Kevin Reuter Wo ist der Schmerz: im Kopf oder im Körper? Diese Frage beschäftigt den Philosophen Kevin Reuter. - Bild: Jos Schmid - Universität Zürich - UZH
Philosophie des Schmerzes – Wenn es weh tut – Universität Zürich – UZH – Simona Ryser
Wenn sie von Schmerzen sprechen, meinen Patientinnen und Patienten oft etwas anderes als medizinische Fachpersonen. Das kann zu Fehldiagnosen führen, sagt Kevin Reuter. Der Philosoph erforscht unser Schmerzverständn
Abgleich mit dem Alltagsverständnis
Allerdings tut er dies für einen Philosophen auf ungewöhnliche Art und Weise. Die traditionelle Philosophie entwickelt ihre Erkenntnisse durch harte Gedankenarbeit. Sie knobelt sich die Welt im Kopf aus. Doch Kevin Reuter reicht es nicht, allein darüber nachzudenken. Der SNSF-Eccellenza-Professor tritt aus dem Studierzimmer in die Alltagswelt der Laien. Er befragt Personen, macht Experimente mit Probanden, erstellt Statistiken, durchforstet Datensätze. «Die experimentelle Philosophie will traditionelle Ansätze ergänzen und philosophische Theoriebildung durch empirische Studien unterstützen», sagt er. Dabei sollen Thesen und Begriffe mit unserem Alltagsverständnis verglichen werden – eben zum Beispiel zum Thema Schmerz.
Subjektive Wahrnehmung
«Unser Schmerzverständnis ist nach wie vor ziemlich rätselhaft», sagt Reuter. Oft sei es nicht klar, was wir meinen, wenn wir über Schmerzen reden. Wo tut es denn weh? Zum Beispiel in meinem Rücken. Aber ist der Schmerz wirklich dort, im Körper drin? Und wenn ich ihn mal nicht spüre, ist er dann verschwunden? Einige Philosophinnen und Philosophen gehen davon aus, dass Schmerzen nur dann existieren, wenn sie bewusst wahrgenommen werden. Sie spielen sich also in unserem Gehirn ab. Auch die medizinische Lehrmeinung beschreibt den Schmerz als einen mentalen Zustand. Die Patientin in der Sprechstunde zeigt aber auf ein Körperteil, beispielsweise auf den Rücken.
Missverständnisse in der Sprechstunde
Genau diese Diskrepanz interessiert Reuter. Die Fachleute arbeiten mit einem Begriff von Schmerz, der nicht mit dem Verständnis vieler Laien übereinstimmt. Angehende Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte lernen, dass Schmerzen komplexe Sinnesempfindungen sind. Selbst die Weltschmerzorganisation IASP definiert Schmerz als «ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis», als etwas, das sich im Gehirn abspielt. «Betroffene aber sprechen oft ganz anders über ihre Schmerzen», sagt Kevin Reuter. Tatsächlich sei es eine ziemliche Herausforderung, den Schmerz des anderen zu beurteilen, handelt es sich doch um eine subjektive Wahrnehmung. Schmerzen lassen sich nicht teilen, da nur wir mit unserem eigenen Körper verbunden sind. So führt die Unterhaltung darüber, wo genau es weh tut, nicht selten zu Missverständnissen, im schlimmsten Fall gar zu Fehldiagnosen und falschen Therapien, etwa einer falschen Medikamentenwahl. «Wir müssen wissen, wovon wir reden, wenn’s weh tut», sagt der Philosoph, der auch Mitglied des neu an der UZH gegründeten Kompetenzzentrums «Sprache und Medizin» ist (www.language-and-medicine.uzh.ch).
Schmerzen fühlen oder haben?
Der Philosoph will dem schillernden Schmerzbegriff mit Umfragen und Tests auf die Spur kommen. Er durchforstet riesige digitale Textsammlungen wie den Corpus of Contemporary American English COCA nach bestimmten Phrasen und analysiert diese. Ihn interessiert etwa, in welchen Situationen Personen davon sprechen, dass sie Schmerzen fühlen, oder davon, dass sie Schmerzen haben. Letzteres sagen Menschen, wenn es wirklich weh tut, hat der Philosoph herausgefunden. Ist der Schmerz weniger intensiv, sagt man dagegen eher, man fühle Schmerzen. «Dies deutet darauf hin, dass wir Schmerzen, ähnlich wie Farben oder Gerüche, als ausserhalb des Geistes verorten», erklärt Reuter.
Wenn die Wissenschaft davon ausgeht, dass Schmerzen mentale Gefühlserlebnisse sind, würde das bedeuten, dass sie nur existieren, wenn sie bewusst wahrgenommen werden. Ungefühlte Schmerzen gäbe es demnach nicht, erklärt Reuter. Ob dies Laien tatsächlich auch so sehen, hat er in Experimenten untersucht. Reuter und sein Team haben Versuchspersonen ein Szenario beschrieben, in dem ein Soldat im Kampf verwundet wird, doch während des Gefechts keine Anzeichen von Schmerzen zeigt. Nun wurden die Probanden gefragt, ob der Soldat keine Schmerzen habe oder aber ob er sie in der Kampfsituation nur nicht spüre.
