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18
08
2008

Er kannte Olympia bisher nur aus dem Fernsehen als entfernte Traumlandschaft des Sports. Jetzt, da er mittendrin stand, überwältigte sie ihn.

Olympische Spiele – Die Wirklichkeit im Traumland – Die deutschen Leichtathleten staunen über die Konkurrenz und werden versuchen müssen, mit Anstand aus der wilden Olympia-Show herauszukommen. Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

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Carsten Schlangen blickte die mächtigen Tribünen empor. Er schaute über die vollen Ränge hinauf zu der olympischen Flamme, die aus einer riesigen Fackel über dem Stadionrand loderte. Er ließ die Atmosphäre auf sich wirken, die voll war mit Musik und Lärm, und er merkte, wie sein Herz höher schlug, wie ihn verwirrende Gedanken anflogen. Ich, Carsten Schlangen aus Berlin, Architektur-Student und 1500-Meter-Läufer, bin Teil dieser gewaltigen Inszenierung?

Er kannte Olympia bisher nur aus dem Fernsehen als entfernte Traumlandschaft des Sports. Jetzt, da er mittendrin stand, überwältigte sie ihn. Aber dann kam sein Vorlauf, und die Wirklichkeit holte ihn ein. Das Tempo war hoch, er rettete sich knapp in die nächste Runde mit einer guten Zeit von 3:36,34 Minuten. Wenig später hing er erschöpft über einem Geländer in der Interviewzone und berichtete von den Härten in der strahlenden Spiele-Arena. Er sagte: "Ich habe gleich gesehen, dass es abgeht in dem Rennen."

Wie eine prachtvolle, bunte Bühne liegen Feld und Bahn im Pekinger Vogelnest vor dem Publikum. Alles ist groß, alles ist schillernd, alles ist aufgeladen mit künstlicher Bedeutung. Aber die Wirklichkeit ist natürlich auch noch da, trotz allem Tand, und die sieht ein hartes Stück Arbeit vor für die deutschen Leichtathleten im Kampf um Erfolg und Aufmerksamkeit daheim. Schillernd ist zunächst einmal gar nichts an ihnen, es gibt nur ein paar aussichtsreiche Teilnehmer in der Mannschaft, und ansonsten die Hoffnung, dass die Zuschauer im eigenen Land Verständnis aufbringen, wenn es Niederlagen gibt im rettungslos beschleunigten Olympia-Wettbewerb.

Schon der erste Tag im Vogelnest hat die deutschen Perspektiven zurechtgerückt. Diese internationale Leistungsgesellschaft verzeiht keine Schwächen. Um etwas zu gewinnen, reicht es für deutsche Athleten nicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut zu sein wie die Potsdamer 3000-Meter-Hindernisläuferin Antje Möldner, 24, die ein beherztes Rennen zeigte, in 9:29,86 Minuten einen deutschen Rekord aufstellte und dennoch im Vorlauf ausschied; unter anderem gegen die russische Weltrekordlerin Gulnara Galkina-Samitowa, in deren Verband es zuletzt eine spektakuläre Affäre mit fünf wegen Manipulation suspendierten Olympia-Nominierten gab.

Oder wie Sabrina Mockenhaupt, die das beste 10.000-Meter-Rennen ihrer bisherigen Karriere zeigte, in 31:14,21 Minuten Bestzeit lief und sagte: "Es war alles richtig, was ich gemacht habe." Ihr Rang? 13. Weit hinter den Siegerinnen Tirunesh Dibaba (Äthiopien/29:54,66), Elvan Abeylegesse (Türkei/29:56,34) und Shalane Flanagan (USA/30:22,22), die bei milder Sommerabendwärme alle ihre jeweiligen Kontinentalrekorde verbesserten.

Überraschung beim Kugelstoßen

Es gab gleich erste deutsche Enttäuschungen. Kugelstoßer Peter Sack, Bestleistung 21,19 Meter, schaffte es am Freitagmorgen nicht, binnen drei Stößen die Qualifikationsweite von 20,40 Metern zu übertreffen. Am Ende fehlten ihm auf seinem 13. Rang mit 20,01 Metern zwei Zentimeter für einen der zwölf Finalplätze. Und 100-Meter Sprinter Tobias Unger lief auch nicht im Bereich seiner Bestleitung (10,16). Mit 10,46 Sekunden überstand er um ein paar Tausendstel die erste Runde, im Viertelfinale war er dann chancenlos mit braven 10,36.

Da brauchte man keine Verschwörungstheorien zu bemühen, beide wussten, dass sie sich besser hätten präsentieren können. Und dennoch beschlich sie eine kleine Resignation, die nicht von Ungefähr kommen konnte. "Es wäre halt traurig, wenn sie jetzt einen erwischen", sagte Peter Sack. Ein solcher Dopingfall würde ihn nämlich nachträglich doch auf den ersehnten Finalplatz bringen. Ob er glaube, dass jemand erwischt werde? "Ich hoffe es inständig." Mehr sagte Peter Sack nicht, aber das reichte schon, um zu ahnen, dass sein Szenewissen einen konkreten Verdacht ergeben hat. Stunden später brach polnischer Jubel um einen bärtigen Hünen los: Tomasz Majewski wurde überraschend Olympiasieger im Kugelstoßen mit 21,51 Metern.

Tobias Unger betrachtete aus der Distanz, wie die Sprintfavoriten sich gaben. Der amerikanische Dreifachweltmeister Tyson Gay wirkte nach überstandener Verletzung nicht ganz so spritzig wie sonst. Der WM-Dritte Asafa Powell, Bestzeit 9,74, steuerte ohne viel Theater ins Halbfinale, und Weltrekordler Usain Bolt rannte im Viertelfinale 9,92 Sekunden, obwohl er auf den letzten Metern fast stehen geblieben war. Feixend marschierten Bolt und Powell danach durch die Interviewzone. Sie fühlen sich sehr sicher vor dem großen Finale diesen Samstag. Tobias Unger lächelte ohnmächtig. "Dazu sage ich nichts mehr", sagte er.

Überraschung im Siebenkampf

Und selbst Carsten Schlangen, dessen erster olympischer Wettkampftag als Erfolg endete, wunderte sich. Er hatte Rashid Ramzi aus Bahrain in seinem Vorlauf gehabt, den Doppelweltmeister von Helsinki 2005. Ramzi ist diese Saison nicht zu sehen gewesen, in der Weltjahresbestenliste ist von ihm keine Spitzenleistung vermerkt. Jetzt preschte er voraus, ohne lange zu taktieren. 3:32,89 Minuten. "Naja okay", brummte Carsten Schlangen, "schon beeindruckend."

Sie werden den Blick von den Gegnern und der imposanten Kulisse abwenden müssen und versuchen, mit Anstand aus dieser wilden Show herauszukommen. Auch wenn es schwer fällt, wie den Siebenkämpferinnen, denen ebenfalls eine Niederlage mit Nebengedanken droht. Jennifer Oeser liegt auf Platz zwölf nach vier Disziplinen, die EM-Zweite Lilli Schwarzkopf auf 14, Sonja Kesselschläger auf 17. Es führt mit 4060 Punkten die Amerikanerin Hyleas Fountain, 27, eine unscheinbare WM-Abbrecherin von 2007. Sie erlebt eine Saison voller Bestleistungen, am Freitag stellte sie gleich drei auf.

Sie war ziemlich abgebrüht für eine Olympia-Novizin

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 16. August 2008

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