsgericht CAS und das Bundesgericht der Schweiz nach gewissenhafter und fachkundiger Beweiswürdigung.

Welche Herausforderung sehen Sie in den nächsten vier Jahren?

Die Verbesserung des Produktes. In den vergangenen acht Jahren haben wir ein starkes Fundament, ein widerstandsfähiges Haus gebaut. Unser Umgang mit Russland, nicht allein in Bezug auf Doping, sondern auch, was den Einmarsch in einen souveränen Staat angeht, hat dafür gesorgt, dass unser Ansehen gewachsen und unsere Unabhängigkeit gesichert ist. Nun gilt es für uns, den Heiligen Gral zu finden wie jeder Sport: Wie machen wir uns relevant, herausragend, interessant und aufregend für eine neue, junge Gruppe von Zuschauern? Sie sollen ihr Leben lang Fans werden, unseren Sport im Stadion genießen und auf verschiedenen Plattformen.

Betrachten Sie Thomas Bach, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), als alten Freund?

Ja.

Sie nennen sich gegenseitig Shakespeare und Professor?

Das stammt aus der Zeit, als Samaranch (damaliger IOC-Präsident, Anm. d. Red.) uns 1981 in Baden-Baden zusammengeworfen hat. Wir waren acht Athleten, darunter der Eishockey-Torwart Wladislaw Tretjak, der Boxer Teofilo Stevenson. Samaranch bot uns zwei Minuten Redezeit an im Kongress. Ich argumentierte, dass wir mindestens vier bräuchten. Er stimmte zu.

Ich war am Ende derjenige, der unsere Präsentation schrieb; Englisch ist meine Muttersprache. Thomas, ein bisschen älter und mit ein paar Jahren mehr internationaler Erfahrung, kam mit den Themen, ich sorgte für die Formulierung. Deshalb nannte er mich im Scherz Shakespeare. Ich nannte ihn Professor, weil er für den Inhalt zuständig war.

Thomas Bachs Präsidentschaft des IOC endet 2025. Sie werden dann erst 69 Jahre alt sein. Wie stehen die Chancen, dass Sie sein Nachfolger werden?

Danke für Ihre Radiokarbonbestimmung. Über die Kandidatur habe ich nicht entschieden, und ich habe sie gewiss nicht ausgeschlossen. Ich habe gerade ausgeführt, worauf mein unmittelbarer Ehrgeiz sich richtet. Vorausgesetzt, ich werde gewählt, will ich die absolut besten Entscheidungen für meinen Sport treffen. Leadership bedeutet, sich auch Gedanken über die Nachfolge zu machen. Es ist allerdings nicht an dem Leader, die Nachfolge zu bestimmen. Er muss seinem Sport die bestmögliche Wahl ermöglichen.

Sie mussten für einen Leichtathletik-Präsidenten sehr lange warten, bis Sie IOC-Mitglied wurden, und dafür Ihren Posten an der Spitze von Chimes Sport Management aufgeben. Was ist jetzt Ihr Beruf?

Ich musste nicht meinen Beruf aufgeben. Ich bin von der Position des Exekutiv-Vorsitzenden des Unternehmens, das ich zum Teil geschaffen habe, in den nichtexekutiven Vorsitz gewechselt. Meine Beschäftigung mit dem Tagesgeschäft ist beendet und damit auch der Vorbehalt des IOC. Für mich ist das in Ordnung.

Ihr Freund Thomas hat die Sportverbände aufgerufen, Athleten aus Russland und Belarus die Möglichkeit zu geben, sich für die Olympischen Spiele von Paris 2024 zu qualifizieren. Warum ist World Athletics im Gegensatz zu vielen anderen Verbänden nicht gefolgt?

Wir hatten den Eindruck, dass dies im Interesse unseres Sports liegt. Dass so das Gefühl ist. Dies sind nie leichte Entscheidungen, wenn Athleten vom Wettkampf ausgeschlossen werden. Unsere ursprüngliche Entscheidung im Februar 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte, war eindeutig: Es war unmöglich, moralisch und in der praktischen Umsetzung, Athleten aus aggressiven Ländern die vollen Teilnahmerechte zu geben. Die Athleten, die Opfer des Angriffs waren, waren nicht in der Lage, international anzutreten.

Die Sportler kämpften in der Armee, um ihr Land zu verteidigen. Die Sportlerinnen waren entweder in der Ukraine, wo sie nicht trainieren konnten, oder sie hingen in Trainingslagern auf der ganzen Welt fest. Das war nicht lediglich eine Frage der Aggression einer Nation, sondern eine der Integrität des Wettkampfs. Wir nahmen – für die vorhersehbare Zukunft, wie wir sagten – die Sicht ein, dass wir sie ausschließen müssen, von der Diamond League und unserer Continental Tour. Als das IOC dann den Verbänden empfahl, sie von den Weltmeisterschaften auszuschließen, schlossen sich die meisten an.

Ihr Verhalten wirkt widersprüchlich: World Athletics hat den russischen Verband, der jahrelang wegen systematischen Dopings suspendiert war, wieder zugelassen. Zugleich lassen Sie russische Sportlerinnen und Sportler, die jahrelang als neutrale Athleten auch bei Weltmeisterschaften gestartet waren, nicht zurückkehren. Bedeutet dies, dass Sie im Gegensatz zum IOC nicht an den unschuldigen Athleten glauben, der ein Recht auf eine Teilnahme an Olympia hat?

