Die Paralympics sind dabei, ihren Platz im Leistungssport zu finden. Das zeigen die 1000 Dopingkontrollen von Peking – ein Rekord. Das zeigt auch der Medaillenspiegel.
Paralympics – So war’s in Peking – Annette Kögel und Benedikt Voigt, Peking im Tagesspiegel – Heute gehen in Peking die Paralympics zu Ende. Hier stellen wir zum Abschluss deutsche Athleten und ihre Geschichten vor – Sport mit Leistung Annette Kögel zieht eine Bilanz der Paralympics in Peking
Die Paralympics gehen zu Ende. Deutschland gehört zu den erfolgreichsten Teilnehmern der Spiele. Alle Sportler haben außergewöhniches erlebt – einige stellen wir Ihnen vor: Ein 68-Jähriger ohne Handy, ein Weitspringer mit gebrochenem Fuß – sechs Athleten und ihre ganz persönliche Paralympics-Geschichte.
Wojtek Czyz: Er wusste, dass er nur einen einzigen Versuch haben würde. „Mein Fuß hält nur für einen richtig guten Sprung“, sagte der Weitspringer, „und das musste der erste sein.“ Der Sprung war perfekt: 6,50 Meter, Weltrekord, Goldmedaille. Und das mit Mittelfußbruch. Als eine Stunde später die deutsche Nationalhymne für ihn ertönte, kämpfte der 28-Jährige mit den Tränen. Zwar hatte er schon in Athen dreimal Gold gewonnen, doch diesmal hatte der Oberschenkelamputierte auch noch zahlreichen widrigen und belastenden Umständen trotzen müssen. „Das war vielleicht das wertvollste Gold“, sagte er.
Nach zwei Operationen am amputierten Beinstumpf und am Kiefer hatte er das Pfeiffersche Drüsenfieber bekommen. Dann erkrankte auch noch sein Vater schwer. Zuletzt kam noch der Ermüdungsbruch im rechten Fuß hinzu. In Athen war er nach seinem dreifachen Erfolg zum Star aufgestiegen. Zu seinem Ruhm trug auch bei, dass ihn der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder begeistert umarmte. Gestern sagte Wojtek Czyz: „Wenn der liebe Gerd hier gewesen wäre, hätten wir uns wieder umarmt.“
Harald Wimmer: Es ist in diesen Tagen nicht einfach, Harald Wimmer zu erreichen. Seit sein Ruderwettbewerb vorbei ist, tourt der ehemalige Polizist durch die chinesische Hauptstadt – und kann telefonisch nicht gesprochen werden. „Er hat kein Handy, er hat auch kein Internet“, sagt seine Trainerin Petra Kalix, „was denken Sie, der Mann ist 68 Jahre alt.“ Harald Wimmer war der älteste männliche Teilnehmer in Peking. Seit er wusste, dass er im TA-Mixed-Doppelzweier an den Start gehen würde, wiederholte er öfter den Scherz: „Peking hat die Jugend der Welt gerufen – und mich bekommen.“
Mit seiner 38 Jahre jüngeren Bootspartnerin Siglind Köhler fuhr er schließlich im B-Finale auf Platz drei und war zufrieden. „Es ist eine unglaubliches Gefühl, hier zu starten“, sagte er. Harald Wimmer, der seit 1987 im Rollstuhl sitzt, weil seine Knie nach mehreren Operationen kaputt sind, ist zwar 1966 Deutscher Meister im Leichtgewichtsachter geworden. Trotzdem sagt er: „Ich habe noch nie so hart trainiert.“ Weil er das Internet nicht nutzt, tauchte ein ungewöhnliches Problem auf. „Die Nada ist überhaupt nicht begeistert“, sagt Petra Kalix. Die Nationale Antidoping-Agentur verlangt von den Athleten ständig Meldung darüber, wo sie sich gerade aufhalten. Diese muss im Internet abgegeben werden. Petra Kalix erklärt: „Siglind Köhler und ich müssen das für ihn erledigen.“
Edina Anita Müller: Vor kurzem hat Edina Anita Müller mit ihren Gegnerinnen noch gemeinsam trainiert, jetzt trat sie auf dem Feld sogar gegen ihre ehemalige Trainerin Patty Cisneros an: Die 25 Jahre alte Rollstuhlbasketballerin vom ASV Bonn, bis vor kurzem für zwei Jahre in Illinois zu Hause, spielte im Finale gegen die USA. Sie verlor zwar, hält aber ihre erste Paralympics-Medaille stolz in die Kameras. Sie hat schon andere Auszeichnungen erworben, etwa beim ersten Modelwettbewerb für Menschen mit Behinderungen. Sie war als 16-Jährige wegen Rückenschmerzen zum Arzt gegangen, ein Blutschwamm am Rückenmark wurde als Ursache erkannt.
