Die Schüler sehen wohl, dass manche ihrer Gegner und Gegnerinnen über 12 und mehr Trainingseinheiten in der Woche verfügen, während sie selbst an ihren Schulen gerade einmal auf drei Trainingseinheiten kommen.
Olympischer Sport – Beobachtungen zu „Jugend trainiert für Olympia – Von Prof. Helmut Digel
Sprechen Politiker und Funktionäre von den olympischen Werten oder von der pädagogischen Bedeutung des Olympismus, und wird die besondere kulturelle Qualität der Olympischen Spiele hervorgehoben, so bezieht man sich zumeist auf jene Erkenntnisse, die Pierre de Coubertin über Wettkämpfe in den olympischen Sportarten zu realisieren beabsichtigte.
Freude an der sportlichen Leistung, Anstrengungsbereitschaft, Mannschaftsgeist, die Suche nach dem oder der Besten, Verständigung und Kommunikation und nicht zuletzt die Realisierung des Fairplay-Prinzips waren für ihn bedeutsame Merkmale gelungener sportlicher Wettkämpfe.
Bei den Olympischen Spielen der Neuzeit sind viele dieser Werte längst in den Hintergrund getreten, wurden von anderen überlagert und das Prinzip „Geld für gute Leistung" dominiert nahezu den gesamten Olympischen Sport. Negative Folgeerscheinungen sind unübersehbar. Sie reichen von der Korruption über die Bestechung und die Manipulation bis hin zum globalen Dopingbetrug in nahezu allen olympischen Sportarten. Das Prinzip des Fairplay hat dabei erheblichen Schaden genommen.
Vor wenigen Tagen haben in Berlin großartige Wettkämpfe stattgefunden. Die olympischen Sportarten Badminton, Basketball, Gerätturnen, Handball, Tischtennis, Volleyball standen dabei im Mittelpunkt und die besten Schulmannschaften ganz Deutschlands, die sich in einem Wettbewerb durchgesetzt haben, an dem mehr als 800.000 Schüler teilnehmen suchten ihre Sieger. Das ganze fand fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Berliner Turn- und Sporthallen statt.
Manche waren liebevoll dekoriert, andere spiegelten eher die Misere der deutschen Schulsportstätten wieder. Die Partnerunternehmen aus der deutschen Wirtschaft, die mit teilweise äußerst selbstlosen Hilfen den olympischen Wettbewerb der Jugendlichen möglich machen, mussten sich mit einer außergewöhnlichen kommunikativen Bescheidenheit begnügen und die selbstlosen ehrenamtlichen Helfer und Kampfrichter konnten nicht einmal mit einer besonderen politischen Anerkennung rechnen. Dennoch wurde bei diesem Bundesfinale der deutschen Schulen ein Wettkampf- und Leistungssport geboten, der sich zu Recht mit dem Attribut „olympisch" schmücken kann.
Das Basketballturnier der besten Schulen Deutschlands führte Mannschaften zusammen, die die Schönheit dieses Spiels eindrucksvoll zu demonstrieren wussten. Coole Jungs und attraktive Mädchen zeigten die taktischen Finessen, die dieses Spiel auszeichnen können und jedes Spiel war dabei ein Beispiel für gelebte Integration in Deutschland. Oft konnten sieben von zehn Spielern auf einen Migrationshintergrund verweisen und das Zusammenspiel verschiedener ethnischer Gruppen scheint im Basketball auf nahezu problemlose Weise zu gelingen. Es wäre zu wünschen, dass mancher Minister für Integration sich diesen Anschauungsunterricht zu eigen macht.
Gewiss wurde dabei das Turnier von jenen Gymnasien dominiert, in deren Heimatstädten Bundesligateams zu Hause sind. Doch keine der beteiligten Mannschaften hat dies als ungerecht empfunden. Im Gegenteil: In jedem Spiel stellten sich die renommierten Mannschaften als eine besondere Herausforderung für den weniger oder gar nicht bekannten Gegner dar. Die Spiele wurden von jungen Schiedsrichtern geleitet, was durchgängig auch bei den übrigen Mannschaftssportarten, so zum Beispiel beim Handball- und beim Volleyballturnier der Fall war.
Das Handballturnier fand in der Lilli-Henoch-Sporthalle am Winterfeldtplatz statt. In dieser Halle konnten die Handballspieler nicht nur zeigen, dass sie sich auf dem Weg zu einem Stammplatz in einer Bundesliga Mannschaft befinden. Sie konnten sich auch an eine Athletin erinnern, die durch herausragende Leistungen bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Deutschen Meisterschaften höchste Erfolge errungen hat. Lilli Henoch dominierte in den 20-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Kugelstoß-, Diskus- und Weitsprungwettbewerbe. Sie war auch Mitglied der 4×100 Meter-Staffel, spielte Handball und Hockey. Sie wurde 1899 geboren und sie gehörte zu jenen herausragenden jüdischen Spitzensportlerinnen, die in der Weimarer Republik den internationalen Hochleistungssport mit ihren herausragenden Leistungen bereicherte. Von den Nationalsozialisten wurde sie verfolgt, verschleppt und 1942 in Riga ermordet. Die Erinnerungstafel im Foyer der Lilli-Henoch-Sporthalle bot den Handballspielerinnen und Handballspielern eine nachdenkliche Lektüre.
