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20
08
2021

Karsten Warholm - 2020 Tokyo Olympic Games Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 - Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com - www.photorun.NET

Rekordflut in Leichtathletik – Wundern über die Wunder in Tokio – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die Leichtathletik hatte ihren Ruf verspielt. Bei den olympischen Sommerspielen in Tokio bieten ihre Sportler aber die erstaunlichsten Leistungen. Warum?

Sind die Olympischen Spiele von Tokio die erstaunlichsten der Leichtathletik-Geschichte? Dafür sprechen die unglaublichen Sprints der Jamaikanerin Elaine Thompson-Herah. Bei ihrem Olympiasieg lief die Jamaikanerin 10,61 Sekunden und zog damit gleich mit Florence Griffith-Joyner.

Deren 10,61 sind glaubwürdig, was die Zeitmessung angeht; den Weltrekord von 10,49 Sekunden ist sie, dafür spricht viel, bei zu starkem Rückenwind gelaufen. Was ihr bei den 10,61 noch geholfen haben mag, ist Gegenstand von Spekulation. Jedenfalls war die Zeit 33 Jahre lang unerreichbar. Dann kam Elaine Thompson-Herah.

Auch der erstaunliche Leistungssprung des vor seinem Olympiasieg nahezu unbekannten Sprinters Marcell Jacobs auf die oberste Stufe des Podiums, die in Peking 2008, London 2012 und Rio 2016 für Usain Bolt reserviert war, sorgt für hochgezogene Augenbrauen. Der Italiener unterbot seine Bestzeit um mehr als zwei Zehntelsekunden auf 9,80 Sekunden; damit war er schneller als Bolt in Rio.

Rennen des Jahrhunderts

Der Gipfel aber waren die Weltrekorde über 400 Meter Hürden. Karsten Warholm machte das Rennen des Jahrhunderts, und  sydneytat es ihm gleich. Zwei Rennen innerhalb von 24 Stunden, wie es nie eines zuvor gab und wie es wohl auch keines mehr geben wird – das kann nicht sein.

Sydney McLaughlin  – 2020 Tokyo Olympic Games – Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 – Photo: Jiro Mochizui@PhotoRun – Victah1111@aol.com – 631-291-3409 – www.photorun.NET

Dies ist es, was es so schwierig macht mit der Leichtathletik: Sie verfügt über eine reiche Geschichte von Dopingfällen. Und über eine ebenso reiche Geschichte von Leistungen, für die es keine andere Erklärung gibt als das außergewöhnliche Talent und den unglaublichen Trainingsfleiß einzelner Athleten.

Die 8,90 Meter im Weitsprung von Bob Beamon bei den Olympischen Spielen von Mexiko 1968: Um 55 Zentimeter verbesserte der Amerikaner den Weltrekord, und 23 Jahre dauerte es, bis Mike Powell die Marke übertraf, bei der Weltmeisterschaft von Tokio 1991. Bis heute gilt die Leistung als Glücksfall der Sportgeschichte, begünstigt von der dünnen Höhenluft Mexikos und dem Glück, dass Beamon mit Kraft und Geschmeidigkeit die Puzzleteile des perfekten Sprungs zusammenbrachte.

Den Sport veränderte damals ein Hochspringer: Dick Fosbury. Nicht, indem er Olympiasieger mit 2,24 Meter wurde. Er lief im Halbkreis an und sprang rückwärts über die Latte. Diese biomechanische Innovation sorgte dafür, dass Athleten wie Mutaz Essa Barshim und Gianmarco Tamberi in Tokio 2,37 Meter hoch flogen für den gemeinsamen Olympiasieg, dass Javier Sotomayor vor 28 Jahren den Weltrekord mit 2,45 Meter festgeschrieben hat. Wenige Jahre zuvor ersetzten Stabhochspringer die Aluminiumröhren, mit denen sie sich aufschwangen, durch Glasfiber-Stäbe. Das Prinzip wirkt bis heute: Die Biegung nimmt Energie auf, die Streckung entwickelt Katapultwirkung.

Innovation ergänzt, woraus Leistung in der Leichtathletik besteht: Talent, Fleiß und Ehrgeiz sowie leistungssteigernde Mittel und Methoden, von denen niemand erfahren darf. Doping begann nicht mit den staatlich betriebenen Manipulationen der DDR und endete weder mit dem amerikanischen Balco-Skandal 2003 noch damit, dass 2014 das systematische Doping im russischen Sport aufflog.

