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01
09
2024

Symbolbild - Mythos Olympia - Foto. Horst Milde

Paris 2024 – Was bleibt und was getan werden muss. sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel

By GRR 0

Vorbemerkungen – Die Spiele der XXXIII. Olympiade Paris 2024 sind im Vergleich zu einer großartigen Eröffnungsfeier, die ohne Zweifel in die Geschichtsbücher der modernen Olympischen Spiele eingehen wird, mit einer weniger großartigen Abschlussfeier zu Ende gegangen.

Der Blick der Olympischen Sportwelt richtet sich— wie es in unseren kurzlebigen Gesellschaften üblich ist — bereits wenige Tage nach der Beendigung der 33. Olympischen Spiele von Paris auf Los Angeles, wo 2028 die nächsten, die 34. Olympischen Sommerspiele, stattfinden werden.

Was gestern war, gerät auch bei den Repräsentanten¹ des modernen Olympismus schnell wieder in Vergessenheit und die „Ideologen des Pragmatismus“ legen den Verantwortlichen nahe, sich möglichst sofort den Herausforderungen zu stellen, die sich durch die Vergabe der Spiele an das Mutterland des modernen Kapitalismus, des Amerikanismus und damit auch der totalen Kommerzialisierung aller Lebensbereiche ergeben.

In der Philosophie des Pragmatismus wird der Mensch als ein „handelndes Wesen“ verstanden, der sein praktisches Tun über jegliche theoretische Vernunft stellt und die Wahrheit und Gültigkeit von Ideen und Theorien allein nach ihrem Erfolg bemisst. Es kann dabei wohl kaum überraschen, dass diese philosophische Lehre ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika hat. Sie wird William James und Charles Pierce und der „Chicago School of Sociology“ zugeschrieben und entstand dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Für das IOC und dessen Sportfunktionäre kann in der Vorbereitung auf die nächsten Olympischen Spiele ein gewisser Pragmatismus durchaus empfehlenswert und angemessen sein. Sich lediglich darauf zu verlassen und auf grundlegende theoretische Reflektionen zu verzichten, kann meines Erachtens jedoch äußerst gefährlich sein. Die Spiele von Paris haben uns dies deutlich vor Augen geführt, auch wenn sie in einer bilanzierenden Gesamtbetrachtung durchaus als ein großer Erfolg für den modernen Olympismus bezeichnet werden müssen, der vor allem der von IOC-Präsident Bach initiierten „Agenda 2020“² und „2020 +5“³ zuzuschreiben ist.

Will man den ohne Zweifel auch heute noch bestehenden Gefahren entgegentreten, die bei der zukünftigen Entwicklung der modernen Olympischen Spiele auftreten können, so ist Einhalt geboten. Eine gewisse theoretische Rückbesinnung ist dabei das Gebot der Stunde und eine schonungslose Selbstkritik der Verantwortlichen des modernen Olympismus wäre wünschenswert.

Dabei könnten sich viele Fragen stellen. Einige von mir als wichtig erachteten Fragen sollen im Folgenden diskutiert werden.

Kamen während der Spiele 2024 die Olympischen Werte ausreichend zum Tragen?

Die wichtigste Frage wäre auf die Olympische Charta und die dort definierten olympischen Werte auszurichten und es wäre zu fragen, inwiefern und mit welcher Qualität diese Werte bei den jüngsten Spielen realisiert wurden und ob und wie sie aktiv auch gegenüber der Weltöffentlichkeit dargestellt und vertreten wurden.

Eine der Grundideen der Olympische Charta ist deren Forderung zugunsten einer Welt, in der die Menschen friedlich zusammenleben und in der fundamental und universell die für unsere Menschheit gültigen ethischen Prinzipien ge- und beachtet werden. Zu diesen Prinzipien gehören die Freundschaft zwischen Individuen und Völkern, der gegenseitige Respekt, Toleranz, Verlässlichkeit und die Prinzipien des Fair Play und der Solidarität. Hierzu gehört auch das Streben nach Höchstleistung, das Bemühen, der Beste zu sein und sich auszuzeichnen vor den anderen. Von herausragender Bedeutung ist dabei jedoch vor allem die Ablehnung jeglicher Form der Diskriminierung, die Anerkennung der besonderen Würde eines jeden Menschen.

Diesen Grundideen der Olympische Charta sollten meines Erachtens noch zwei Werte hinzugefügt werden, die wohl in der Charta nicht eigens erwähnt werden, die jedoch für den Erhalt der von Coubertin begründeten Olympischen Philosophie zentral geworden sind. Gemeint sind von mir die Werte der Bescheidenheit und der Selbstgenügsamkeit.

Betrachten wir die Olympischen Spiele von Paris im Spiegel dieser Werte und im Spiegel der Olympischen Charta, so entsteht ein äußerst widersprüchliches Bild.

Einerseits boten die olympischen Sportstätten den Athletinnen und Athleten eine ausgewöhnlich schöne und attraktive Bühne zur Präsentation ihrer sportlichen Höchstleistungen, die allerdings in einigen sportlichen Wettbewerben dem Höchsleistungsanspruch nur ungenügend gerecht wurden. Dies trifft meines Erachtens auf einige Mannschaften des 3×3 Basketballs ebenso zu wie auf einige Spiele beim Beachvolleyballturnier. Auch einige Erscheinungsformen beim Breakdance widersprechen diesem Anspruch.

Sehr erfreulich war, dass bei fast allen Wettbewerben die Maxime des Fair Play, der Freundschaft und des gegenseitigen Respekts im Mittelpunkt der Wettkämpfe stand. Auch die Zuschauer haben sich dabei fast immer als ein sehr faires Publikum erwiesen.

Bei der Austragung der Spiele der letzten Jahre steht mit dem ungelösten Doping Problem des modernen Hochleistungssports immer wieder von neuem auch das Fair-Play-Ideal auf dem Prüfstand. Sämtliche präventive Maßnahmen, die das IOC in diesem Zusammenhang im Vorfeld und während der Spiele unternommen hat, haben sich als sinnvoll und glaubwürdig erwiesen.

