Was Liu Xiang selbst denkt über sein Leben im Goldfischglas, weiß keiner so genau. Sein Manager ist Amerikaner, aber wenn man Mark Wetmore fragt, ob diese Zusammenarbeit ein Symbol sei für die neue Offenheit Chinas, sagt er nur: „Schön wär’s.“
Olympische Spiele – Der große Springer – Der Hürdensprinter Liu Xiang gilt über alle Debatten hinweg als Hauptfigur der chinesisch-olympischen Traumfabrik. Seine Aufgabe ist es, perfekt zu funktionieren. Thomas Hahn in der Süddeutschen zEITUNG
Dieses Versprechen, das er seinem Trainer Sun Haiping gegeben hat, steht zwischen Liu Xiang und der Welt da draußen wie eine Mauer. Es ist eine hohe Mauer, über die er nicht einmal hinwegsehen kann, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellt, und es heißt, dass er dahinter oft einsam ist. Sun Haiping hat selbst gesagt, dass Liu Xiang ihm manchmal leid tut, wenn er ihn im Wohnheim seiner Shanghaier Sportschule allein vor dem Computer sitzen und gedankenverloren im Internet surfen sieht.
Liu Xiang ist 25, er hat den Schalk im Nacken und er könnte wohl einiges anfangen da draußen mit seinem Charme. Aber es steht sein Versprechen, rechtschaffen zu sein und schnell über zehn Hürden auf 110 Metern, und keine Liebe zu haben neben der zu seiner Aufgabe für China: Olympiasieger zu werden bei den Spielen in Peking, in einer Disziplin, die über hundert Jahre Amerikaner und Europäer beherrschten.
Wer ist Liu Xiang? Ein Bild? Ein Milliardengeschäft? Ein Mensch? Vor vier Jahren kauerte er im Olympiastadion von Athen in den Startblöcken als begabter, mäßig prominenter Schlaks, schlug nervös die Fäuste vors unverbrauchte Jungengesicht und stürmte los.
Am Ende der Strecke war er Chinas erster Olympiasieger in einer Sprintdisziplin, rannte mit wehendem Haar und ausgebreiteten Armen über die Bahn und zeigte der Welt eine Seite des chinesischen Sports, die nichts mehr mit der westlichen Vorstellung von kühler Askese und geplantem Gold zu tun hatte, sondern verwegenes Tempo spiegelte, Überraschung und Sensation.
Liu Xiang als Botschafter des Aufbruchs
China begrüßte einen neuen Helden, den weltweit sichtbaren Botschafter eines Aufbruchs, und auch in der Geschäftswelt werden einige Herren damals innerlich Luftsprünge gemacht haben. Denn dieser Junge war auch ihre Chance. Der Schlüssel zur Begeisterung eines Milliardenvolks, die sich von ihm übertragen würde auf die Produkte, für die er wirbt, auf den Sport, den er treibt, auf die Spiele, an denen er teilnimmt.
Tausend Mal ist seither berichtet worden, dass Liu Xiang das Gesicht dieser Spiele ist und einem Druck ausgesetzt ist, der alles übersteigt, was ein Sportler bisher an Erwartungen aushalten musste. Es waren einfache Geschichten einer Hysterie, die das Publikum auf der ganzen Welt verstand und die die olympische China-Werbung ideal ergänzten. Den westlichen Medien wurde China vertraut, weil die Leute dort genauso auf einen Siegertypen reagierten wie die Leute in ihren Ländern.
Und die Chinesen fanden in Liu einen weiteren Grund, stolz auf China zu sein, weil er anders gesiegt hatte als die souveränen Nationalturner, Tischtennis- und Badmintonspieler – in einer Disziplin, in der China immer chancenlos war. Bevor Tibet-Krise und Kritik an Chinas autoritärer Regierung westliche und chinesische Welt wieder trennten, einte beide die Faszination, die von diesem dominanten Exoten ausging.
So ist der olympische Sport: Über alle Brüche dieser Welt legt er seine bunte Decke. Und Liu Xiang war ihm eine große Hilfe dabei, von der politischen Dimension der Pekinger Spiele abzulenken. Er lächelte, gab Pressekonferenzen, stellte einen Weltrekord auf (12,88 Sekunden in Lausanne 2006), wurde Weltmeister, sagte artige Sätze. Er war edel und schnell. Immer ein Thema, immer interessant, immer harmlos. Er funktionierte perfekt.
Was Liu Xiang selbst denkt über sein Leben im Goldfischglas, weiß keiner so genau. Sein Manager ist Amerikaner, aber wenn man Mark Wetmore fragt, ob diese Zusammenarbeit ein Symbol sei für die neue Offenheit Chinas, sagt er nur: „Schön wär’s.“ Seit zwölf Jahren organisiert Wetmore im Auftrag des chinesischen Leichtathletik-Verbandes die Auslandsstarts der Nationalsportler, und der Verband lässt sich nicht hereinreden. „Ich habe wenig direkten Einfluss auf die Athleten“, sagt Wetmore.
Es ist, als gebe es zwei Liu Xiangs. Die strahlende Medienfigur Liu Xiang, die an manchen Tagen ganze Straßenzüge füllt mit ihren Werbeplakaten und jährlich zehn Millionen Euro brutto verdient, von denen die Hälfte an Trainer, Leichtathletik-Verband und Shanghais Sportbehörde gehen. Und den demütigen Plansportvertreter Liu Xiang, der eine klassische Karriere im harten, dopingverdächtigen chinesischen Sportsystem durchlaufen hat.