Beim „Einrenken“, wie sie sagt, erlitt sie die Rückenmarksverletzung. Die furchtbaren ersten Jahre danach sind lange überstanden, es trifft sie nicht mehr, dass einige Mannschaftskolleginnen als „Fußgängerinnen“ nach dem Spiel einfach aus dem Rollstuhl aufstehen. Mit den „Fighting Illini Wheelchair Basketball Women“ wurde sie schließlich zweimal amerikanischer Champion. Nun zieht sie nach Köln, um Heil- und Rehapädagogik zu studieren.
Jochen Wollmert: Darauf ist Jochen Wollmert wirklich stolz: „Besser als Timo Boll“, titelten die deutschen Blätter. Der 43 Jahre alte Tischtennisspieler hat in der Klasse 7 der leichter Behinderten Gold geholt. Und das im chinesischen Nationalsport, und auch noch gegen den Chinesen Chaoqun Ye. In China sprechen die Leute ihn jetzt ständig auf der Straße an, sagt der Pressesprecher einer Krankenkasse. „Das sind meine fünften Spiele. Es ist ein schönes Gefühl, als altes Eisen gegen die Jüngeren was zu reißen.“ Wollmert lebt seit frühester Kindheit mit versteiften Arm- und Fußgelenken. Seinen Erfolg will er bis zur letzten Minute genießen. „Es ist fantastisch so im Mittelpunkt zu stehen.“ Doch der Alltag steht vor der Tür: „Ich hab Sonntag mein erstes Meisterschaftsspiel mit dem TTC Wuppertal.“
Claudia Biene: Im vergangenen Jahr warf die Berlinerin noch mit 32 Meter Speerwurf-Weltrekord. In Peking war sie weit davon entfernt, doch dass sie es überhaupt bis nach China geschafft hat, grenzt an ein Wunder. Wenige Monate vor den Spielen musste sie sich den Blinddarm entfernen lassen – und das, wo doch Bauch- und Brustmuskeln gerade für ihre Disziplinen Speer, Diskus, aber auch Weitsprung und 100 Meter entscheidend sind. Als es ihr besser ging, nahm sie in wenigen Wochen wegen Parasiten zehn Kilo ab. „Und jetzt, beim Speerwurf, hatte ich noch einen Krampf im kleinen Finger, der mich stark behindert hat“, sagt sie.
Claudia Biene litt als Kind an Knochenkrebs. „Mein Bein war steif, ich konnte es nicht mehr bewegen, und war glücklich, als das Ding endlich abkam.“ Der Unterschenkel mit Fußgelenk war nicht befallen, er wurde am Beckenknochen in verkehrter Richtung angebracht. Das Fußgelenk wurde zum Kniegelenk, und ermöglicht Claudia mit der Prothese zusammen das Leben als Leistungssportlerin.