Andererseits zeigten eine kleine Minderheit von teilnehmenden NOKs und deren Athletinnen und Athleten mit ihren zum Teil sehr gravierenden Verfehlungen wie verletzlich die Olympische Charta angesichts der weltweiten Konflikte geworden ist. Dies gilt vor allem für die politisch motivierte Kritik der US amerikanischen Anti-Dopingagentur an der Zulassung chinesischer Schwimmerinnen und Schwimmer für das olympische Schwimmturnier, die in ihrer Heuchelei wohl kaum zu übertreffen war, und die die Idee der Spiele erheblich verletzte.

Einmal mehr zeigte sich dies aber auch bei den Fällen der algerischen und taiwanesischen Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu Fing. Das Problem der Diskriminierung ist in diesen Tagen eher ein noch wachsendes Problem und wird derzeit von der Olympischen Bewegung nur sehr unbefriedigend gelöst.

Die von der Athletenkommission beklagten beleidigenden Kommentare und gezielten Beschimpfungen in den „Sozialen Medien“ müssen für das IOC ein Alarmsignal sein. Vom IOC muss in diesem Zusammenhang dringend erwartet werden, dass es sich bei tatsächlichen oder angeblichen Menschenrechtverletzungen (letzteres trifft wohl mit Sicherheit auf die Fehldeutung des antiken Festmahls durch christliche Eiferer zu), nicht nur entschuldigt, sondern die wirklichen Vergehen auch mit abschreckenden Sanktionen verfolgt. Es ist schon seit langem ein gravierendes Versäumnis des IOC, dass bei Verstößen gegen die Olympische Charta dringend notwendige Sanktionen nicht durchgesetzt werden.

In diesem Zusammenhang muss allerdings auch lobend erwähnt werden, dass das IOC mit seinem Präsidenten in den letzten drei Jahren auf eine Respektierung der Neutralität des IOC und dessen politische Unabhängigkeit bei seinen sportpolitischen Entscheidungen mit Nachdruck insistierte. Damit ermöglichte er nach einem sorgfältigen Überprüfungsverfahren den Start und die Teilnahme unschuldiger neutraler Athleten mit russischem oder belarussischem Pass bei den Spielen von Paris. Auch die erneute und sehr gelungene Teilnahme eines Refugee-Teams war ein großer sportpolitischer Erfolg des IOC.

Gewiss hat es während der Spiele den einen oder anderen Fauxpas gegeben, der möglichst zukünftig verhindert werden sollte. Dies gilt für den Fehler bei der Aufhängung der Olympischen Flagge gleichermaßen wie für die Verärgerung Südkoreas, das bei der Eröffnungsfeier mit dessen „Erzfeind“, der Volkrepublik Korea, verwechselt wurde.

Ärgerlicher als diese leicht verzeihlichen Fehler war hingegen das Verhalten einer kleinen Minderheit von Athletinnen und Athleten und deren Beschwerden über die Unterbringung im Athletendorf und das dort angebotene Essen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass eine wirkungsvolle „Olympische Erziehung“ für viele teilnehmende NOKs ein Fremdwort ist und das IOC- Projekt „Olympic Solidarity“ nicht in allen Bereichen erfolgreich ist. Berechtigter war wohl die Kritik an der Durchführung des Triathlon-Schwimmwettbewerbs in der Seine. Sollten hierbei tatsächlich gesundheitliche Beeinträchtigungen zurückgeblieben sein, so bedarf dies nach genauer Überprüfung einer Entschädigung für die Betroffenen. Das vom IOC ausgesprochene Lob für die Investition des Gastgeberlandes in Millionenhöhe zu Gunsten einer ökologischen Sanierung bleibt davon unberührt.

Was war die zentrale Botschaft der Spiele von Paris? Wie könnte sie für die zukünftigen Spiele lauten?

Nicht nur ich empfand es als einen gewichtigen Mangel, dass von den Spielen in Paris keine klare Botschaft an die Welt und vor allen auch an die politischen Repräsentanten staatlicher Politik ausgegangen ist. An dieser Stelle möchte ich im Sinne eines Exkurses die Meinung von Volker Kluge, dem wohl erfahrensten und mit dem umfangreichsten Wissen ausgestatteten deutschen Experten über Fragen zur Entwicklung der Olympischen Spiele, zu Wort kommen lassen. In einem Brief an mich schrieb er in diesen Tagen:

„Ich habe eine Botschaft vermisst, die von Paris ausgeht. Thomas Bach hat in den letzten Monaten zwar vielfach das Bild einer Brücke verwendet. Doch die „Brücke“ allein bedeutet noch gar nichts. Man muss über sie auch hinweggehen, um jedem NOK die ihm zustehenden Rechte gewährleisten zu können. Das verlangt aber vom IOC, sich jeder geopolitischen Auseinandersetzung zu verweigern. Wirklich neutral zu sein, egal wie heftig der Gegenwind weht. Eigentlich sollten doch die Boykotte von 1980 und 1984 Lektionen gewesen sein. Killanin und später Samaranch haben es damals einfach versäumt, die Olympische Charta bedingungslos durchzusetzen. Es kann nicht sein, dass sich die WADA – wie aktuell geschehen – sich erneut vom US-Kongress schulmeistern lässt“.

Während der Spiele wurde meines Erachtens die einzigartige Olympische Idee des „Friedens auf Zeit“ von der großen Mehrheit der teilnehmenden olympischen Athleten und Athletinnen durchaus in beachtlicher Weise in die Tat umgesetzt, doch das davon ausgehende Signal ist weder bei den sich selbst feiernden Zuschauer aus aller Welt noch bei den Politikern angekommen, die in diesen Tagen die unzähligen Kriege und Krisen zu verantworten haben. Es blieb deshalb ein sehr schwaches Signal, weil das IOC mit seinen französischen Organisatoren nicht mutig genug war, die eigentlich Schuldigen der vielen humanen Katastrophen beim Namen zu nennen, die tagtäglich tausenden unschuldigen Menschen das Leben kosten. Es ist aber auch deshalb ein schwaches Signal, weil die Kommunikationsabteilung des IOC sich immer nur am Rande mit der Friedensthematik beschäftigt und keine neuen Formen der Kommunikation gefunden hat, um diese Thematik während der Spiele an zentraler Stelle ihrer Tagesroutine zu bearbeiten.

