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30
03
2008

Besorgt blickten das Internationale Olympische Komitee (IOC), die Sportorganisationen in den USA und die Länder des demokratischen Westens auf die Zustände im Reich, denn auch der jüdische Sport litt unter den Schikanen.

Olympische Spiele 1936- Nicht dabei sein ist alles – Olympia-Boykott – das ist eine ältere Idee, als man glaubt. 1936 hätten die USA den Nazis beinahe das Propaganda-Fest verpatzt. Einige schwarze Sportler fühlten sich hin- und hergerissen. Doch Hitler reagierte schnell. Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Acht Tage pflügte die SS Manhattan schon durch den Atlantik, und noch immer war Cherbourg nicht in Sicht. Die Menschen an Bord, unter ihnen 382 Mitglieder der amerikanischen Olympiamannschaft für die Spiele 1936 in Berlin, sehnten Abwechslung herbei. Auch der Passagier Brundage, Avery Brundage, Präsident des US-Olympiakomitees AOC, hielt Ausschau nach einer neuen Perspektive.Die eröffnete sich ihm kurz vor dem finalen Ankerwurf der Manhattan: in Person der attraktiven Schwimmerin Eleanor Holm.

Mrs Holm, verheiratete Jarrett, war Star und Glamourgirl der Mannschaft und auch sonst nicht ohne. Vor vier Jahren bei den Spielen in Los Angeles hatte sie den Nachweis erbracht, Olympias Beste in der Rückenlage zu sein. Auf ihren dritten Olympiastart bereitete sich Eleanor auf dem Firstclass-Deck der Manhattan vor – bei nächtlichen Champagnerpartys mit Sportjournalisten. Sie überzog den Zapfenstreich des Teams und kam morgens nicht aus dem Bett.

Die Teamleitung verwarnte das Supergirl, der Moralapostel des US-Sports indes empfand diese Strafe als zu milde. Bekannt dafür, bei Verstößen gegen den Kodex der Unbescholtenheit von Amateursportlern ein harter Hund zu sein (1932 hatte er wesentlich zur Disqualifikation des großen finnischen Läufers Nurmi beigetragen), verbannte Avery Brundage Holm aus der Mannschaft.

Kaum auf deutschem Boden, eskalierte der Rummel um die flotte Nixe. Die Nazibonzen rissen sich um sie. Hitler und Göring luden sie zu ihren Empfängen ein. Fasziniert von der hübschen Amerikanerin fummelte der dicke Göring ein silbernes Hakenkreuz von seiner protzigen Galauniform und steckte es ihr ans Kleid. In einer späteren Ehe mit dem Juden Bill Rose ließ Holm den Klunker vergolden – und mit dem Davidsstern besetzen.
USA verzichten auf Boykott

Die Pressebengels von der amerikanischen Ostküste erhoben die Holm-Affäre bis zum Beginn der Spiele zum Thema Nummer eins. Und niemand bedauerte das weniger als Avery Brundage. Endlich war es gelungen, die Medien abzulenken von einer Angelegenheit, die Brundage im Mittelpunkt sah und die drei Jahre lang Zeitungsspalten und Radiosendungen beherrschte und die Nation in zwei Lager spaltete: in der Frage nämlich, ob der US-Sport die Olympischen Spiele 1936 in Hitlers Kapitale wegen der rigiden Rassenpolitik der Nationalsozialisten gegen Juden und Schwarze boykottieren sollte.

Am Ende des Disputs verzichteten die USA auf den Boykott. Das ist Geschichte. Zuweilen wiederholt die sich bekanntlich, was gern übersehen wird, und das Fanal, das mit ihr einhergeht, wird leicht verkannt. Deshalb sollten die Ereignisse von damals noch einmal erzählt werden, jetzt, da die Chinesen, Ausrichter der Sommerspiele dieses Jahres, abermals die Menschenrechte mit Füßen treten, und deshalb erste Aufforderungen zum weltweiten Boykott der Propagandaschau des chinesischen Regimes ergehen.