Die Handballspiele selbst demonstrierten auf eindrucksvolle Weise, dass ein anspruchsvoller Handballsport immer auch ein Denksport ist. Nahezu jede Mannschaft zeigte Spielzüge, wie man sie nur noch ganz selten bei den Bundesligaspielen der Erwachsenen sehen kann. Gut vorbereitet durch Trainer, die meist auch in Bundesligamannschaften zuhause sind, taktisch bestens eingestellt, versuchte jede Mannschaft ihren Gegner zu überlisten. Einzelne Talente, die bereits in der Jugendnationalmannschaft spielen, konnten einmal mehr auf ihre Zukunftsperspektiven im internationalen Handball aufmerksam machen.
Bei allen Wettbewerben bei „Jugend trainiert für Olympia" steht der Mannschaftsgedanke im Mittelpunkt. Eindrucksvoll wird dies im Badminton gezeigt. In der jüngeren Wettkampfklasse konnte man Mädchen und Buben beobachten, die sich bis zur Erschöpfung für ihre Mannschaft einsetzten, das Beste gaben, am Ende dennoch eine knappe Niederlage einsteckten, dem verdienten Sieger gratulierten, bereits aber wieder hofften, dass sie im nächsten Wettkampf eine bessere Chance haben. Die Wettkämpfe im Badminton finden dabei ohne Schiedsrichter statt. Die Spieler haben ihr Spiel selbst zu regeln. Gibt es Missverständnisse oder Zweifel, ist ein Ball zu wiederholen. Bei vermehrten Zweifeln haben die Spieler sich dennoch zu einigen. Das Fairplay-Prinzip wird auf diese Weise Spiel für Spiel auf den Prüfstand gestellt und gleichzeitig praktisch erprobt.
Für mich als Besucher am eindrucksvollsten waren die turnerischen Wettkämpfe. Besonders reich an schönen Bildern ist dabei der Wettkampf für die jüngeren Mädchen- und Jungenmannschaften. Gemischte Mannschaften sind dabei erwünscht und je nach Überzahl des Geschlechts kann eine Mannschaft als Mädchen- oder Jungenmannschaft zählen. Prinzipiell besteht eine Mannschaft aus fünf Schülerinnen und Schülern. Die Schüler haben eine Gerätebahn, einen Standweitsprung und Stangenklettern oder Seilklettern zu meistern. Hinzu kommt noch ein Staffellauf.
Jedes Mannschaftsmitglied muss mindestens an einer Gerätebahn und an einer der sogenannten Sonderprüfungen, das heißt am Standweitsprung, am Stangen-klettern oder am Staffellauf teilnehmen. Die Gerätebahn zeichnet sich durch interessante Übungen aus, so beginnt sie mit Schattenrollen. Ihr folgen Schattenhockwenden und eine paarweise Synchronübung am Boden mit hinzukommen Übungen am Reck, Schwebebalken, Barren und Bock. Die Jungs haben dabei ebenso über den Schwebebalken zu turnen wie der Barren auch für Mädchen Pflicht ist. Der ganze Wettkampf wird von 16-20 Kampfrichtern gesteuert und geregelt und die Jungs und Mädchen sind mit Begeisterung bei der Sache.
Auch bei diesen Wettkämpfen dominieren jene Bundesländer, in denen leistungsstarke Elite-schulen des Sports zuhause sind. Manche Schulmannschaft, aus einer Realschule oder einem Gymnasium in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen kommend, muss dabei zur Kenntnis nehmen, dass einige Schulen aus den neuen Ländern ihnen in jeder Hinsicht überlegen sind. Spricht man mit den Schülern darüber, sind sie weder empört, noch stellen sie die Wettkämpfe in Frage. Sie betrachten vielmehr das Finale von Berlin als ihre besondere Herausforderung.
Das Herausragende war für die meisten, dass sie Landessieger geworden sind und allein die Tatsache, dass sie die Fahrt nach Berlin haben antreten dürfen, sehen sie als eine großartige Anerkennung für ihre sportliche Leistung. Sie setzen sich selbst realistische Ziele. Den sechsten oder den siebten Platz möchte man erreichen, mehr Punkte erzielen als im Vorjahr erzielt wurden, in bestimmten Übungen besonders gut abschneiden, das sind die anspruchsvollen Vorgaben, die man sich gemeinsam mit den Lehrern gegeben hat.
Die Schüler sehen wohl, dass manche ihrer Gegner und Gegnerinnen über 12 und mehr Trainingseinheiten in der Woche verfügen, während sie selbst an ihren Schulen gerade einmal auf drei Trainingseinheiten kommen. Ihre Motivation zur sportlichen Leistung wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt. Realistisch setzen sie sich eigene Ziele und die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Schulkarrieren sind ihnen durchaus bewusst.
Das Bundesfinale in Berlin ist jedoch für alle, ganz gleich aus welcher Schule und aus welchem Bundesland sie kommen, ein biografisches Ereignis, dessen Wert sie bereits heute zu schätzen wissen. In ihrer Erinnerung wird der Wert dieses Ereignis sich jährlich steigern. Dies ist der schönste Steigerungsimperativ den der Sport zu bieten hat. Würden die Massenmedien, die Direktoren der Schulen, die Kultusminister die olympische Fachverbände mit ihren Präsidien und auch die Zuschauer die Finalwettkämpfe von „Jugend trainiert für Olympia" durch ihre Anwesenheit begleiten, so könnte dieser besondere Wert sogar noch gesteigert werden.
Prof. Helmut Digel in der DOSB Presse