Sie sprechen von zwei unterschiedlichen Dingen: der Entscheidung von 2015, Russland als Verband zu suspendieren wegen des unerhörten Angriffs auf die Integrität unseres Sports durch staatlich unterstütztes Doping, und zugleich die Gründung einer Task Force, die methodisch und Stück für Stück zu der Position gelangte, vom Council im März bestätigt, dass der russische Verband die Bedingungen für die Reintegration erfüllt hat. Wir haben das ausführlich diskutiert und veröffentlicht. Auf diesem langen Weg haben wir entschieden, dass wir versuchen sollten, die sauberen Athleten von dem unsauberen System zu trennen.

Trotzdem ist kein Russe zurückgekehrt.

Die Rückkehr der russischen Leichtathleten als Verband und die Fortsetzung des Ausschlusses wegen der Invasion in die Ukraine sind zwei völlig verschiedene Sachverhalte. Bei der Situation, mit der ukrainische Athleten konfrontiert werden würden, hatten wir das Gefühl, würden alle Urteile über Freiheit und Treueschwüre übertroffen werden. Solche Entscheidungen sind niemals leicht. Ich bin nicht groß in Whataboutism. Es ist leicht zu fragen: Und was ist damit? Und was ist damit? Man entscheidet, sobald man entscheiden muss. Ich will unsere Entscheidung nicht an den Entscheidungen anderer messen.

Die Weltverbände sind, wieder einmal, vom IOC zu Entscheidungen verpflichtet worden. Wir haben unsere Entscheidung früh getroffen, und unser Sport steht dazu. Gerade ist die Zeit der Kontinental-Versammlungen; ich war in Afrika, Europa, Ozeanien und Südamerika. Asien und Nordamerika habe ich noch vor mir, aber ich sehe keinen Widerspruch. Im Gegenteil, ich erfahre viel Zuspruch für die Entscheidung des Councils.

Thomas Bach argumentiert, dass der Ausschluss allein aufgrund des Passes eine Diskriminierung sei, und er kann auf die Unterstützung zweier Sonderberichterstatterinnen der Vereinten Nationen verweisen. Wie stehen Sie dazu?

Das haben wir alles im Council besprochen. Wir haben sehr offen diskutiert. Mein Council ist anders, und meine Art, einen Rat zu teilen, ist anders . . .

. . . als Thomas Bach?

Ich sage nicht Thomas Bach. Ich sage, mein Rat ist anders als andere Sportorganisationen. Wenn Ihnen jemand beschreiben würde, wie wir diskutiert haben, würde er sagen: robust, offen. Ich will nicht verheimlichen, dass ich in meinen Ansichten sehr klar war. Ich hatte vier Stunden vorher mit einer Athletin aus der Ukraine zusammengesessen, die ihre Mutter bei einem Angriff auf ein Wohnhaus verloren hatte. Da geht man nicht leichten Herzens davon.

Auch beim Blick auf die Sportler, die ihr Leben verloren haben bei der Verteidigung ihres Landes, auf diejenigen, die Kriegsgefangene sind. Entschuldigung, Diskussionen über den Primat internationaler Verbände und olympische Waffenruhe sind nichts, das schwerer wiegt als die Diskussion, die wir im Council hatten.

Ihr Verband hat jahrelang Erfahrung mit neutralen Athleten aus Russland. Wie neutral sind neutrale Athleten?

Bei der vorherigen Suspendierung, der wegen Dopings, konnten wir sie gut identifizieren, da sie unter unserer Schirmherrschaft standen. Das heißt: Mit den Kontrollen konnten wir uns wohlfühlen. Im Vorlauf der Wiederzulassung der Russen, der zeitweiligen, hatten wir zwei unabhängige Personen im russischen Verband platziert. Die Kultur des Dopings saß tief, seit sechzig Jahren, und damit waren sie nicht die einzigen Schuldigen, das wissen Sie genauso gut wie ich. Das war ein vergleichsweise einfaches Thema. Der Umstand, dass viele Athleten, die aus Russland kommen, vom Staat unterstützt werden, im Militär dienen, viele ihre Unterstützung in diesem Flächenbrand zeigen, macht die Schwierigkeit selbsterklärend, unter diesen Umständen Neutralität anzunehmen.

Unser Ehrgeiz kann nicht sein, Athleten aus Russland und Belarus neutralen Status zu verleihen. Langfristig geht es darum, diesen Verband in den Weltsport zurückzuholen auf eine Art und Weise, die auf Vertrauen und Realität basiert. Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet, die eine Metrik finden soll, nach der wir eines Tages die Russen wieder zulassen können. Das wird nicht besonders schnell passieren. Ich wünsche mir eine Gruppe von Menschen mit unabhängigem Blick, die ein Urteil darüber treffen können, unter welchen Bedingungen dieser Ausschluss aufgehoben werden könnte.

Das Gespräch führte Michael Reinsch.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 21. Juli 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

 

 

author: GRR