Was ist das angemessene Olympische Sportprogramm für zukünftige Spiele?

Eine dritte wichtige Frage müsste erneut auf das olympische Sportprogramm ausgerichtet sein, und es müsste gefragt werden, ob dieses Programm noch zeitgemäß ist und ob nicht doch noch einmal einzelne Sportarten mit ihren Wettbewerben auf einen Prüfstand der Angemessenheit und Zukunftsfähigkeit zu stellen sind.

Es wird dabei gewiss nicht darum gehen, dass solche Sportarten gestrichen werden, die häufig mit dem Wörtchen „Rand“- versehen werden, nur damit das Sportprogramm „zeitgemäß“ wird. IOC- Präsident Thomas Bachs hat in seiner bisherigen Amtszeit zu Recht das Ziel verfolgt, nach neuen Wegen und Inhalten zu suchen, um junge Menschen auch zukünftig für die Olympischen Spiele zu begeistern. Ob aber der E-Sport dafür geeignet ist, ist mehr als fraglich. Dann dürften die Darts-Spieler nicht mehr weit sein. Außerdem sollte man bei jeder Programmreform nicht vergessen, dass das Alleinstellungsmerkmal der Olympischen Spiele auf seiner Tradition beruht, die bis in die Antike zurückreicht. Coubertin hatte sehr genau gewusst, was er damit erreichen wollte als er bei seiner Konzeptionierung der modernen Spiele sie unter diesen besonderen Mythos als Schutzschild stellte.

Oder anders gesagt: Man muss nicht jede Mode mitmachen. Es ist schon schlimm genug, dass viele – und vor allem auch viele Erwachsene – das iPad den ganzen Tag lang nicht weglegen können. Es gibt in Westeuropa doch schon genug Übergewichtige, während auf anderen Kontinenten Millionen Menschen kaum etwas zum Essen haben. Wie wäre es, wenn sich auch das IOC gemeinsam mit der WHO zur Verantwortung für die Gesundheit der Menschheit bekennen würde.

Meines Erachtens müsste ganz dringend das ständige Bemühen der bestehenden olympischen Sportarten gestoppt werden, ihr Wettkampfprogramm mit immer neuen Disziplinen noch zu erweitern. Eine Sportart wie die Leichtathletik darf in Zukunft nicht noch mehr Wettbewerbe aufweisen, in denen eine Goldmedaille gewonnen werden kann. Die bereits heute bestehende Anzahl an Disziplinen müsste dringend reduziert werden. Gleiches gilt für die hohe Zahl der Final- Entscheidungen im Schwimmen. Die neu hinzugekommenen Mixwettbewerbe sind durchaus zu begrüßen. Doch muss dann das IOC den Mut haben, bestehende Wettbewerbe zu kürzen oder auch ganz aufzugeben, um dem ungezügelten Wachstum des Sportartenangebots Einhalt zu gebieten.

Welche Ziele, mit welcher Größe und mit welchem Umfang sollen mit zukünftigen Olympischen Spielen verfolgt werden?

In Verbindung mit der zweiten Frage muss einmal mehr die Frage nach dem eigentlichen Ziel der Spiele und damit auch nach der angemessenen Größe zukünftiger Olympischer Spiele gestellt sein, die angesichts der wohl kaum übersehbaren Organisationsprobleme bei den Spielen in einer Welt- Metropole wie Paris dringend auf neue Antworten und Lösungen wartet.

Nach den wenigen geruhsameren ersten Tagen der Pariser Spiele hat an den folgenden Tagen das Ausmaß der täglichen Wettkampfprogramme in einer Weise zugenommen, dass diese völlig unübersichtlich geworden sind und nur noch mit den bereitgestellten digitalen Medien gemeistert werden können. Durch die Gleichzeitigkeit viel zu vieler Ereignisse, die durch die Erweiterung der Spiele und damit des Wettkampfangebotes auch zu einer erheblichen Steigerung der Zuschauerzahlen führten, wurde das damit verbundene Unterbringungs- und Transportproblem in Paris nahezu unlösbar gemacht. In der Folge gab es täglich Klagen über die viel zu langen Anfahrtszeiten zu den Sportstätten, über das allgemeine „Transport- und Verkehrschaos“, über ständige Kommunikationspannen etc., die aus der Sicht der Verantwortlichen übertrieben sein mögen. Man sollte vielleicht als Gast gegenüber dem Gastgeber in der Tat auch etwas mehr Verständnis aufbringen, obwohl auch dann die erheblichen Organisationsprobleme der Spiele weiterhin bestehen bleiben.

In Paris gab es viel zu viele Volontäre, die ohne spezielle Vorbereitung mit ihrer Aufgabe völlig überfordert waren. Die große Mehrheit der Fahrer, die aus ganz Frankreich angeworben waren, standen mit ihren Fahrzeugen und Transportmitteln den Gästen wohl meist sehr ausreichend zur Verfügung, sie wurden jedoch nur sehr unzureichend in das schwierige Verkehrssystem der Metropole Paris eingeführt. Ein vorbereitendes „Training“ mit den mit modernen digitalen Technologien ausgestatteten Fahrzeugen, so beklagten es zumindest viele Fahrer, hat es nicht gegeben. Ebenso wurden sie nicht in die Navigationssysteme eingewiesen. Allein deshalb ist an vielen Wettkampfstätten das vorgesehene Abholsystem mit PKWs und Bussen nahezu kollabiert und man musste mit langen Wartezeiten rechnen, was dazu führte, dass man eingeplante Aufenthalte bei Wettkämpfen in verschiedenen Sportarten am selben Tag oft versäumte oder dass man ganz darauf verzichten musste. Insbesondere für die Verantwortlichen aus den Sportorganisationen ist es angesichts dieses Transportproblems nahezu unmöglich, terminliche Verpflichtungen einzuhalten und wahrzunehmen. Allein die beiden hier beschriebenen Probleme legen es nahe, dass die für die Olympischen Spiele verantwortlichen Funktionäre im IOC sich möglichst schnell an eine Überarbeitung der bisherigen Reformen machen und dabei für die jeweiligen Wettkampftage vor allem Obergrenzen für die Anzahl der Wettbewerbe definieren. Will man die Anzahl der Olympischen Sportarten und die dabei in diesen Sportarten stattfindenden Wettkämpfe nicht reduzieren, was allerdings zwingend zu empfehlen wäre, so wäre vermutlich sogar eine Verlängerung und damit eine gewisse Entzerrung der Spiele sinnvoller als der aktuelle Zustand, der durch die völlige Überlastung und Überladung des Programms entstanden ist.

Die Agenda 2020 und 2020 +5 hat dazu geführt, dass die zukünftigen Spiele nicht notwendigerweise oder gar zwingend in einem „Olympischen Park“ ausgerichtet werden müssen, in dem man kurze Wege von einer Wettkampfstätte zur anderen hat. Olympische Spiele in der Organisationsform wie die von London 2012 oder auch jene von München 1972 gehören der Vergangenheit an. Sie können nicht der Orientierungspunkt für die zukünftige Entwicklung sein und sie sollten deshalb auch nicht ständig zum Vergleich herangezogen werden. Es bedarf neuer Lösungen, wenn man auch künftig weiterhin mit temporären Sportstätten arbeiten will, wie dies in Paris der Fall war, und wenn auch mehrere Städte eines Landes gleichzeitig Ausrichter der Spiele sein können.

Auch für mich ist es gewöhnungsbedürftig, dass ich nicht mehr bei allen Sportarten und bei möglichst vielen Wettkämpfen dabei sein kann, wie dies bei früheren Spielen der Fall war. Bei den Spielen 2024 gab es sogar eine Wettkampfstätte auf Tahiti. Ebenso gab es Wettkämpfe in Lille, Bordeaux und Marseille etc. Denkt man an die Pläne einer deutschen Bewerbung, so könnten es somit auch gleich mehrere deutsche Städte sein, die sich gemeinsam um die Ausrichtung Olympischer Spiele bewerben. Diese Konzeption zukünftiger Spiele ist meines Erachtens richtungsweisend und sinnvoll, doch sie bedarf deshalb auch noch entschiedeneren Reformen, die sofort nach Beendigung der Spiele in Paris angegangen werden sollten.

Ziel dieser Reform muss es sein, möglichst die „Einheit der Spiele“ zu erhalten was vor allem auch bedeuten muss, dass es dringend neuer Überlegungen bedarf wie auch zukünftig die „Einheit des Athletendorfs“ erhalten werden kann. Meines Erachtens muss hierzu die zukünftig erlaubte Dezentralisierung auf maximal drei Standorte reduziert werden. Diese müssen an die Bedingungen geknüpft werden, dass sie über eine definierte maximale Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr schnell erreichbar sind und dass jede teilnehmende Athletin und jeder teilnehmende Athlet im zentralen Athletendorf wohnen darf und kann. Kurzfristig geöffnete Dependancen des Athletendorfs sind möglicherweise notwendig. Doch sollten sie die Ausnahme sein. Die Gewährung eines zentralen Athletendorfs muss vielmehr notwendige Bedingung zukünftiger Spiele sein.

Welche Formen des Nationalismus sind bei Olympischen Spielen erwünscht?

Die Spiele von Paris werfen vor allem auch die Frage auf, welche Formen des Nationalismus bei zukünftigen Olympischen Spielen erwünscht sind. Jede Form von Nationalismus bei Olympischen Spielen bedeutet eine politische Instrumentalisierung der Spiele und stellt in gewisser Weise immer auch eine Gefahr für die politische Autonomie und für die politische Neutralität des modernen Olympismus dar, dessen Schutz jedoch allerhöchste Priorität für die Verantwortlichen der Olympischen Spiele haben muss. Die Gefahr bei Olympischen Spielen besteht schon immer darin, dass sie politisch missbraucht werden. Das Geltungsbedürfnis und das Machtgebaren von Politikern können den eigentlichen Sinn der Spiele, das friedliche Zusammentreffen der Athletinnen und Athleten aus allen Ländern der Welt, in den Hintergrund treten lassen. In Paris war dies zumindest an einigen Tagen und in manchen Bereichen der Fall.

Ist eine Entnationalisierung der Spiele möglich?

Grundsätzlich wäre ein Verzicht auf jegliche nationale Symbolik bei Olympischen Spielen heute dringender denn je, auch wenn die große Mehrheit der Pragmatiker in den Reihen des IOC dies als utopisch bezeichnet und für nicht realisierbar hält. Spiele ohne Nationalflaggen, ohne Nationen- Wertungen, ohne alle übrigen nationalen Embleme, ohne nationale Begegnungsstätten – Spiele also, bei denen sich Sportlerinnen und Sportler als Weltbürgerinnen und Weltbürger zum Olympischen Vergleich treffen und dabei auf der Grundlage einer universalistischen Ethik eine Weltgemeinschaft bilden, die vor allem dem selbst geforderten Friedensanspruch glaubwürdig gerecht würde, mögen von der großen Mehrheit der Pragmatiker als eine Utopie belächelt werden. Doch sei daran erinnert, dass Pierre de Coubertin ein Visionär war, ohne dessen Visionen der moderne Olympismus nicht möglich gewesen wäre.
Meines Erachtens ist eine Ausrichtung der Olympischen Spiele auf „Spiele von Welt-Bürgern“, die auf jeglichen Nationalismus verzichten wollen, durchaus ein Weg, der vom IOC begangen werden kann, wenn es über den Mut zu den ersten Schritten verfügt und wenn man weiß, welche Etappen auf diesem gewiss sehr langen Weg zu beachten sind. Dies bedarf jedoch einer durchaus sehr anstrengenden und manchmal auch unangenehmen Denkarbeit, also auch gewisser theoretischer Reflexionen, die man in eine eigene und neue Praxis überführen möchte.

Es gibt gute Gründe, die gegen den von mir vorgeschlagenen Weg der „Entnationalisierung“ sprechen. Volker Kluge meint beispielsweise, dass man mit dem Wegfall der Nationalflaggen und -symbole (ein Vorschlag, der bereits 1968 im IOC diskutiert aber abgelehnt wurde), vor allem jene bestrafen würde, die nicht über die große TV-Präsenz verfügen wie die Profi-Spielsportarten. „Weniger populäre Sportarten (wie Kanu, Ringen, Gewichtheben, Judo, Fechten usw.) könnten doch schon heute ohne die finanziellen Zuschüsse des IOC kaum noch existieren. Er stellt die Frage, warum sich Regierungen, vor allem die ärmeren Länder, für eine Olympia-Delegation engagieren sollen, wenn anschließend nicht einmal mehr ihre Fahne gezeigt werden kann? Am Tropf staatlicher Haushalte hängen ja fast sämtliche teilnehmende NOKs. Der DOSB macht diesbezüglich keine Ausnahme“, so Volker Kluge.

Das Prinzip der Subsidiarität zwischen den Staaten und den Organisationen des Sports ist für die Weiterentwicklung der Modernen Olympischen Spiele mit einem Friedensauftrag ganz ohne Zweifel unverzichtbar. Doch meines Erachtens benötigt man hierfür eine völlig neue inhaltliche Definition und Interpretation dieses Prinzips, soll der Friedensauftrag auch zukünftig erhalten bleiben. Es bedarf eines Lernprozesses und der Einsicht der Staaten und deren verantwortlichen Politiker, sich jeglicher nationaler Inanspruchnahme zu enthalten, die Spiele aber gerade deswegen dennoch subsidiär zu unterstützen. Dies bedarf einer langfristigen und schwierigen Überzeugungsarbeit. Leider hat das IOC bis heute diesbezüglich noch keine erkennbaren und wirkungsvollen Anstöße gegeben und auch den Weg zu einer neuen Vereinbarung noch nicht eröffnet.

Neben dieser sehr grundsätzlichen und äußerst weitreichenden Reform legen die Spiele von Paris auch eine Reihe von kleineren Reformen zur Entnationalisierung und damit zur vermehrten „Internationalisierung der Spiele“ nahe.

Von einer Olympiade zur nächsten ist die Anzahl der „Hospitality Locations“ der teilnehmenden Nationen in den vergangenen Jahrzehnten ständig angewachsen. Waren es anfangs nur das „Casa Italia“, das „Deutsche Haus“ und Begegnungsstätten der US- Amerikaner, der Kanadier, der Schweizer, Österreicher oder Australier so waren es in Paris bereits mehr als 50 nationale Häuser, die neben dem Olympischen Dorf in der Gastgeberstadt betrieben wurden. Ist das Olympische Dorf konstitutiv auch für zukünftige Spiele, so könnte man meiner Meinung nach auf sämtliche nationale Häuser gut und gerne verzichten.

Exkurs: Auf Besuch im Deutschen Haus während der Spiele in Paris

Das deutsche Haus ist in jeder Hinsicht eine große Überraschung. Waren es früher bei den Olympischen Spielen Restaurants, Clubhäuser oder auch eine deutsche Schule, die für die Zeit der Olympischen Spiele zu „deutschen Häusern“ umgestaltet wurden, so ist es in Paris ein ganzes Rugby Stadion, das von der deutschen Sport Marketing (DSM) im Auftrag des DOSB angemietet wurde, um den Athletinnen und Athleten, den Gästen der Sponsoren und den deutschen Medienvertretern eine „kleine Heimstatt“ zu bieten, in der die Gäste sich abends ab 16:00 Uhr nach ihren Wettkämpfen bei gutem Essen und unterschiedlichen Unterhaltungsangeboten von ihren Tagesstrapazen entspannen können. Angesichts der Größe des Rugby-Stadions, das zwischen dem berühmten Fußballstadion des „Prinzen Parks“, wo Mbappe und Neymar zu Hause waren, und dem berühmten Tennisstadion „Roland Garros“ liegt, in dem Nadal 14 mal als Held von Paris gefeiert wurde, und angesichts des Angebots, des Aufwands und der Kosten, die diese drei Wochen der deutschen „Gastfreundschaft“ in Paris bedeuten, kann mit Blick auf den Medaillenspiegel meine Verwunderung wohl kaum überraschen. Dem Schreiber dieser Zeilen war es vergönnt, seit Barcelona im Jahr 1992 bis heute sämtliche Olympische Spiele zu besuchen und dabei immer auch Gast in den deutschen Häusern zu sein.

Diese Häuser wurden von Olympiade zu Olympiade immer größer, doch gleichzeitig wurden die sportlichen Erfolge der deutschen Olympiamannschaft immer kleiner. Die Frage ist nahe liegend, ob sich uns dabei einmal mehr ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft zeigt, in der immer mehr Ansprüche und Eigeninteressen artikuliert werden und die Konsumgewohnheiten ständig gesteigert und teilweise auch immer luxuriöser werden, gleichzeitig jedoch immer häufiger eine Infragestellung des Leistungsprinzips zu beobachten ist, was zur Folge hat, dass sich die allgemeine ökonomische Lage immer häufiger als krisenhaft erweist. Für die Weiterentwicklung des deutschen Hochleistungssports kann dies sehr folgenreich sein.