Die Mehrheit der Befragten ging davon aus, dass der Soldat sehr wohl Schmerzen hat, auch wenn er sie gerade nicht empfindet. Für sie sind ungefühlte Schmerzen also möglich. Wie ist es aber, wenn man einem Patienten, einer Patientin ein Schmerzmittel verabreicht und die akuten Beschwerden verschwinden? Für 30 bis 40 Prozent der Probanden ist der Schmerz dann tatsächlich weg, für die Mehrheit bleibt er aber da, auch wenn er nicht verspürt wird. Nun will der Philosoph in weiteren Studien herausfinden, welche Faktoren dazu führen, dass Patientinnen und Patienten solch unterschiedliche Vorstellungen haben.
Wenn die Seele schmerzt
Während ich mit Kevin Reuter spreche, merke ich, dass ich das Stechen in meinem Rücken vergessen habe. Auch ich denke, es ist immer noch da, ich habe es einen Moment lang nur nicht wahrgenommen. Doch wie ist es eigentlich, wenn die Seele schmerzt, frage ich den Philosophen. Wir sprechen ja auch vom Liebesschmerz. Es tut weh, wenn wir verlassen werden. Oder es kann schmerzen, wenn uns jemand mit Worten verletzt. Sind emotionale Schmerzen echte Schmerzen? Auch das hat Reuter untersucht. Da zeige sich kein eindeutiges Bild, meint er. Während gut die Hälfte der Befragten emotionale Schmerzen lediglich metaphorisch verstehen, sind sie für die andere Hälfte genauso Schmerzen wie körperliche Schmerzen.
Körpersäfte im Ungleichgewicht
Lange Zeit, genauer von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, hatte die Medizin ein sehr körperorientiertes Schmerzverständnis: Die Körpersäfte waren das Problem. In der um Hippokrates gegründeten und von Galen weiterentwickelten Humoralpathologie glaubte man, dass Krankheiten auf ein Ungleichgewicht von Körpersäften zurückzuführen seien. Um wieder gesund zu werden, galt es, die vier Säfte – schwarze Galle, gelbe Galle, Blut und Schleim – auszugleichen. Dazu wurde mit Gegensätzlichem – beispielsweise Entzündungen, also Hitze, mit Kälte – behandelt.
Feststellbare Ursache
Erst im 19. Jahrhundert, mit dem Erstarken der modernen Pathologie, wurde die humoral-pathologische Lehre verdrängt und die Theorie entstand, dass Schmerzen nicht körperliche, sondern mentale Zustände seien, erklärt Reuter. Dies unter anderem, weil die diagnostischen Werkzeuge besser wurden. Man konnte immer präziser untersuchen, was im Körper und im Gehirn vor sich geht. Schmerz musste jetzt eine feststellbare Ursache haben, einen «Ort» – und wenn er nicht in konkreten, visuell beobachtbaren Läsionen, Röntgenbildern oder sonst wie festgestellt werden konnte, so musste der Schmerz folglich etwas Subjektives sein und ganz im Bewusstsein des Patienten liegen. Damit wurde auch die Diskrepanz im Schmerzverständnis zwischen Patienten und dem medizinischen Personal grösser.
Bessere Schmerzkommunikation
Doch ist es wirklich so relevant, dass wir uns darüber einig sind, was Schmerzen sind? Kevin Reuter bejaht entschieden. Die Schmerzkommunikation zwischen Fachpersonen und Laien müsse unbedingt besser werden. Zumindest gelte es, für das Thema zu sensibilisieren, um Missverständnisse zu erkennen und differenziert mit dem Phänomen umgehen zu können. Aus diesem Grund hält der Philosoph auch Vorträge für medizinische Fachkräfte und Pflegepersonal. Und er plant weitere Experimente. So will er herausfinden, wie das Schmerzverständnis bei chronischen Schmerzpatienten von gesunden Personen abweicht. Und mein Rückenweh? Ich habe es ganz vergessen.
Experimentelle Philosophie
Lebensnahe Erkenntnistheorie
Hat ein CEO, der einem erfolgversprechenden Plan zustimmt, obwohl er weiss, dass dieser umweltschädlich ist, der Natur absichtlich geschadet? Die meisten Personen nicken zustimmend. Hat dieser CEO aber etwas Gutes für die Natur getan, wenn er ein profitables Projekt unterstützt, das zudem auch umweltfreundlich ist, ihn dies aber völlig kalt lässt? Hier schütteln die meisten den Kopf. Mit einem Experiment zu diesen Fragen hat der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Joshua Knobe 2003 den Startschuss für die Experimentelle Philosophie gegeben. Der so genannte Knobe-Effekt zeigt, dass man der schlechten Nebenwirkung einer Handlung schnell mal Absicht unterstellt, während man im umgekehrten Fall dem guten Nebeneffekt kaum Beachtung schenkt.
Die Experimentelle Philosophie will herausfinden, warum wir so denken, wie wir denken. Dazu setzt sie bei der traditionellen Philosophie an. Die Experimentelle Philosophie will deren Befunde empirisch stützen – mit Umfragen, Statistiken und Experimenten. Ziel ist, herauszufinden, welches Verständnis Laien von zentralen philosophischen Begriffen wie beispielsweise Glück, Verantwortung, Kausalität haben, um diese mit dem philosophischen Lehrverständnis abzugleichen und so zu einer lebensnahen Erkenntnistheorie und Ethik zu gelangen.