Sommer- und Winterolympia 1936 wurden 1931 an die Deutschen vergeben, als die Weimarer Republik bereits bröckelte und die NSDAP an den Toren des Reichstags rüttelte. Die Olympiabegeisterung der Nazis hatte sich anfangs in Grenzen gehalten, erst nach der Machtergreifung im Januar 1933 erkannten sie den hohen internationalen Propagandawert des Sportspektakels für ihre Sache. Das "neue Deutschland" gedachten sie zu präsentieren. Dessen ungeachtet mehrten sich die Schandtaten der SA gegen die Juden in Deutschland.
Besorgt blickten das Internationale Olympische Komitee (IOC), die Sportorganisationen in den USA und die Länder des demokratischen Westens auf die Zustände im Reich, denn auch der jüdische Sport litt unter den Schikanen.

"Für Juden ist kein Platz im deutschen Sport", pöbelte Streichers Hetzblatt Der Stürmer (der Halbjude Theodor Lewald, Präsident des Deutschen Olympischen Ausschusses, der die Spiele nach Berlin geholt hatte, blieb gleichwohl an der Spitze des Organisationskomitees) und das NS-Parteiorgan Völkischer Beobachter forderte dreist: "Neger haben auf der Olympiade nichts zu suchen, die Schwarzen müssen ausgeschlossen werden. Wir erwarten das."

Als erste Boykottaufrufe und Forderungen nach Verlegung der Spiele in ein anderes Land in der obersten US-Sportbehörde AAU und zunächst auch in Brundages AOC laut wurden, reagierte Hitler. Auf der IOC-Session 1933 in Wien konnte der belgische IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour erleichtert eine vom Reichsminister des Inneren, Frick, autorisierte Erklärung verlesen, der zufolge die NS-Regierung die IOC-Regeln einzuhalten gedenke und Juden den Start im deutschen Olympiateam erlauben werde.

Beruhigt von dannen zog nur das IOC ("Die Spiele gehören den Athleten und nicht den Politikern"), vertraute es doch nun der Garantie aus Berlin. Die Amerikaner indes wurden ihre Sorgen nicht los, zumal die Nazis immer brutaler ihre Rassenpolitik durchsetzten. Im August 1934 schickte die AAU deshalb ihren ehemaligen Vorsitzenden, Olympia-Komitee-Chef Avery Brundage, auf eine Inspektionsreise nach Berlin. Sechs Tage sah er sich im Reich um, quatschte mit Gott und der Welt und jüdischen Organisationen und schipperte schließlich mit dem Vorsatz zurück in die Staaten, gleich nach der Ankunft in New York die Einladung der Deutschen zu den Spielen in Garmisch-Partenkirchen (Winter) und Berlin (Sommer) anzunehmen.

Brundage unterstützt Staffel-Startverbot

Geschickt hatten es die Nazis verstanden, den Gast aus Übersee mit allerlei Versprechungen und Zusicherungen zu blenden. Natürlich werde man 21 jüdische Sportler in die Olympia-Vorbereitungslager einladen (wozu es nie gekommen ist), und in Garmisch und Berlin würden 1936 sämtliche Straßenhinweise zum Boykott der Juden verschwunden sein (der Aufforderung kamen oberbayerische Ortsgruppenleiter erst nach, als Propagandaminister Goebbels selbst einschritt). Brundage war hinters Licht geführt worden – oder den Nazis wissentlich auf den Leim gegangen. Seine Kontrahenten steckten voller Argwohn.

Der wohlhabende Baulöwe und Hotelier aus Chicago wollte inzwischen nichts mehr wissen von Boykott oder Verlegung, war stramm auf die IOC-Linie des Wegschauens eingeschwenkt: Berlin ohne Wenn und Aber. Überraschen musste der Seitenwechsel nicht. Brundage war praktizierender Antisemit. In dem von ihm in Chicago gegründeten Sportclub hatten Juden (und Schwarze) keinen Zutritt. "Gewisse Juden müssen begreifen, dass sie die Spiele nicht als Waffe in ihrem Boykott gegen die Nazis benutzen können", ließ er wissen. Vor der Staffelentscheidung bei den Spielen in Berlin unterstützte Brundage das Startverbot für die zwei rechtmäßig für den 4×100-m-Wettbewerb qualifizierten Sprinter Sam Stoller und Marty Glickman – die beiden einzigen Juden im US-Team der Leichtathleten.