Das Problem der nationalen Gästehäuser muss meines Erachtens darin gesehen werden, dass mit jedem neuen Gästehaus sowohl das Verkehrsproblem als auch das Sicherheitsproblem zukünftiger Spiele anwächst. Hinzukommt, dass die Gästehäuser einen Beitrag zu einer völlig unnötigen Nationalisierung der Spiele leisten, indem sich die teilnehmenden Nationen in vertrauter, heimischer Umgebung, was das Catering betrifft, Abend für Abend treffen. Dabei werden sie bewacht von eigenem Sicherheitspersonal und chauffiert von Fahrern der eigenen Nation mit Fahrzeugen aus dem eigenen Herkunftsland. Unter kulturellen Gesichtspunkten kann man dies durchaus als ein Affront gegenüber dem französischen Gastgeber verstehen. Doch sollte zumindest erkannt werden, dass all jene Leute die sich in den Gästehäusern Abend für Abend bewirten lassen, sich in dieser Zeit einer Begegnung mit den französischen Gastgebern und deren Alltagskultur entziehen. Ich bin mir sicher, dass sich nicht nur Coubertin über solch ein Verhalten empört hätte.

In die Kritik der nationalen Gästehäuser muss auch die zunehmende Zahl der Begegnungsstätten einbezogen werden, die während der Spiele von Sponsoren zu Gunsten eingeladener Gäste bewirtschaftet werden. Auch diese Häuser benötigen teilweise ihr eigenes Sicherheitspersonal und bieten eigene Fahrdienste an. Sie haben wohl den Vorteil, dass sie meist international ausgerichtet sind, doch tragen sie ebenfalls zu dem ungezügelten Wachstum der Sicherheits- und Organisationsprobleme der Spiele bei und sind für die Durchführung zukünftiger Olympischer Spiele wohl kaum eine existenzielle Notwendigkeit.

Was ist das angemessene kommerzielle Erscheinungsbild der Spiele?

Neben der „Entpolitisierung“ stellt sich auch Frage nach dem angemessenen kommerziellen Erscheinungsbild der Spiele. Paris hat gezeigt, dass die Gefahr einer exzessiven Inanspruchnahme der Spiele durch die Tourismusindustrie wohl seit den Spielen von Barcelona 1992 besteht, doch war sie noch nie so groß wie in Paris, obgleich diese Stadt am wenigsten auf Tourismuswerbung angewiesen ist. An dieser Stelle soll noch einmal die Meinung von Volker Kluge zu Wort kommen. Meine Korrespondenz mit Ihm empfinde ich für mich als eine große Bereicherung:

„Spätestens seit Barcelona 1992, das mit seiner kulturvollen Eröffnung (Montserrat Caballé, Josep Carreras, Placido Domingo, Joan Pons, Jaume Arragall, Teresa Berganza u.a.) Maßstäbe setzte, werden die Spiele als „Stadt-Marketing“ instrumentalisiert. Das begann – ebenso wie bei den anderen Kandidaten – bereits in der Bewerbungsphase. Paris 2024 ist in dieser Hinsicht ein neuer Höhepunkt, obwohl gerade diese Stadt keine Marketing-Kampagne nötig hat. Welche Folgen solche Kampagnen haben, erleben wir gegenwärtig z. B. in Venedig, Mallorca, Dubrovnik und auch in Barcelona, wo die Einwohner beginnen, sich gegen die Pauschal-Touristenströme zu wehren. Will sagen: Kriege werden gegenwärtig nicht nur durch Drohnen und Raketen entschieden, sondern auch durch TV-Übertragungen. Schreckliche Bilder ersetzen jeden Kommentar. Aber auch schöne Bilder bringen nicht nur Gutes, zumindest wenn ich an die Menschenmassen denke, die manche Städte und manche Regionen förmlich überschwemmen. Auch die Olympische Bewegung muss aufpassen, dass sie nicht in diese „Touristenfalle“ tappt. Dabei sein, ist eben n i c h t alles! Wer das glaubt, braucht sich nicht über die Preise der Eintrittskarten und Unterkünfte in Paris zu wundern, die einfach unanständig sind, wie mir mein Kollege Gunnar Meinhardt („Die Welt“ berichtete). Das IOC und die OKs sollten sich überlegen, wie man diesem Wucher Einhalt gebieten kann, den man auch nicht mit Marktwirtschaft erklären kann. Das Mindeste wäre eine Preis-Obergrenze und die Möglichkeit, nachträglich nach Überprüfung der Bedingungen Rückzahlungen zu verlangen. Es kann aber auch nicht sein, dass sich zukünftig nur noch die „Reichen und die Schönen“ den Besuch der Olympischen Spiele leisten können. Dem „Rest“ bleibt nicht einmal ein Stehplatz an der Seine“.

Muss die Rolle der zukünftigen Ausrichter neu definiert werden?

