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2012

Patrick Makau im September 2011 in Berlin auf Kurs zu einem neuen Weltrekord. Überstehen seine 2:03:38 die nächsten Wochen? ©Helmut Winter

Quo vadis, Marathon? Ein Blick auf die internationale Marathonszene im Frühjahr 2012 – Helmut Winter und sein Marathon-Ausblick

By GRR 0

Spätestens um die Osterzeit beginnt traditionell die erste heiße Phase im internationalen Straßenlaufkalender, insb. in Europa und in den USA stehen dann die „Frühjahrsklassiker" an. Und das ist auch im Jahr 2012 nicht anders. Aber was in den kommenden Wochen im Marathon über die Bühne geht, verschlägt selbst Experten die Sprache. So langsam sind die Superlative verbraucht, um die Dinge noch adäquat in Worte zu fassen.

Dabei ist der Fokus der Topveranstaltungen auf Frühling und Herbst bereits Geschichte, die „Globalisierung des Marathons" ist Realität und nicht mehr aufzuhalten.

Ein unglaubliches Leistunsniveau

Mittlerweile finden hochklassige Marathonläufe so gut wie über das ganze Jahr verteilt statt. Im Winter auf der Nordhalbkugel konzentrieren sich die Veranstaltungen auf den asiatischen Raum, einschließlich der Wüstenregionen. Pausen im Terminkalender gibt so gut wie nicht mehr. Und diese Entwicklungen sind mit einer Steigerung des Leistungsniveaus verbunden, die man vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte.

Noch bevor im Jahr 2012 bei den Großen der Szene (Rotterdam, Boston, London, Paris, etc.) der Startschuss erschallt, sorgte das erste Quartal bereits für Furore. So liefen sich z.B. beim Dubai-Marathon weitgehende Nobodys in die Rekordlisten und die Leistungsbreite auf globaler Front ist in der Tat kaum noch zu fassen. Etwa 190 Athleten haben in diesem Jahr den früheren Qualifikationsstandard von 2:13 schon unterboten, dafür brauchte es vor 10 Jahren noch fast das ganze Jahr.

Knapp über 500 Läufer schafften übrigens im Rekordjahr 2011 weltweit diesen Standard, und es ist zu erwarten, dass diese Zahl in diesem Jahr schon wieder gesteigert wird. Auch die Streckenrekorde der meisten Veranstaltungen werden im Jahrestakt gesteigert. Angesichts solcher Fakten fragt man sich, wo das alles zukünftig hinläuft.

Der Marathon „brummt" weltweit

Zunächst bleibt festzustellen, dass der Marathon weltweit „brummt", wie noch niemals zuvor. Überall auf dem Globus werden Events des Straßenlaufs konsequent fortentwickelt, in schon fast industriellen Abläufen werden immer größere Läufermassen auf die Reise geschickt. Mary Wittenberg, die agile Race Directorin des New York City Marathons, spricht offen von „the industry" und möchte am liebsten in einem zweitägigen Event 100.000 Starter in New York auf die Strecke bringen, mit Startgebühren von schon jetzt bis zu 350 US$.

Und auch die sportliche Komponente schraubt sich in immer neue Höhen. Die Lebensdauer des Weltrekords der Männer wird immer kürzer und die Leistungsbreite im Marathon sprengt alle Vorstellungen. Dabei ist aber einschränkend anzumerken ist, dass diese Leistungen fast ausschließend von Athleten aus Ostafrika erbracht werden. Bis auf wenige Ausnahmen läuft der Rest der Welt den Afrikanern schlichtweg hinterher. Und wie!