In der Jugend gesichtet. Zunächst Hochspringer. In den übrigen Schulfächern eher durchschnittlich. Mit 15 von Sun Haiping entdeckt, der allerdings die Eltern, einen Fahrer und eine Kellnerin, erst davon überzeugen musste, dass die Hürdensprint-Fähigkeiten ihres einzigen Sohnes weiterhin im Internat gefördert gehörten; ihr Xiang war dort oft von Mitschülern verprügelt worden, Sun versprach, auf ihn aufzupassen.
Die Sportschule als Oase
Liu Xiang lebt immer noch in seiner Shanghaier Sportschule. Er bewohnt ein Zweibett-Zimmer mit dem Sportschüler Liang Chen. Er geht nicht aus, weil er nicht unerkannt durch Chinas Straßen gehen kann. Er hat keine Freundin, weil er seinem Trainer versprochen hat, enthaltsam zu sein. Dieses Jahr hatte er nicht einmal viele Auslandsreisen, weil die Olympiavorbereitung wichtiger war.
Teams aus Biomechanikern, Ärzten, Ernährungsberatern und PR-Experten umsorgen ihn. „Die Sportschule ist seine Oase“, sagt die Shanghaier Leichtathletik-Vermarkterin Xiaofei Liu. Aber diese Oase ist doch ein bisschen klein für einen 25-jährigen Multimillionär. Ladji Doucouré, Liu Xiangs französischer Kollege, der Weltmeister von 2005, der seine Freiheit liebt und daran vielleicht auch das ein oder andere Zehntel verloren hat, hat mal gesagt: „Wir haben nicht dasselbe Leben. Er macht nichts anderes als Hürdenlauf. Er hat den ganzen Druck eines Landes. Er ist nicht immer glücklich.“
Um das persönliche Glück Liu Xiangs geht es in dieser Geschichte längst nicht mehr. Gesund muss er eben bleiben. Als Anfang des Jahres der NBA-Basketballer Yao Ming, die zweite Überfigur des chinesischen Sports, wegen eines Ermüdungsbruchs Olympia zu verpassen drohte, gaben Sun Haiping und Cheftrainer Feng Shuyong sofort eine Pressekonferenz, um der besorgten Masse mitzuteilen, dass Lius kostbarer Körper sorgsam gepflegt werde. Es hängt so viel an ihm.
Allein die IAAF, Weltverband des dopingzerfressenen, alten olympischen Kernsports Leichtathletik, braucht ihn. Wegen seiner vielen asiatischen Sponsoren, wegen des Marktes China. Und eine Umfrage unter Chinesen ergab kürzlich, dass ihnen kein Gold bei den Spielen so wichtig sei wie das im Hürdensprint.
Distanz zu Geld und nationalem Pathos
Liu Xiang selbst sagt: „In meinen Augen ist ein Wettkampf nur ein sehr kleiner Teil meines Lebens.“ Und wenn man ihn bei Pressekonferenzen beobachtet, wie er dahergeschlurft kommt in Schlabberpullover und Jeans, unbeeindruckt von allen Blicken, die Hände in den Hosentaschen vergraben, wie er auf dem Podium gähnt und dann doch aufmerksam antwortet – wenn man das alles also beobachtet, hat man tatsächlich den Eindruck, dass er sich in seiner Oase eine gesunde Distanz bewahrt hat zu dem ganzen Wahnsinn mit dem Geld und dem nationalen Pathos. Auch seine Nervenstärke spricht dafür. Wenn es wichtig war, hat Liu Xiang meistens gewonnen.
Sein Gegenspieler in Peking ist Dayron Robles, ein lässiger 21-Jähriger aus Guantanamo, der schweren Goldschmuck trägt, im Juni Liu Xiangs Weltrekord auf 12,87 Sekunden verbessert hat und noch munter von Wettkampf zu Wettkampf zog, als Liu Xiang sich längst ins zentrale Pekinger Trainingslager des Verbandes begeben hatte. Kuba gegen China, was für ein Wettstreit.
Zwei kommunistische Denkschulen gegeneinander – wieder eine neue Dimension des Pekinger Rennens. Aber über Politik redet Liu Xiang nicht. Seine Botschaft? „Ich will mit der Geschichte aufräumen, dass Menschen mit gelber Haut nicht schnell rennen können. Es geht für mich darum, alte Vorurteile aufzubrechen.“ Außerdem gibt es auch ein paar profane Probleme: Liu Xiang ist dieses Jahr noch nicht unter 13 Sekunden gelaufen, vor wenigen Wochen meldete Sun Haiping, dass leichte Schmerzen sein Training störten, und Robles rannte wie der Wind.
Sein Team versucht, die Fans zu beruhigen. Hat Robles nicht oft Nerven gezeigt? „Immerhin ist er jünger als ich“, sagt Liu Xiang. Andererseits sollen China, die Industrie, die ganze Welt ruhig sehen, dass er nicht unverwundbar ist. Das lindert den Druck ein bisschen. Es ist nicht leicht für Liu Xiang vor diesen Spielen. Er hat sich ihnen hingegeben. Aber ein Mensch kann nicht alles halten, was sein Bild verspricht.
Thomas Hahn in der Süddeutschen zeitung, Mittwoch, dem 6. August 2008