Das IOC muss sich auch die Frage stellen, welche Rolle die Ausrichter von zukünftigen Olympischen Spielen bei der Planung, Gestaltung und Durchführung dieser Spiele einnehmen sollen. Das Bedürfnis der Ausrichter zukünftiger Olympischer Spiele, sich durch die Spiele international darzustellen und zu repräsentieren, ist durchaus nachvollziehbar und eine gewisse Befriedigung dieses Bedürfnisses wird allein auch wegen der Finanzierung zukünftiger Spiele eine grundlegende Bedingung darstellen.
Dennoch stellt sich nach den Beobachtungen der Spiele von Paris die Frage, wo und wie die Grenzen für diese Darstellung zu setzen sind. Meines Erachtens ist es dringend angeraten, dass der nationalistische und kommerzielle Steigerungs-Imperativ der Olympischen Spiele („besser“, „mehr“, „großartiger“) gerade in dieser Frage durch den von Thomas Bach eingeführten neuen „Imperativ der Solidarität“, der dem eigentlichen Olympischen Motto hinzugefügt wurde, ergänzt wird und alles dafür getan werden muss, dass angesichts der weltweit zu beobachtenden und ständig anwachsenden politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme die Ausrichtung der Spiele nicht als Überbietungswettbewerb von Nationen verstanden wird. Sie sollten vielmehr auf „Spiele der Bescheidenheit und des Selbstverzichts“ ausgerichtet werden.
Der Dauerregen bei der Eröffnungsfeier der Spiele von Paris 2024 sollte durchaus auch als ein symbolisches Signal verstanden werden, bei dem einem Ausrichter in gewisser Weise die „gelbe Karte“ gezeigt wurde, wenn dessen Bemühen um eine nationalistische Selbstdarstellung Grenzen überschreitet und die im Sinne der Olympischen Charta und deren wünschenswerter Welt-Gesellschaft wohl kaum als sinnvoll und weiterführend erachtet werden können.
In mehreren Nationen ist in diesen Tagen neo- kolonialistisches und imperialistisches Gedankengut wieder- oder neu erwacht, dem sich die olympische Bewegung in aller Entschiedenheit entgegen stellen muss.
Der Ehrgeiz in allem der beste zu sein, kann sehr schnell dazu führen, dass man dabei seine eigenen Schwächen übersieht, dass alle Bemühungen auf Außenwirkung ausgerichtet sind und dass die innenpolitischen Probleme des Gastgeberlandes von den politisch Verantwortlichen nicht beachtet werden. Ein hoch verschuldetes Land lädt dabei durch die Ausrichtung der Olympischen Spiele neue Schulden auf seine Schultern, ohne Rücksicht auf die große Mehrheit seiner Bevölkerung zu nehmen. Dieser muss jedoch eine Beteiligung an Olympischen Spielen vor Ort allein angesichts der viel zu hohen Eintrittspreise bei fast allen olympischen Veranstaltungen und Wettbewerben als eine Utopie erscheinen. Die Tage von Paris haben uns diesen Widerspruch sehr deutlich vor Augen geführt und nicht nur die Einwohner der Vororte von Paris haben die Spiele als eine Veranstaltung der Privilegierten und der Reichen wahrgenommen bei denen die sozial benachteiligten unteren Schichten ausgeschlossen waren. Das IOC wäre gut beraten, seine zukünftigen Ausrichter von Spielen einer noch intensiveren ständigen begleitenden Evaluierung zu unterziehen und es sollte auch bereits im Vorfeld der Spiele jede Form von chauvinistischer und nationalegoistischer Ausbeutung unterbunden und verhindert werden.

Wie sollten zukünftig Eröffnungs- und Schlussfeiern gestaltet werden?

Eine weitere Frage ist auf die Zukunft der Eröffnungs- und Abschlussfeier gerichtet. Auch wenn die Eröffnungsveranstaltung von Paris teilweise überschwänglich gelobt wurde, so war sie in Inhalt und Form dennoch diskussionswürdig. Einzelne Szenen waren zumindest erklärungsbedürftig. Als jemand, der nunmehr sämtliche Olympischen Spiele in den vergangenen 30 Jahren besuchen durfte und dabei auch das besondere Privileg hatte, die jeweils außergewöhnlichen Eröffnungen der Spiele mitzuerleben, die von herausragenden Theaterregisseuren und Künstlern und deren kreativen Ideen geprägt waren, stellt sich nach der Eröffnungsfeier von Paris intensiver denn je die Frage, ob das derzeit vorgeschriebene Konzept der Eröffnungsfeier zukünftig noch tragfähig ist. Unter künstlerischen Gesichtspunkten war diese Eröffnungsfeier wohl eine der außergewöhnlichsten, die ich habe sehen dürfen.

Dem Regisseur Thomas Jolly gebührt höchste Anerkennung. Kurzweiliger lässt sich wohl der bei früheren Eröffnungsveranstaltungen viel zu langatmige Einzug der Athletinnen und Athleten aus mehr als 200 Nationen wohl kaum gestalten. Jede einzelne Einlage war spektakulär, hatte außergewöhnlichen Unterhaltungswert und oft auch einen historischen Bezug und eine spezifische Bedeutung, die allerdings für manchen Beobachter nicht nur erklärungsbedürftig waren. So u.a. das umstrittene Festmahl einer antiken Gottheit, das allerdings von Kirchenvertretern wie z.B. dem Kurienkardinal Paglia mit dem christlichen Abendmahl verwechselt und deshalb als „blasphemische Verspottung eines der heiligsten Momente des Christentums“ wahrgenommen wurde; aber auch viele Politiker haben sich hierzu mit kritischen Ausführungen zu Wort gemeldet. Inzwischen hat sich das IOC in einer offiziellen Stellungnahme auf X indirekt für etwaige Beleidigungen bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele entschuldigt.

Für den Zuschauer „vor Ort“, der möglicherweise sich ein teures Ticket gekauft hatte oder der – privilegiert wie ich – auf der Tribüne der eingeladenen Gäste Platz nehmen konnte, war diese Show allerdings auch unabhängig davon mit durchaus zwiespältigen Gefühlen verbunden. Die Inszenierung der Eröffnungsfeier war nahezu ausschließlich den Interessen der Fernsehzuschauer geschuldet, die Zuschauer „vor Ort“ waren dabei lediglich Staffage. Sie waren in der großen Mehrheit mit der ihnen zugewiesen Rolle, zu der sie kein Einverständnis erklärt hatten, meist sehr unzufrieden. Dies war nicht dem Dauerregen zuzuschreiben, der als außergewöhnliche Belastung für die anwesenden Gäste noch hinzugekommen ist. Die wohl in allen Welt-Metropolen anzutreffenden übergroßen Sicherheitsprobleme hatten es für die Zuschauer notwendig gemacht, dass sie sich bereits am frühen Nachmittag auf den Weg zu machen hatten, um auf abgesicherten Routen, begleitet von Polizei und Militär, den historischen Trocadero-Platz von Paris zu erreichen, der mit dem Eiffelturm das Zentrum der Eröffnungsfeier bildete. Die Eröffnungsfeier selbst dauerte fünfeinhalb Stunden, und so waren die Zuschauer in der Regel von 15:00 Uhr bis um 1:00 Uhr in der Nacht unterwegs, um sich das besondere Vergnügen einer Olympischen Eröffnungsfeier zu gönnen.