Kenia allein in Front

Dominiert wird die Szene von den Kenianern, wenngleich in diesem Jahr die äthiopischen Marathonläufer zur Aufholjagd blasen und insbesondere in Dubai bereits einen eindrucksvollen Achtungserfolg auch dem Weg zurück landeten. Wie dramatisch sich die Dinge verlagert haben, zeigt der Vergleich, den Herbert Steffny in seinem Artikel in der aktuellen Ausgabe eines Laufmagazins über die Kenianer anstellt: Befand sich 1985 in den Top30 der Weltbestenliste im Marathon noch kein kenianischer Läufer, hat sich das in den folgenden Dekaden völlig gedreht; 2011 waren es 27 Männer. Betrachtet man ferner die Leistungsbreite, wird die Übermacht noch erdrückender. Und dabei wird die Läuferschar über die Marathondistanz immer schneller und jünger, die klassische Läuferkarriere über den Cross und die Bahnlangstrecken zum Marathon ist längst Geschichte.

Olympiaqualifikation

Die Gründe für diese Leistungsexplosion sind vielfältig diskutiert und reichen von genetischen Faktoren, sozialem Aufstieg, Leistungswillen bis zum konsequenten Training. Die Zeiten, in denen die Industrienationen Vorteile in Umfeld, Ausrüstung oder Trainingsmethodik hatten, sind vorbei, die besten Trainer und Manager der Szene sind in den Höhen Kenias vor Ort und treffen dort auf ideale Voraussetzungen für die Produktion von Höchstleistungen am Fließband an.

Die Entwicklungen in der letzten Zeit sind das Resultat dieser Fakten, die aktuell in der Olympiaqualifikation der kenianischen Marathonläufer gipfelt. Diese Selektion für den Marathon der Olympischen Sommerspiele in London im August gestaltet sich derart spektakulär, dass Olympia schon fast in den Hintergrund tritt. Innerhalb der kommenden Woche werden in Europa und in den USA Höchstleistungen erwartet, die es in dieser Ballung noch nie gegeben hat. Und eher zufällig ergibt sich eine Dramatik und Spannung, die kein Regisseur hätte besser inszenieren können.

Wenn sich am Sonntag um 10:30 Uhr in Rotterdam eine elitäre Gruppe ostafrikanischer Läufer anschickt, den erst sechs Monate alten Weltrekord des Kenianers Patrick Makau (2:03:38, Berlin 2011) zu unterbieten, da wird in Wien die Halbmarathon-Hetzjagd zwischen den Superstars der letzten Jahre, Haile Gebrselassie und Paula Radcliffe, schon einen Sieger gefunden haben. Dabei wird der Showeffekt in der österreichischen Hauptstadt bei dem Auftritt der in die Jahre gekommenen Größen überwiegen, die sich nun spürbar am Ende von langen und einmaligen Karrieren befinden. Beide, Paula sowie Haile, haben den Marathonlauf in der Vergangenheit maßgeblich geprägt und sind dabei zu Lichtgestalten der Szene geworden. Sie waren und sind noch unverwechselbare Markenzeichen für ihre Sportart. Mit dem Abtreten dieser Persönlichkeiten von der internationalen Bühne gehen dem Straßenlauf Aushängeschilder verloren, die momentan kaum zu ersetzen sind.

Waren die Pressekonferenzen mit den beiden Events, auf denen sie sogar Entertainer-Qualitäten demonstrierten, sind die Möglichkeiten der Kommunikation mit den nachrückenden Stars begrenzt. Mehr als triviale Statements sind kaum zu vernehmen, die Präsentationen der Topathleten verkommen zu Pflichtübungen. Die Zeitspanne der Topathleten in der Weltspitze wird immer kürzer, bei der Flut der neuen und immer jüngeren Athleten ist es mittlerweile selbst für den Fachmann nicht einfach, die Übersicht zu behalten.

Und das macht vor allem die Vermarktung des Straßenlaufs nicht einfacher. Die Sponsoren wollen Lichtgestalten, mit denen sich ihre potentielle Klientel identifizieren kann. Dazu müssen die Topathleten aber auch einen ausreichenden Bekanntheitsgrad erlangt haben, was augenscheinlich immer weniger der Fall ist. Wenn mittlerweile etwa 300 Kenianer die Olympische A-Norm der Männer von 2:15 Stunden unterboten haben (kein deutscher Läufer hat diese aktuell erfüllt), sind das beeindruckende Zahlen, helfen aber der Sportart kaum weiter.