Kirsten Bruhn: Die Medaillenfavoritin im Schwimmen hat die Hoffnungen erfüllt. Fünf Medaillen kann sie sich gleichzeitig umhängen: Bronze über 50 Meter, 100 Meter und 400 Meter Freistil, Silber über 100 Meter Rücken und Gold über 100 Meter Brust. Dreimal stellte sie dabei neue Rekorde auf. Die 38-Jährige ist seit einem Motorradunfall vor 17 Jahren querschnittgelähmt, der Schwimmsport verhalf ihr aus dem seelischen Tief heraus. Heute lädt eine Versicherung sie als Coach zu Themen wie Selbstmotivation ein. Um die Leistungen bei den Paralympics zu erbringen, hat die Sozialversicherungsfachangestellte jahrelang vor und nach der Arbeit trainiert.
Das restliche deutsche Schwimmteam hat die Erwartungen in Peking dagegen nicht ganz erfüllt. „Das ist kein Wunder“, sagt die blonde Frau mit dem Tattoo auf dem Rücken. „Medaillen haben Teams aus den Ländern geholt, in denen Behindertensport professionell betrieben wird, in denen Athleten generell gemeinsam in olympischen Leistungszentren miteinander trainieren“, Behinderte wie Nichtbehinderte. So wie das etwa in Großbritannien, in Australien, in den USA, in Kanada der Fall ist. Künftig müssten noch mehr Sportler zur Vorbereitung auf die Paralympics freigestellt und finanziell unterstützt werden, „sonst wird Deutschland nicht konkurrenzfähig sein“.
Annette Kögel und Benedikt Voigt, Peking im Tagesspiegel, vom Mittwoch dem 17.September 2008
Sport mit Leistung – Annette Kögel zieht eine Bilanz der Paralympics in Peking
Nur einmal war es wie in den alten Zeiten der Paralympics. Da prasselte Regen ins Pekinger Nationalstadion, die Zuschauer flüchteten und es war plötzlich fast so leer wie bei den Spielen in Athen vor vier Jahren. Ansonsten aber boten die Paralympics in Peking ein anderes Bild: Freie Sitze waren die Ausnahme. Es sollten nach dem Willen der Staatsführung die besten Weltspiele der Menschen mit Behinderungen werden. Und man kann sagen: China hat das Ziel erreicht. Noch nie hatten die Paralympics, vor wenigen Jahren noch ein Randereignis, eine so große gesellschaftliche und politische Bedeutung. Das Regime präsentierte eine Propagandashow mit Goldmedaillengüte. Doch die Spiele waren mehr als nur inszenierte Eigenwerbung.
Die Paralympics haben die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen verändert – und den Sport. Noch nie wurden für Zuschauer gewöhnungsbedürftige Sportarten wie Boccia von schwerstbehinderten Spastikern stundenlang live im Fernsehen übertragen, mit Behinderten als Ko-Kommentatoren. Noch nie haben so viele olympiareife Athleten aus so vielen Nationen wie Oscar Pistorius und Natalie du Toit derart viele Bestleistungen erzielt. Am Rand der Veranstaltung wurde darüber diskutiert, ob die Medien nicht noch mehr Medaillen- und Spielberichterstattung machen müssten wie bei Olympia, statt vornehmlich Sportler und ihr Schicksal in den Focus zu nehmen.
Die Paralympics sind dabei, ihren Platz im Leistungssport zu finden. Das zeigen die 1000 Dopingkontrollen von Peking – ein Rekord. Das zeigt auch der Medaillenspiegel. Länder, die massiv in den Behindertensport investieren und in denen Athleten mit und ohne Handicap gleichberechtigt gefördert werden, sind am erfolgreichsten: China, Großbritannien, die USA. Im deutschen Verband dagegen besteht noch Professionalisierungsbedarf.
Natürlich gab es auch Pannen und Peinlichkeiten. Siegerehrungen wurden nach seltsamen Protesten wiederholt, die Einordnung in verschiedene Schadensklassen bleibt undurchsichtig. Die Begeisterung bleibt dennoch haften. Beim Rollstuhltennis feierten die Chinesen mit La Ola – ohne Anweisung, ganz spontan.
Annette Kögel im Tagesspiegel, Mittwoch, dem 17. September 2008