Die zehnstündige Gesamtdauer dieses Vorhabens ist in jeder Hinsicht nicht mehr zeitgemäß und hat meines Erachtens auch keine Zukunft. Insbesondere dann nicht, wenn die TV- Interessen höher gewichtet werden als die Interessen der Zuschauer „vor Ort“. Man muss davon ausgehen, dass immer mehr Menschen sich nicht zu einer Staffage einer Fernsehshow degradieren lassen möchten und dabei auch noch überhöhte Eintrittspreise zu bezahlen haben. Deswegen wird vermutlich die Zukunft der Eröffnungsfeier in einer TV- Produktion ohne Zuschauer zu suchen sein. KI erzeugte Algorithmen werden dafür sorgen, dass der TV- Zuschauer das Gefühl hat, dass tatsächlich auch Zuschauer bei diesem Ereignis „vor Ort“ anwesend sind.

Befindet sich das IOC in der Gefahr sich zu überfordern?

Für mich hatte nicht nur die verregnete Eröffnungsfeier und die meines Erachtens misslungene Schlussfeier die von mir beschriebene besondere symbolische Bedeutung eines Warnsignals. Die Spiele von Paris sollten vielmehr in ihrer Gesamtheit trotz ihrer außergewöhnlichen Schönheit, trotz des vermutlich einmaligen Publikumserfolges und trotz des kaum noch zu überbietenden ökonomischen und massenmedialen Erfolges als ein Signal verstanden werden, das einen gewissen Alarmcharakter besitzen muss. Mit dem Vorzeigeprojekt der franz. Organisatoren, der „Seine als Wettkampfstätte für Triathleten“ und das Freiwasserschwimmen ertönte das Signal zunächst nur in leisen Tönen. Doch das Gerangel um die Wasser-Qualität der Seine kann durchaus als eine Blamage zu Lasten der Organisatoren gedeutet werden. Für Volker Kluge ist diese Fehlleistung ein Hinweis auf ein sehr viel weiterführendes Signal, das von den Pariser Spielen ausgehen sollte. Nach seiner muss das IOC aufpassen, dass es sich nicht mit der Vielzahl der vom IOC bearbeiteten Projekte übernimmt, die sich meist als sehr schwierige „Baustellen“ erweisen (Weltfrieden, Menschenrechte, Inklusion, Gleichberechtigung, Ökologie, LGBTQIA+, Parasport, Solidarität, E-Sport). Auch ich sehe in zu vielen Projekten, die meist gleichzeitig zu bearbeiten sind und sich dabei als äußerst komplex erweisen, die derzeit größte Gefahr für das IOC.

„Lausanne“ kann weder für alles Gute, noch für alles Schlechte in der Welt verantwortlich und zuständig sein. Kluge fügt hinzu: „Es zeugt von Unkenntnis, wenn – wie in einer Dauerschleife beteuert wird –, dass sich Coubertin im Grabe umdrehen würde, wenn er wüsste, was aus seinen Spielen geworden ist. Eher würde er wohl vor Freude an die Decke springen. Denn dreißig Jahre lang bezahlte er das IOC aus eigener Tasche, um dann 1937 mittellos zu sterben. Dass die Spiele einmal so bedeutend werden würden, konnte er nicht einmal erahnen. Doch leider nahm der IOC-Gründer im Programm der Eröffnungsveranstaltung keinen würdigen Platz ein“.

Wer sich den Ideen des modernen Olympismus verpflichtet fühlt, der kann den Beobachtungen von Volker Kluge wohl kaum widersprechen und muss die Sorge teilen, die dieser in Bezug auf die weitere Kommerzialisierung hat. In ihr sieht er die größte Gefahr für die Zukunft der Spiele:

“Der Beschluss von World Athletics, einen Olympiasieg mit 50.000 USD zu belohnen, mag zwar einzelne Athleten erfreuen, aber für die Olympische Bewegung als Ganzes ist das eine Hiobsbotschaft, weil damit die Maßstäbe verzerrt werden. Was erhält beispielsweise der Erste im Fechten oder der Beste im Kanuslalom? Wieviel Prozent vom Preisgeld gehen an den ersten ehrenamtlichen Übungsleiter oder den Entdecker des Athleten? Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass irgendwann auch der Ruf folgen wird, an den olympischen Sportstätten die Bandenwerbung einzuführen und den Athleten die Trikot-Vermarktung zu gestatten. Bevor es dazu kommt, muss das IOC einer Entwicklung hin zum gewöhnlichen Berufssport unbedingt einen Riegel vorschieben.“

Für mich stellt sich dabei jedoch vor allem die Frage, ob die zukünftige Führung des IOC die Notwendigkeit dieses „Riegels“ erkennt und bereit ist, ihn auch zu benützen. Mit der klugen und konsequenten Entscheidung von IOC- Präsident Thomas Bach nach seiner äußerst erfolgreichen zwölfjährigen Tätigkeit als IOC- Präsident sein Amt gemäß der Regeln der Olympischen Charta an einen Nachfolger oder an eine Nachfolgerin zu übergeben, ist für das IOC eine äußerst kritische Situation entstanden.

An Bachs außergewöhnlichen Fähigkeiten, an seiner ständigen Fürsorge für die olympischen Athletinnen und Athleten, an seiner sportfachlichen, sportpolitischen, ökonomischen, medienpolitischen und juristischen Kompetenz, an seiner Allgemeinbildung und seinem diplomatischen Geschick und nicht zuletzt an seinem Wissen über die Maximen des modernen Olympismus muss die Auswahl des Kandidaten ausgerichtet sein, der in seiner Nachfolge über die notwendige Willensstärke und Kompetenz verfügt, mit dem in vielen Bereichen dringend erforderlichen „Riegel“ erfolgreich zu arbeiten.

Quelle: Prof. Dr. Helmut Digel
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Sportwissenschaft
Wilhelmstr. 124 – 72074 Tübingen – Germany
Mobil: +49 162 2903512
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Letzte Bearbeitung: 22. August 2024

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich, weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
² Siehe: https://olympics.com/ioc/documents/international-olympic-committee/olympic-agenda-2020
³ Siehe: https://olympics.com/ioc/documents/international-olympic-committee/olympic-agenda-2020-plus-5

 

 

 

Zur Bedeutung Europas für die Entwicklung der modernen Olympischen Spiele – Teil II – sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel

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