Tempojagden auf den Straßen

Dabei ist es aber andererseits diese Leistungsexplosion bei der Qualifikation der Kenianer für Olympia, die an Spannung, Konstellation sowie Leistungsniveau historisch einmalig ist. Wenn ein aufkommender Star der Szene, Moses Mosop, am Sonntag in Rotterdam den Weltrekord jagt, dann hat er eigentlich nur eine Chance auf das Olympiateam, wenn diese Mission erfolgreich verläuft, d.h. ein neuer Weltrekord. Ein fitter Mosop hat allemal das Potential dazu (wie auch seine Mitstreiter Peter Kirui und Sammy Kitwara). Bei einer Organisation vor Ort, die nichts dem Zufall überlässt, wird aber ein strammer Wind, der für den Lauf am Sonntagvormittag vorhergesagt wird, eine unbekannte Größe sein.

Sollte Mosop die Rekordzeit von 2:03:38 unterbieten, wird es erst richtig spannend. Weniger in Boston, denn dort könnte der aktuell wohl beste Marathonläufer Geoffrey Mutai schon mit einem Sieg sein Olympiaticket buchen, aber vor allem am Sonntag danach in London. Denn während dann Geoffrey durch seine Siege mit Fabelzeiten in Boston (2:03:02) und auch New York City (2:05:05) bereits erhebliche Vorschusslorbeeren angesammelt hat, wird in London dann der letzte Startplatz für den August an gleicher Stelle vergeben.

Das kenianische Bewerberfeld hätte dabei das Potential alle Medaillen vier Monate später zu gewinnen, doch nur noch ein Athlet könnte berücksichtigt werden. Eine Selektion im Marathonlauf auf diesem Niveau hat es sicher noch nie gegeben. Und die Klasse des „Restfeldes" ist schier unglaublich: Patrick Makau, seit September 2011 der Inhaber des Weltrekords und mit einem Schnitt von 2:04:31 für seine besten drei Marathons, Abel Kirui, der zweimalige Weltmeister und ausgewiesener Meisterschaftsläufer mit neuem Trainer (Canova), Wilson Kipsang, der in Frankfurt 2011 mit 2:03:42 den Rekord von Makau denkbar knapp verpasste, sowie Emmanuel Mutai, der im letzten Jahr den London-Marathon souverän in Kursrekordzeit von 2:04:40 gewann.

Auch Vincent Kipruto sowie der mehrfache London-Gewinner Martin Lel haben noch eine minimale Chance der Qualifikation. Aber wie immer die Konstellation sich vor dem Lauf darstellen wird, die Herren werden dort im wahrsten Sinne des Wortes „um ihr Leben rennen müssen". Denn nur eine außergewöhnliche Zeit wird mehr als einem der Kandidaten helfen, nochmals in diesem Jahr in London zu starten. Im Klartext bedeutet das auch für London eine Jagd auf den Weltrekord, wo immer der nach Rotterdam dann stehen wird.

Angesichts solcher Entwicklungen in der Marathonszene könnte man optimistisch in die Zukunft schauen. Solche Spitzenleistungen und Spannungsmomente sollten die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für diesen Sport verbessern helfen. Spektakulärerer Sport, als er sich aktuell auf den Straßen vollzieht, kann man sich kaum vorstellen.

Wo laufen sie denn?

Doch wer deshalb ein gesteigertes Interesse der Medien erwartet, sieht sich mit tristen Realitäten konfrontiert. Bis auf den Paris- und London-Marathon bei einem Sportsender wird von den restlichen Topevents auf deutschen Mattscheiben wenig zu sehen sein. Die öffentlich rechtlichen Medienanstalten haben sich längst aus der Verantwortung gestohlen, die Gesellschaft adäquat abzubilden, und konzentrieren sich auf den Fußball bis in die untersten Ligen und bis ins letzte Detail. Dass sie damit mitverantwortlich für den Niedergang einer der Kernsportarten der Olympischen Spiele sind, sollten sich die Herren in den Sendeanstalten alsbald durch den Kopf gehen lassen. Bevor es zu spät ist.

Andererseits vollzieht sich mit Macht die Übertragung der Läufe über das Internet, die die Sendeanstalten irgendwann für diese Inhalte überflüssig machen. Und nicht nur für diese! Wie dem auch sei, falls es nicht gelingt in dieser Problematik Fortschritte zu machen, dürften sich schon in Kürze bedrohliche Szenarien einstellen, die den gesamten Laufsport treffen. Ohne ausreichende Akzeptanz in den Medien wird es immer schwieriger werden, Sponsoren zu requirieren sowie Begeisterung für das Laufen in der Bevölkerung, vor allem beim Nachwuchs zu wecken. Die stürmischen Leistungsentwicklungen in der letzten Zeit haben die Dinge leider kaum verbessert.

Wofür braucht man die Spitzenläufer?

Aber es gibt weitere Anzeichen, die man sensibel schon heute registrieren sollte, obwohl sich die sportliche Seite des Marathons derzeit auf höchstem Niveau präsentiert. Denn mittlerweile ist die Übermacht der afrikanischen Läufer derart erdrückend, dass immer öfter reflektiert wird, wer eigentlich noch davon profitiert, wenn weit vor dem Rest der Läuferfelder einige Topathleten laufen, den Sieger unter sich ausmachen und mit den übrigen Läufern nichts mehr gemein haben. Schon lange haben Zuschauer bei den Stadtmarathons den Eindruck unterschiedlichen Veranstaltungen beizuwohnen. Dies gipfelt letztlich in der Frage, ob man die Spitzenläufer überhaupt noch braucht. In einer Freizeitgesellschaft, in der die individuelle Leistung immer weniger zählt, sind solche Überlegungen naheliegender als man denkt.

Dass bei aller Faszination für die Topleistungen der Athleten aus fernen Ländern diese Entwicklungen bedrohlich für den Sport werden können, veranschaulichen die Dinge in den USA, wo die Competitor Group mit über 25 Rock´n Roll Marathons im Jahr 2011 etwa 600.000 Teilnehmer auf die Straßen brachte. Bisher waren diese Läufe auch ein gesunder Mix aus Spitzen-und Breitensport, d.h. es wurden Spitzenläufer aus Afrika verpflichtet, die für die sportlichen Glanzlichter sorgten. (Nebenbei angemerkt, nimmt Deutschland diesbezüglich eine absolute Spitzenstellung ein, wo auf den Straßen die weltweit schnellsten Zeiten erzielt werden, während die heimische Elite weit hinterherläuft).

Auch aus kommerziellen Gründen verzichtet Competitor seit letzter Zeit weitgehend auf Preisgelder, so dass sich ein Start afrikanischer Läufer nicht mehr rechnet. Denn mit der Ehre allein lässt sich die mittlerweile hochsensible Maschinerie aus Athleten, Trainern und Managern nicht mehr betreiben. Kurzum, in den USA verschwinden aktuell in erheblichem Umfang „Arbeitsplätze" für Spitzenläufer und setzen dem leistungssportlichen Höhenflügen ein jähes Ende. Ein Beispiel: Wurde der Arizona-Marathon in den Vorjahren mit Zeiten um die 2:10 gewonnen, reichten in diesem Jahr ohne Topathleten schon 2:25 Stunden aus.

Sollten sich diese Entwicklungen auf breiter Basis fortsetzen, könnte der aktuelle sportliche Boom im Marathon ein jähes Ende finden. Bleibt zu hoffen, dass es nicht dazu kommt. Es wird erheblichen Einsatz aller Betroffenen erfordern, um diesen Dingen entgegen zu wirken. Dabei kann man sich bei einer Klientel sicher sein, dass sie diesbezüglich nach wie vor ihr Bestes geben wird: die Athleten.

Mit Topleistungen nicht nur an den kommenden Wochenenden werden sie ein Millionenpublikum verzaubern und machtvoll demonstrieren, welche Faszination und Attraktivität mit dem Laufsport verbunden sind. Und dabei sollte es auch bleiben.

 

Helmut Winter

 

 

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author: GRR

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