Manchen Landsleuten galt Brundage als verkappter Faschist und anfangs sogar, wie das amerikanische IOC-Mitglied Charles Sherill, als ein Bewunderer Hitlers. Mit dem Diktator soll er, wie das Simon Wiesenthal Center für Menschenrechtsangelegenheiten herausfand, Baugeschäfte gemacht haben. Ein Freund der Deutschen war er allemal. Nach dem Krieg holte er seinen Münchner Freund und Mitstreiter beim Zehnkampf der Spiele 1912, das Mitglied der SA und NSDAP sowie des "Freundeskreises Himmler", Karl Ritter von Halt, aus dem Internierungslager in Buchenwald und zurück ins IOC; nach den Spielen 1972 mit dem Attentat auf das Team Israels ("The games must go on") heiratete der Amerikaner die deutsche Prinzessin Marianne Reuss zu Köstritz, gestorben ist er 1975 in deren Wohnort Garmisch-Partenkirchen.

Mit der Annahme der Einladung zu den Olympischen Spielen war für Brundage zunächst mal nichts gewonnen in den USA. Im Gegenteil, die Diskussionen über einen Boykott nahmen 1935 an Heftigkeit ebenso zu wie der Widerstand der jüdischen Organisationen und der Amateur Athletic Union. Die AAU musste Brundage ernst nehmen, alldieweil die Union und nicht sein Olympiakomitee AOC die Mannschaften nominierte. An der AAU-Spitze stand Jeremiah Titus Mahoney, ein katholischer Demokrat aus New York irischer Abstammung. Mahoney und die Juden zogen an einem Strang. Brundage witterte eine kommunistisch-jüdische Verschwörung. Ambivalent war die Haltung der Afro-Amerikaner. Wohl wissend, dass der NS-Rassenhass sie ebenfalls hart treffen würde, erkannten die schwarzen Sportler die sozialen Aufstiegschancen durch einen Olympiasieg in Berlin.

Boykott als reine Heuchelei

Hin- und hergerissen fühlte sich der neben Boxer Joe Louis ("Der schwarze Bomber") populärste schwarze US-Sportler, Leichtathlet Jesse Owens. Im Mai 1935 hatte er innerhalb von 75 Minuten vier Weltrekorde über 100 yards, 220 yards, 220 yards Hürden und im Weitsprung erzielt. Er träumte von Gold in Berlin. Um der Gerechtigkeit willen war er jedoch bereit, diesen Traum platzen zu lassen.

Im November 1935 sagte Owens in einem Radio-Interview: "Wenn in Deutschland Minderheiten diskriminiert werden, müssen wir uns von den Spielen zurückziehen." Dem widersprachen die schwarzen Intellektuellen der USA, in Anbetracht der Diskriminierung ihrer Rasse im eigenen Lande sei ein Boykott die reine Heuchelei. Owens ließ sich umstimmen und für den Olympiastart einnehmen.

Anfang Dezember 1935 sollte die entscheidende Abstimmung über Boykott oder Teilnahme unter den AAU-Mitgliedern stattfinden. In den Wochen zuvor überschlugen sich noch einmal die Ereignisse: Im August erhält IOC-Mitglied Charles Sherill eine 90-minütige Audienz bei Hitler. Der schockiert den Amerikaner, wie der Sporthistoriker Arnd Krüger in seiner detailgenauen Dissertation "Die Olympischen Spiele 1936 und die Weltmeinung" bemerkt, indem er die Wiener Erklärung von 1933 gegenüber dem IOC berichtigt: Sie habe sich nur auf die Juden allgemein bezogen und sei nicht als Verpflichtung zu sehen, sie ins deutsche Olympiateam aufzunehmen.

Im Übrigen: Wenn die USA nicht kämen, boykottiere Deutschland künftig alle internationalen Meisterschaften, wenn die Spiele verlegt würden, veranstalte der deutsche Sport rein deutsche Spiele; im September verabschieden die Nazis die Nürnberger Rassengesetze, sie erklären die deutschen Juden zu Freiwild; im November schreibt das amerikanische IOC-Mitglied deutscher Abstammung, Ernest Jahncke, Unterstaatssekretär im Innenministerium, an IOC-Präsident Baillet-Latour: "Wenn unser Komitee es gestattet, dass die Spiele in Deutschland stattfinden, dann werden sie nicht mehr die Einheit von körperlicher Kraft und Fairplay versinnbildlichen, denn nichts wird sie mehr von dem Nazi-Ideal der brutalen Kraft unterscheiden."
Jahncke gilt seitdem als "Verräter" und wird 1936 aus dem IOC ausgeschlossen. Seinen Platz nimmt ein: Mr. A. Brundage; die Nazis berufen Alibi-Juden ins Team: die in den USA lebende Halbjüdin Helene Mayer, Fechtolympiasiegerin 1932, und den Eishockeyspieler Rudi Ball.

