Für die Paralympics in London 2012 wurden 40 Wettbewerbe gestrichen - ein Opfer ist Marianne Buggenhagen, Gewinner sind die Briten.
„Plötzlich heißt es: Raus bist Du“ – Marianne Buggenhagen und die Paralympics 2012 – Klaus Weise im Tagesspiegel
Berlin – Marianne Buggenhagen, gebürtige Mecklenburgerin und mithin ein meist ruhiges Temperament, hat Mühe, ihre Erregung zu bändigen. „Das ist, gelinde gesagt, eine Riesensauerei, wie das abgelaufen ist und entschieden wird", poltert sie. Gerade hatte sie das vom IPC (Internationales Paralympisches Komitee), Abteilung Leichtathletik, publizierte vierseitige Memorandum über das Wettkampfprogramm ihrer Sportart bei den Paralympics 2012 erhalten. Und als sie den Text las, da fühlte sie sich die neunmalige Paralympicssiegerin und vielfache Weltmeisterin wie im falschen Film.
London sollte ihre Schluss-Station darstellen, bei den Paralympics wollte sie hochmotiviert ihre glanzvolle Karriere beenden.
Sie wird dann 59 Jahre alt sein, würde mit Stil und dem Gefühl von Stolz von den sportlichen Bühne abtreten. So war der Plan.
Seit dem Brief gilt er nichts mehr.
Denn das Diskuswerfen ihrer bisherigen Schadensklasse ist gestrichen. Ausgerechnet jene Disziplin, die sie am besten beherrscht. Und Marianne Buggenhagen ist mit diesem Gefühl von Ärger nicht allein. Dabei geht es gar nicht um das Streichen als solches. Zu unübersichtlich ist das paralympischen Programm inzwischen. Es musste ausgedünnt werden, das ist eine Frage der Attraktivität. Das sieht ja auch Buggenhagen so.
Die Frage ist: Wie wird ausgedünnt?
Nicht fair, vermutet die Weltklasseathletin Buggenhagen. „Da wurden aus meiner Sicht Disziplinen rausgeschmissen und dafür halt andere aufgenommen, in denen zum Beispiel die Briten wettbewerbsfähige Athleten haben." Gestrichen wurde zum Beispiel der Fünfkampf, den der sehbehinderte Thomas Ulbricht vom PSC Berlin, Welt- und Europameister sowie 2008 in Peking Paralympics-Zweiter, ausübt. Gestrichen auch der Weitsprung der Oberschenkel-Amputierten. „Und das ist einer der attraktivsten Wettbewerbe auf höchstem Niveau überhaupt", sagt Ralf Otto, Trainer beim PSC Berlin und 14 Jahre Teamchef der deutschen Leichtathleten bei Paralympics. Die Deutschen Wojtek Czyz und Heinrich Popow sind damit aus dem Rennen. „Man kann auch so rechnen: Für die deutschen Leichtathleten sind damit per Handstreich einfach mal vier mögliche Medaillen weg", sagt Otto sarkastisch.
Aber es geht nicht bloß um deutsche Athleten. Die sind wenigstens noch in vielen Disziplinen präsent. Jedoch gibt es Nationen, die nur punktuell stark vertreten sind. Und wenn deren Athleten nun ausgerechnet zu den Opfern der Streichliste gehören, dann steht die Existenz der betroffenen Verbände auf dem Spiel. Vom moralischen und sportlichen Flurschaden ganz zu schweigen. „Du trainierst und trainierst und trainierst", sagt Buggenhagen, „und plötzlich heißt es: Eene, meene, muh, und raus bist Du!"
Verbittert erzählt Otto von den österreichischen Athleten. „Bei denen wurden alle sechs Wettbewerbe, in denen sie Medaillenkandidaten haben, gestrichen. Da kann die komplette Abteilung aufhören." Otto sagt allerdings auch, dass die Probleme aus deutscher Sicht ein Stück weit hausgemacht sind.
2009 beschäftigte sich in Bonn bei einem Kongress eine Arbeitsgruppe mit dem Thema „Programme und Wettbewerbe". Kein deutscher Vertreter saß in dieser Gruppe. Die legte fest, dass in London 120 Wettbewerbe auf jeden Fall stattfinden werden, von den bisher restlichen 80 aber wurden 40 als überflüssig bezeichnet. Und welche das sind, das haben Briten, Australier oder auch US-Amerikaner entschieden. Zu ihrem jeweiligen nationalen Vorteil, so ist anzunehmen.
„Im Behindertensport", sagt Ralf Otto, „werden immer noch manchmal mehr Medaillen am grünen Tisch vergeben als im Stadion."
Klaus Weise im Tagesspiegel, Sonnabend, dem 2. April 2011