Vor den Spielen von Tokio zogen die Dopingkontrolleure der Leichtathletik zwanzig Teilnehmer aus dem Verkehr, weil sie nicht oft genug getestet worden waren. Aus dem laufenden Wettbewerb sperrten sie wegen positiver Tests die nigerianische Sprinterin Blessing Okagbare und den georgischen Kugelstoßer Benik Abramjan. Der russische Verband, dessen Dopingverstrickungen immer noch nicht gelöst sind, durfte nur zehn Athleten schicken.

Die wirkliche Probe aber ist die Zeit: Von den Teilnehmern von Peking 2008 sind 28 Leichtathleten nachträglich des Dopings überführt worden und 54 von London 2012 – zusätzlich zu denen, die vor den Spielen und währenddessen aufflogen. Was steht zu befürchten, da während der Pandemie Kontrollen ausfielen?

Wer lässt sich faszinieren, wenn jeder Sieg und jede Bestleistung die Frage aufwirft, ob Doping dahintersteckt? Das Wort von der Unschuldsvermutung mag für einzelne Athleten gelten, nicht aber für diese Sportart, die ihren Ruf verspielt hat. Zudem ist die Leichtathletik mit ihren exakt vermessenen Leistungen gefangen im Anspruch, nicht nur die unmittelbaren Rivalen zu besiegen, sondern auch die Besten von gestern und morgen zu übertreffen.

Die Rekordlisten werden seit 120 Jahren geführt. Sie enthalten zweifelhafte Bestmarken wie die ewigen 47,60 Sekunden für 400 Meter von Marita Koch, die 76,80 Meter im Diskuswerfen der Frauen und die 74,08 der Männer von Gabriele Reinsch und Jürgen Schult. Die Leichtathletik hat diese Belastungen zu ihrem Vermächtnis gemacht, obwohl sie zur Jahrtausendwende die Gelegenheit zum Neubeginn hatte. Aber da wurde sie gerade von einem Kriminellen geführt, dem inzwischen zu vier Jahren Haft verurteilten Lamine Diack.

Was erklärt fantastische Leistungen wie die in beiden Finals über 400 Meter Hürden? Die technologische Innovation der Laufschuhe ist in den Spikes angekommen: Eine Karbonplatte speichert Energie und gibt sie zurück. Hersteller Nike gab mit dem Namen der ersten Generation ein Versprechen auf Leistungssteigerung: Vaporfly 4%. Zum Beweis lief am 12. Oktober 2019 in Wien Eliud Kipchoge die Marathon-Distanz unter optimierten, nicht regelkonformen Bedingungen in weniger als zwei Stunden. Er brauchte 1:59,40 Stunden, 2,7 Prozent weniger als bei seinem damaligen Weltrekord (2:02:37). Mittlerweile hat er den Rekord auf 2:01:39 gedrückt.

In dieser Dimension beschleunigen sich auch die Hürdenrennen. In beiden Finals liefen die ersten drei Zeiten, die noch vor sechs Wochen Weltrekord gewesen wären. 29 Jahre lang hatten die 46,74 Sekunden von Kevin Youngs Olympiasieg in Barcelona Bestand. Warholm drückte den Weltrekord erst auf 46,70, nun auf 45,94 Sekunden – eine Verbesserung um acht Zehntelsekunden, wo sonst Hundertstel entscheiden, 1,7 Prozent.

Ähnliches gelang McLaughlin. Sie unterbot den zwei Jahre alten Weltrekord von Dalilah Muhammad von 52,16 erst mit 51,90, dann im direkten Duell mit 51,46 Sekunden: sieben Zehntelsekunden, 1,3 Prozent. Ihre Spikes haben halb so dicke Sohlen wie die Straßenrenner, zwei statt vier Zentimeter, auch sie wirken aufgebläht. Zusätzlich zum Rebound sollen sie einen leichten Stelzen-Effekt haben: Die Schritte werden länger.

Schnelle Bahn den Tüchtigen: Für Olympia entwickele sein Unternehmen die Technologie des Laufbelags stets weiter, sagte in Tokio Andrea Vallauri vom Hersteller Mondo.

Diesmal habe er Gummigranulat in den Belag gemischt und Lufttaschen eingebaut; sie gäben Energie zurück. Zeitgewinn ein bis zwei Prozent.

Ein Wunder, dass über 400 Meter flach niemand Weltrekorde lief.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 8. August 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR