Lius größte Stärke sind nicht seine Beine, sondern seine Nerven. "Er kann Aufregung kontrollieren", sagt Sun. "Er ist perfekt darin. Deshalb ist seine Leistung so stabil." Lange Zeit sprachen die Fakten gegen Zweifel am kommenden Olympiasieg von Liu Xiang.
Phantastischer Flug in die Zukunft – Im neuen China hat die Bevölkerung Sehnsucht nach eigenen Stars und Helden, nicht mehr nur nach importierten Prominenten. Der Star-Kult wächst. Auch die Politik hat die Vorzüge von chinesischen Starfiguren entdeckt und fördert diese Entwicklung, im Sport oder auch im Showgeschäft. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Wie ein Zettel auf der Kühlschranktür findet sich auf der Internetseite von Liu Xiang ein unauffälliger Gruß. Unter einem Foto des entschlossen blickenden Hürdensprinters, zwischen Spielen, Videos und Werbung, lässt eine Nachricht aufmerken. "Danke allen, die mich immer unterstützen", schreibt Liu. "Wir sehen uns bei Olympia in Peking 2008, und ich zeige euch eine phantastische Air Liu!"
Das ist nun gar nicht die bescheidene Art, die man von dem Sprinter kennt, seit er mit dem Olympiasieg von Athen 2004 in die erste Reihe der internationalen Leichtathletik getreten ist. Air Liu? Selten ist so deutlich geworden, dass die Zukunft ein ständiges Versprechen ist in seiner Karriere. Wenn Liu Xiang am Donnerstag, dem 21. August, um Viertel vor zehn Uhr abends im Finale des Hürdensprints im "Vogelnest", dem Olympiastadion zu Peking, nicht abhebt, nicht perfekt über die zehn Hürden auf den 110 Metern zwischen Start und Ziel fliegt und nicht Olympiasieger wird – was dann?
Dann wird er dieses Versprechen gebrochen haben. Dann wird er der größte Verlierer dieser Spiele sein, derjenige, der die Hoffnung von 1,3 Milliarden Chinesen enttäuscht hat. Dann wird die Goldmedaille, die er mit 21 Jahren bei den Spielen von Athen 2004 gewann, nur noch halb so viel wert wie jetzt, wird der Weltmeistertitel von Osaka 2007 Schnee von gestern sein.
Seit im Sommer 2001 Peking den Zuschlag für die Spiele 2008 erhielt, schürt jeder Sieg von Liu Hoffnung. Mit achtzehn gewann er damals bei der Universiade in Peking seinen ersten internationalen Titel. Zwanzig Milliarden Dollar hat der Staat in den sieben Jahren, die folgten, für den Bau der Olympiastätten und der olympischen Infrastruktur ausgegeben. Das ist die Bühne, auf der Liu Xiang triumphieren soll: der berühmteste Sportler des größten Landes der Welt. Am 13. Juli wird er 25 Jahre alt werden. Viereinhalb Wochen später gilt es, die wichtigste Goldmedaille der Welt zu holen. "Air Liu" startet mit der Hoffnung von 1,3 Milliarden Chinesen an Bord.
"Ich will das Beste tun, aber ich kann keine Medaille garantieren", sagt Liu Xiang. "Ich spüre keinen großen Druck. Ich sage mir immer, dass Olympia auch nur eines von vielen Rennen in meinem Leben sein wird. Der einzige Unterschied wird sein, dass es zu Hause stattfindet." Gelassenheit bestimmt Liu Xiangs Bild in der Öffentlichkeit. Er ist ein Athlet, zu dem die meisten seiner Landsleute schon deshalb aufblicken, weil er 1,89 Meter groß ist. Der andere Teil des Bildes ist Liu Xiang im Triumph: ein Mann im roten Nationaltrikot, der sein Glück herausschreit, die Faust in die Luft stößt, seine Fans mitreißt. Liu Xiang symbolisiert China auf dem Sprung in die Zukunft.
Der Athlet löst in seiner Heimat Massenaufläufe und -hysterie aus, wie es bei uns die Beatles in den sechziger Jahren taten. Nur zwei Mal war bei den chinesischen Nationalspielen in Nanjing vor drei Jahren das überdimensionierte Stadion voll: zum Finale des Hürdensprints und zum Staffellauf, bei dem Liu für Schanghai antrat. Da strömten Menschen in die Arena, die sonst niemals eine Sportveranstaltung besuchen würden. Und Liu flirtete mit ihnen. Zunächst verschloss er sein Gesicht in tiefer Konzentration. Dann ließ er aus den Augenwinkeln Blicke auf die Tribüne schießen.
Und schließlich brach ein Lachen aus ihm heraus, als hätte er sich verstellt, als sei alles ein großer Spaß. Nachdem Liu wie gedankenlos den Oberkörper entblößt hatte, um sein Trikot überzustreifen, und der Jubel und das Gekreische ihren Höhepunkt erreicht zu haben schienen, grüßte Liu sein Volk, indem er eine Hand hob und wie ein Kung-Fu-Kämpfer zur Tigerkralle formte. Mit dem Startschuss sprangen gesittete Menschen auf Stühle und Tische, balgten sich Reporter um den besten Blick. Ein Orkan des Jubels brach los. Acht Bodyguards mussten Liu Xiang schützen im Ziel.
Der 53 Jahre alte Trainer Sun Haiping betreute Liu bereits, als dieser sich mit vierzehn Jahren im Hochsprung versuchte. Die Schulmeisterschaft, gewonnen mit zwei Metern, beeindruckte die chinesische Sportbürokratie nicht. Sie wollte die Zukunft erforschen. "Die Untersuchung zeigte, dass er für den Hochsprung nicht groß genug werden würde", sagt Sun. "Aber sein Rhythmus war gut." Bevor Liu Hürdensprinter sein konnte, musste Trainer Sun um sein Talent kämpfen. Die Familie hatte den Jungen aus der Sportschule abgezogen, weil sie dort keine Perspektive für ihn sah. Das war vernünftig. Die Sportschulen des Landes waren nicht ins Bildungssystem integriert; wer sich sportlich nicht durchsetzte, stand ohne Schulabschluss da. Sun versprach Vater Liu Xuegen, sich um die umfassende Bildung des Jungen zu kümmern. Liu Xiang durfte zurück zum Sport.
Meistertrainer und Musterschüler teilen sich eine Wohnung auf dem Gelände des Shanghai Sports & Health Centre. So unangenehm ist das Leben für Liu auf dem eingezäunten Campus mit Trainingsanlagen und Stadion, mit Schul- und Sozialräumen nicht. Er könne ein Leben führen wie ein normaler junger Mann seines Alters, erzählt er. "Ich kann nur nicht ausgehen." Selbst wenn er sich mit Mütze und Sonnenbrille verkleide, gebe es jedes Mal einen Auflauf, sobald er in der Öffentlichkeit auftauche. Also spielt Liu Billard an einem der abgewetzten Tische in seinem Sportclub, geht essen schräg gegenüber im Restaurant, dessen Empfangsraum mit Aquarien und Terrarien wirkt wie eine Zoohandlung, oder übt sich in Karaoke mit chinesischen Schlagern. "Hier wird Liu Xiang leben bis zum Ende seiner Karriere", sagt der Trainer.
Lius größte Stärke sind nicht seine Beine, sondern seine Nerven. "Er kann Aufregung kontrollieren", sagt Sun. "Er ist perfekt darin. Deshalb ist seine Leistung so stabil." Lange Zeit sprachen die Fakten gegen Zweifel am kommenden Olympiasieg von Liu Xiang. Bei der Weltmeisterschaft 2003 in Paris war er noch Dritter hinter Allen Johnson und Terrence Trammell. Bei seinem Olympiasieg im Jahr darauf stellte er den Weltrekord von 12,91 Sekunden ein, obwohl er schon vor dem Zielstrich die Arme in die Luft warf. Im Juli 2006 holte er in 12,88 Sekunden die Bestzeit für sich allein. "Alle haben Druck. Druck ist ein Motiv des Lebens", sagte Liu Xiang. "Druck ist das eine, ein Ziel das andere." Im vergangenen Winter wurde er bei seinem einzigen Start in der Halle, in Valencia, Weltmeister über 60 Meter Hürden.
Zwar scheint Liu Xiang auf Plakaten in China allgegenwärtig. Er ist das Gesicht von Coca-Cola und von Nike und von Nutrilite. Dennoch sagt Luo Chaoyi, der Generalsekretär des Chinesischen Leichtathletikverbandes: "Wir sind strikt gegen eine Kommerzialisierung von Liu Xiang." Der Staat habe den Athleten entwickelt, also gehörten die Rechte an ihm dem Staat. Auf gut zwei Millionen Dollar werden die Einkünfte von Liu Xiang aus Werbung geschätzt. Das ist zwar selbst im überhitzten Schanghai eine Menge, jedoch weniger als ein Zehntel dessen, was der ebenfalls aus Schanghai stammende Basketballspieler Yao Ming von seinem Engagement bei den Houston Rockets und aus persönlicher Werbung mitbringt.
Einiges spricht dafür, dass der Verband nicht Zurückhaltung übt, um Liu Xiang zu schützen, sondern inkompetent ist. So brachten die Funktionäre den Nichtraucher Liu vor wenigen Jahren in nicht geringe Verlegenheit, als sie ihm einen Werbevertrag für die Zigarettenmarke Baisha oktroyierten.
Wenn Liu in Pressekonferenzen zappelig und gelangweilt die Übersetzung abwartet, zeigt er deutlich, dass er Englisch längst versteht. Doch immer werden Fragen und Antworten übersetzt. Gut möglich, dass der Apparat, wie bei den zeitverzögerten Direktübertragungen im Fernsehen, die Möglichkeit haben will, zensierend einzugreifen. Schließlich ist Liu Xiang ein nationales Symbol und nicht nur das Gesicht der Produkte amerikanischer Unternehmen. Beim Eintreffen des olympischen Feuers in China nahm Liu Xiang die Fackel aus der Hand von Präsident Hu Jintao entgegen – auf dem Tiananmen-Platz, dem Ort, der für das Gedächtnis der Welt immer mit dem Massaker der chinesischen Machthaber an demonstrierenden Studenten verbunden sein wird.
Wie Liu derzeit die gewaltigen Erwartungen, die auf ihm lasten, verringert, dürfte ihm und seinem Coach gar nicht recht sein. Zwar siegte er bei der Hallen-WM. Doch sein kubanischer Herausforderer Dayron Robles fehlte im Endlauf. Er war im Vorlauf in der Erwartung stehen geblieben, das Rennen werde wegen Frühstarts von Liu abgebrochen. Damit war ausgerechnet derjenige ausgeschieden, der sich in diesem Jahr als der Schnellste entpuppte. Robles verbesserte Lius Weltrekord im Juni auf 12,87 Sekunden.
"Air Liu" kommt nicht unbeschwert in die Luft. Zweimal leistete sich Liu bei Testwettkämpfen im Mai im Olympiastadion von Peking Fehlstarts. Er habe die Zuschauer unterhalten und die Konkurrenten nervös machen wollen, behauptete er. Als er eine Woche später in New York laufen sollte, sagte er kurzfristig wegen einer Oberschenkelverhärtung ab. In Eugene (Oregon) eine weitere Woche später war Liu wieder zu schnell. Wegen Fehlstarts wurde er disqualifiziert.
Seitdem hat man nicht viel von ihm gehört. Er werde nicht derjenige sein, der bei der Eröffnungsfeier am 8. August die olympische Flamme entzünde, ließen Trainer und Vater verlauten. Liu habe zu viel zu tun, um sich auch noch darauf vorzubereiten. Bei "Air Liu" wird offenbar hektisch daran gearbeitet, dass sie bereit sein wird zum Abheben.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 5. Juli 2008