Nazis legen Amerikaner aufs Kreuz

Die Entscheidung fällt am 6. Dezember in einem New Yorker Hotel. Vor dem Urnengang hält Boykott-Befürworter Mahoney noch mal inne und sagt: "Der moralische Gesichtspunkt ist für alle klar zu sehen." Brundage hält dagegen. Er hat sich vorher abgesichert, dass das IOC die US-Mannschaft auch ohne AAU-Genehmigung antreten ließe: "The team will go anyway." Dann wird das Stimmverhältnis bekanntgegeben: 58 1/4 zu 55 3/4 – zweikommafünf Punkte gegen Mahoney.

NS-Funktionär Ritter von Halt an die jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann, die im Juni den deutschen Rekord egalisiert hatte und zur Medaillenkandidatin aufgerückt war: "… werden Sie aufgrund der zuletzt gezeigten Leistungen wohl selbst nicht mehr mit dem Olympia-Start gerechnet haben." Mit der Datierung des Briefs legten die Nazis die Amerikaner noch einmal aufs Kreuz. Am 15. Juli hatte die SS Manhattan den Anker gelichtet und befand sich am 16. auf hoher See, von wo aus Protest gegen die Kaltstellung Bergmanns nicht möglich war. Und als am 24. Juli das Schiff in Cherbourg andockte, drehte sich alles nur noch um Eleanor Holm.

Weil Brundage, der 1952 IOC-Präsident wurde, nach dem Krieg eingestand, alle anderen nach Berlin geladenen Nationen wären wohl einem US-Boykott gefolgt, sind Fragen nach den möglichen Folgen eines solchen Ausstands selbst heute noch opportun. Es werden ja auch Erörterungen über den Sinn der tatsächlich vollzogenen drei Olympiaboykotte in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der aktuellen China-Diskussion wieder mit mehr Aufmerksamkeit bedacht. "Der Boykott hat nichts gebracht", konzedierte Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der 1980, wider besseres Wissen, aus Bündnisgründen dem Boykottaufruf von US-Präsident Carter gefolgt war, den Spielen in Moskau fernzubleiben, vorige Woche in einem Leserbrief an die SZ.

Schmidts Erkenntnis trifft zu, wie die Geschichte gelehrt hat, auf 1980, als 33 westliche Länder wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan boykottierten, 1984, als sich der Ostblock revanchierte, und 1976 mit dem Startverzicht von 28 afrikanischen Ländern, die enttäuscht waren, weil das IOC Neuseeland wegen einer Rugbytournee im Apartheid-Staat Südafrika nicht bestraft hatte. Keinesfalls jedoch trifft das auf 1936 zu.

"Ein Boykott hätte Vorteile"

Hitlers Weg in die Katastrophe wäre natürlich nicht weniger blutig gewesen, kein einziger Jude mehr wäre gerettet worden, hätten die USA und andere wichtige Länder der freien Welt ihren Start abgesagt. Der perfide Plan der Nazis, als friedliebende Gastgeber mit einer Propagandaschau des vermeintlich völkerverbindenden Sports abzulenken von ihren wahren Vorhaben, hätte indes früher entlarvt werden können. "Ein Boykott 1936", formulierte der französische Politwissenschaftler Alfred Grosser, "hätte Vorteile für den demokratischen Gedanken, für die Verteidigung der freiheitlichen Grundwerte geboten."

Grosser hatte Ende der 1980er Jahre auf Willi Daume reagiert, den Vorsitzenden des deutschen olympischen Komitees und verbitterten, weil unterlegenen Gegner des Moskau-Boykotts, als der noch einmal auf die Nutzlosigkeit des Verzichts verwiesen hatte. Weil Daumes Athleten sich den Sowjetspielen verweigern mussten, büßte der NOK-Präsident seine Chancen ein, IOC-Präsident zu werden.

Was aus Olympia in den vergangenen 30 Jahren geworden wäre mit dem Intellektuellen Daume an der IOC-Spitze anstelle des Finanzhais Samaranch, ist freilich eine ganz andere Geschichte.

 

Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Samstag/Sonntag, dem 29./30. März 2008

author: GRR

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